10.10.2023

Wolfgang Stegemann zum Gedenken (1945–2023)

Die Augustana-Hochschule trauert um Prof. Dr. Wolfgang Stegemann, der am 12. Juli 2023 nach schwerer Krankheit verstorben ist. Die neutestamentliche Forschung verliert mit ihm einen innovativen, engagierten, national wie international angesehenen Theologen.
Wolfgang Stegemann wurde am 8. November 1945 in Barkhausen (Porta Westfalica) geboren. In den Jahren 1968 bis 1973 studierte er evangelische Theologie in Heidelberg. Von 1973 bis 1977 war er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Mainz tätig. Dort lernte er Luise Schottroff und Dorothee Sölle kennen, denen er sich theologisch eng verbunden fühlte. Bis 1979 wirkte Wolfgang Stegemann als Pfarrer in der Gemeinde Nußloch bei Heidelberg. Es folgten weitere Assistenturen an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, zunächst in den Jahren 1979–1980 im Fach »Systematische Theologie« bei Lothar Steiger und dann in den Jahren 1980–1984 im Fach »Neues Testament« bei Gerd Theißen. Noch während seiner Zeit als Assistent in Mainz wurde Wolfgang Stegemann in Heidelberg mit einer systematisch-theologischen Dissertation über die Theologie und Exegese Rudolf Bultmanns promoviert. 1983 habilitierte er sich an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über die historische Situation der im lukanischen Doppelwerk repräsentierten christlichen Gemeinschaft. Sie erschien 1991 unter dem Titel »Zwischen Synagoge und Obrigkeit« in der Reihe »Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments«. 1984 erhielt Wolfgang Stegemann den Ruf auf den Lehrstuhl für Neues Testament an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 innehatte.
Bereits in seiner Dissertation, die 1978 unter dem Titel »Der Denkweg Rudolf Bultmanns« publiziert wurde, taucht am Rand ein Motiv auf, das Wolfgang Stegemanns wissenschaftliches Werk nachhaltig prägen sollte. In der komplexen Studie gelangte er u.a. zu der Einsicht, dass Rudolf Bultmann die Frage nach dem Verständnis der menschlichen Existenz zwar mit Recht in das Zentrum der theologischen Auslegung des Neuen Testaments gerückt, dabei aber die materielle Gestalt der Geschichte aus dem Blick verloren habe. Die Eruierung der von Bultmann übergangenen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Wirklichkeit der Menschen der Bibel sollte fortan zum großen Forschungsprojekt Wolfgang Stegemanns werden. Zusammen mit Luise Schottroff und Gerd Theißen wurde er so zum Begründer einer neuen Form der Bibelauslegung, der sozialgeschichtlichen Exegese. In den Jahren 1978 bis 1980 publizierte er gleich mehrere, von einer breiten Leserschaft rezipierte und in viele Sprachen übersetzte sozialgeschichtliche Studien und Sammelbände, darunter das gemeinsam mit Luise Schottroff verfasste Buch »Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen«. Die sozialhistorischen Recherchen Wolfgang Stegemanns mündeten in das gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Ekkehard Stegemann abgefasste Standardwerk »Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt«. Das 1995 erschienene Buch diskutiert unter intensiver Heranziehung sozialwissenschaftlicher Einsichten und Modelle zentrale soziale Implikationen neutestamentlicher Texte.
In den 1990er Jahren engagierte sich Wolfgang Stegemann vermehrt in der Context Group und arbeitete daran, die kulturanthropologische Exegese in Deutschland zu etablieren. 1993 übersetzte er das einschlägige Standardwerk »The New Testament World. In-sights from Cultural Anthropology« von Bruce Malina. 1999 organisierte er ein Treffen der Context Group mit sozialgeschichtlich arbeitenden Exegeten in der Akademie Tutzing, aus dem 2002 der zusammen mit Bruce Malina und Gerd Theißen herausgegebene Sammelband »Jesus in neuen Kontexten« hervorging. Die reife Frucht der langjährigen sozialgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Forschung Stegemanns ist sein 2010 publiziertes Buch »Jesus und seine Zeit«, in dem er u.a. eine reflektierte Dekonstruktion der klassischen Jesusforschung vornahm, für eine Ablösung des Religionsmodells durch das Ethnizitätsmodell plädierte, die »kollektive Identität« Jesu als Judäer herausarbeitete, die basileia theou als soziale Heterotopie beschrieb und eine aktive Beteiligung der jüdischen Führungsschicht am Prozess und Tod Jesu bestritt.
Ein wichtiger Fokus der Forschungen Wolfgang Stegemanns war schließlich auch der christlich-jüdische Dialog. Im Jahr 1994 trat er dem Herausgeberkreis der 1986 gegründeten Zeitschrift »Kirche und Israel« bei. In vielen exegetischen Beiträgen und in kirchlichen Zusammenhängen wandte er sich gegen jegliche Formen des Antisemitismus. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder setzte er sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Phänomen des »antiisraelischen Antisemitismus« auseinander.
Wolfgang Stegemann war ein bei den Studierenden hoch geschätzter und beliebter Lehrer. Mit seiner gewinnenden Art vermittelte er vielen Studierenden Freude an der exegetischen und theologischen Arbeit. Er betreute zahlreiche Dissertationen und beförderte als Mentor etliche Habilitationen. Wolfgang Stegemanns innovative Forschungen, seine breite Gelehrsamkeit und seine Streitbarkeit werden fehlen. Die Augustana-Hochschule blickt mit großer Dankbarkeit auf sein fruchtbares Wirken an der Hochschule, in der neutestamentlichen Wissenschaft und in der Kirche zurück. Sie wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Prof. Dr. Christian Strecker (Lehrstuhl für Neues Testament)