29.12.2022

Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg trauert um Professor Dr. Hans Schneider, der am 25. Dezember 2022 im Alter von 81 Jahren verstorben ist.

Hans Schneider wurde am 20. Juli 1941 in Marburg geboren und am folgenden Tag in der Elisabethkirche getauft. Er wuchs in Battenberg auf und legte 1961 in Frankenberg die Abiturprüfung ab. Von
1961 bis 1966 studierte er evangelische Theologie in Marburg, Zürich und Göttingen. Von Zürich aus
besuchte er die Sozietät Karl Barths in Basel sowie ein Ferienseminar im Ökumenischen Institut
Bossey in Genf und im Institut de théologie orthodoxe in Paris. Nach der Theologischen Abschlussprüfung an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen absolvierte er den kirchlichen Vorbereitungsdienst und legte 1968 bei der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck die Zweite Theologische Prüfung ab. Von 1968 bis 1982 war er zunächst Verwalter einer Assistentenstelle, dann Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl des Altmeisters der reformationsgeschichtlichen Forschung Bernd Moeller in Göttingen und arbeitete in dieser Zeit auch als Autor und Redakteur an der dreibändigen „Ökumenischen Kirchengeschichte“ mit, die Moeller gemeinsam mit dem katholischen Kirchenhistoriker Raymund Kottje herausgab.
1976 wurde Hans Schneider in Göttingen mit seiner Dissertation „Der Konziliarismus als Problem der
neueren katholischen Theologie. Die Geschichte der Auslegung der Konstanzer Dekrete von Febronius bis zur Gegenwart“ zum Doktor der Theologie promoviert. Gefördert durch ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, erarbeitete er eine Habilitationsschrift über „Die Anfänge der Herrnhuter in der Wetterau“ (1981), die ungedruckt blieb, deren Ergebnisse der Autor aber in mehreren Aufsätzen verarbeitet hat.
Ab dem Wintersemester 1982/83 war Hans Schneider Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte
an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, von 1985-1987 versah er dort das Amt des Rektors.
Zum Sommersemester 1988 wurde er auf die C4-Professur für Kirchengeschichte am Fachbereich
Evangelische Theologie der Universität Marburg berufen. Vom 1.10.1994 bis zum 30.9.1995 war er
Dekan des Fachbereichs. 2006 wurde er mit dem Erreichen der Altersgrenze pensioniert. Neben seiner Professur war Hans Schneider unter anderem als Fachgutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, als Mitglied der Historischen Kommission des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes und als Mitglied der Gemischten Kommission zur Reform des Theologiestudiums tätig.
Als Forscher zeichnete sich Hans Schneider durch Gründlichkeit, Beharrlichkeit, Scharfsinn und Entdeckerfreude aus. Sein Habitus war der des Detektivs. Stets bereit, etablierte Forschungsmeinungen auf den Prüfstand zu stellen, scheute er nicht die minutiöse Detailarbeit an quellenkritischen, chronologischen und diplomatischen Problemen, die ihn immer wieder zu spektakulären Entdeckungen und zur Korrektur gängiger Ansichten führte. So konnte er 2009 auf der Grundlage langjähriger Quellenstudien und Vor-Ort-Recherchen eine bahnbrechende Neudatierung der Romreise Martin Luthers vorlegen. Danach war Luther nicht etwa 1510 von Erfurt aus und im Gegensatz zu den Intentionen seines Ordensoberen Johann von Staupitz nach Rom gereist, sondern erst 1511 von Wittenberg aus und im Auftrag und Interesse von Staupitz – eine Einsicht, die als „wichtigster Beitrag zur biographischen Lutherforschung aus den letzten Jahren“ gewürdigt wurde (U. Köpf). Auch sonst bildeten Luther und der Orden der Augustinereremiten einen langjährigen Forschungsschwerpunkt Schneiders, der vom Historischen Instituts des Augustinerordens in Rom zum korrespondierenden Mitglied ernannte wurde.
Ein zweiter Forschungsschwerpunkt lag in der Pietismusforschung. Insbesondere zur Erforschung der
Herrnhuter Brüdergemeine und ihres Begründers Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf sowie des sogenannten radikalen Pietismus hat er mit unerreichter Kennerschaft wesentliche Beiträge geleistet und maßgebliche Editionen und Handbuchbeiträge vorgelegt. Mit seinen Aufsätzen zu Leben und Werk von Johann Arndt hat er das neuere Bild des Begründers des lutherischen Pietismus maßgeblich geprägt. Auch als Vorsitzender des Internationalen Beirats des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung in Halle, als Mitglied und Vorsitzender des Publikationsausschusses der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, als Fellow des Young Center for the Study of Anabaptist and Pietist Groups, Elizabethtown, Pa., und als Präsident der Johann-Arndt-Gesellschaft hat er sich vielfach um die Pietismusforschung verdient gemacht.
Daneben war und blieb die hessische Territorialkirchengeschichte und die Geschichte der Universität
Marburg ein lebenslanges Interessengebiet. Hans Schneider war Mitglied und seit 2012 stellvertretender Vorsitzender der Historischen Kommission für Hessen in Marburg und langjähriges Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung. 2004 richtete er zusammen mit Ursula Braasch-Schwersmann und Wilhelm E. Winterhager die hessische Landesausstellung zu Landgraf Philipp dem Großmütigen und Hessens Bedeutung für die Reformation aus.
Seit 2003 kämpfte Hans Schneider mit der tückischen Krebserkrankung, die seine beiden letzten Lebensjahrzehnte überschattete und der er letztlich erlegen ist. Seine vorbildliche Haltung, seine ruhige Tapferkeit, sein unerschütterliches Gottvertrauen und sein feiner Humor haben alle, die ihn kannten, tief beeindruckt. Am ersten Weihnachtstag des Jahres 2022 ist er in seinem Haus in Marburg-Cyriaxweimar in Gegenwart seiner Ehefrau Gisela friedlich eingeschlafen. Er darf nun schauen, was er geglaubt hat. Lux aeterna luceat ei.

Wolf-Friedrich Schäufele