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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

723-726

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Thomas

Titel/Untertitel:

Zur Begleitung Sterbender. Person- und systemorientierte Sterbebegleitung in pastoralpsychologischer Perspektive.

Verlag:

Baden-Baden: Tectum-Verlag (Nomos) 2023. 1092 S. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783828844155.

Rezensent:

Michael Klessmann

Sterbebegleitung: ein aktuelles und wichtiges Thema, dem sich dieses voluminöse Buch (mit über 1000 Seiten im Großformat!) widmet. Der Anspruch des Autors Thomas Schmitt (katholischer Theologe und Pastoralpsychologe) ist ausgesprochen hoch: Er schreibt zu Beginn, dass »ein umfassend systematisch erarbeiteter und wissenschaftlich fundierter Ratgeber bzw. Leitfaden zur Begleitung Sterbender […] schwerlich zu finden« sei (XIII) und dass sein Buch diese Lücke schließe. Das Buch ist ökumenisch angelegt, da gerade angesichts von Sterben und Tod konfessionelle Differenzen in den Hintergrund träten, gleichwohl sind die entscheidenden theologisch-dogmatischen Passagen dezidiert katholisch geprägt; wenn von »der Kirche« die Rede ist, ist in der Regel die katholische und ihr »Lehramt« gemeint.

Das Buch gliedert sich folgendermaßen: Nach einer kurzen Einleitung wird »Sterben im Wandel der Zeit« in groben Zügen skizziert, von der mittelalterlichen ars moriendi über die veränderten gegenwärtigen Familienstrukturen bis zur Multikulturalität in der Postmoderne (hier finden sich ausführliche Abschnitte zur hinduistischen, buddhistischen, jüdischen und muslimischen Seelsorge), zu den veränderten Kontexten des Sterbens im Hospiz, auf der Palliativstation, im Pflegeheim; die wichtige Unterscheidung von Sterbehilfe und Sterbebegleitung wird erläutert, die verschiedenen Regelungen in anderen europäischen Ländern werden skizziert und die psychologischen und ethischen Aspekte erörtert. Kapitel 3 stellt das Zentrum des Werkes dar: Es befasst sich zunächst mit der Rolle der Seelsorge im multiprofessionellen Team eines Krankenhauses (hier geht es u. a. um das Thema »Wahrheit am Krankenbett«), dann folgen die entscheidenden Hauptteile: personorientierte, individuelle Begleitung (allein dieser Teil umfasst 500 Seiten!) und familien- und systemorientierte Begleitung. Einige kürzere Kapitel bilden den Schluss: Trauer; eine neue ars moriendi?; Ertrag und Schlussbetrachtungen; Anregungen für die Politik; eine Auswahl von Texten für die pastorale Praxis; Literaturverzeichnis und Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten der Fachverbände.

Den Ansatz des Buches finde ich grundsätzlich gut und hilfreich, nämlich die drei wichtigsten Aspekte der Sterbebegleitung nebeneinanderzustellen und differenziert auszuführen: Ihre strukturelle Verankerung in den Kontexten von Krankenhaus, Hospiz, Palliativstation und Pflegeheim und deren Formen von Teamarbeit (ca 75 % aller Sterbefälle ereignen sich in Institutionen und nicht zu Hause, wie es die Mehrheit der Betroffenen wünscht), die personorientierte, individuelle Begleitung und daneben die notwendige Berücksichtigung der Familien und Angehörigen mit Hilfe systemischer Ansätze (vgl. die Zusammenfassung 981 ff.).

Der erste Hauptteil der personorientierten, individuellen Be­gleitung (Kap. 3.2) umfasst dann eine Einführung in die personzentrierte Psychotherapie von Carl Rogers; in ihr sieht S. eine »würdezentrierte Gesprächshaltung« (171) verwirklicht, die in besonderer Weise der christlichen Botschaft entspricht. Daneben kommen andere Therapieformate bzw. Autoren ausführlich zur Darstellung, die Theorien von Paul Watzlawick, Friedemann Schulz von Thun, Thomas Gordon, die Sprechakttheorie von Austin und dessen Rezeption durch Albrecht Grözinger, Hypnotherapie, psychodynamisch imaginative Traumatherapie, das Ego-State-Konzept, das Zürcher Ressourcen-Modell (ZRM), Biographiearbeit, Gestalttherapie usw. Aktives Zuhören, die Sprache der Sterbenden, Angst vor dem Sterben (einschließlich Angst- und Verbitterungsstörungen) sowohl bei den Sterbenden als auch den Begleitenden, schließlich Sterbevorbereitung im Glauben werden ausführlich behandelt. Dem Glauben an Gott bzw. der Fähigkeit, ihm zu vertrauen, schreibt S. die größte resiliente Kraft im Sterbeprozess zu. Idealerweise soll die sterbende Person zum selbstständigen Beten motiviert werden; gleichzeitig soll der Sterbebegleiter/die Sterbebegleiterin ein heilsames Containing der Ängste der Sterbenden ermöglichen. Im Glauben wird auch ein offener Umgang mit vergangenen Scham- und Schulderfahrungen leichter möglich, so dass es zur Aussöhnung mit dem eigenen Leben und mit anderen Menschen kommen kann.

Immer wieder konkretisieren Fallbeispiele aus der Literatur und viele ausgeführte Imaginationsübungen das Gemeinte, andererseits wird der Text dadurch zu einer Mischung von langen dogmatischen bzw. psychologischen Ausführungen und praktischen pastoralen Handreichungen. Ausführlich werden kindliche Todesvorstellungen unter entwicklungspsychologischen Aspekten nach Martina Plieth vorgestellt. Auch problematische Wertungen kommen zum Ausdruck: »Ein echter, persönlicher und tragfähiger Glaube wirkt besonders resilient gegen Todesangst« (330), ein »entstellter Glaube und ein entstelltes Gottesbild« (481) dagegen kann Schäden verursachen. Theologisch erscheint der Text manchmal von den Formulierungen her sehr aufgeladen und wenig erfahrungsbezogen, etwa wenn vom »kairologischen Heilshandeln Gottes« (417) die Rede ist: »Diesem schöpferischen, ereignis- und prozessontologischen Handeln Gottes steht erkenntnistheoretisch die Wahrnehmung des Menschen gegenüber« (418). Überraschend findet sich eine lange Meditation zum Weihnachtsfest und dessen Bedeutung im Kontext von Biographiearbeit (399 ff.).

Der Abschnitt 3.3. (683 ff.) widmet sich der Familien- und Systemorientierten Begleitung. Hier werden Grundprinzipien und Fragetechniken der systemischen Therapie vorgestellt; die Familie als ganze wird zum Subjekt der Begleitung. Seelsorge kann und sollte versuchen, Kommunikationsblockaden in einer Familie überwinden zu helfen, und zu wechselseitiger Offenheit im Blick auf das Thema Sterben und Tod anregen. Besonders wichtig erscheint mir hier der Fokus auf der Begleitung von Kindern, sowohl von sterbenden Kindern als auch von hinterbliebenen Kindern und ihren Familien. Auch Sterbebegleitung bei dementen, bei traumatisierten Menschen und Wachkoma-Patienten wird thematisiert. Abschiedsrituale werden dargestellt mit der Dreigliederung: Hineinführen, Hindurchführen und Hinausführen; auch Begräbnisfeiern und Bestattungspredigt werden genannt.

In Kapitel 4 geht es um Hinterbliebenen- oder Trauerarbeit im Anschluss an den amerikanischen Autor William Worden, der von den Aufgaben der Trauer spricht und auf diese Weise das Trauergeschehen strukturiert (Aufnahme und Weiterführung des Modells von Worden durch Kerstin Lammer kommt nicht vor). Pathologische oder abnorme Trauer entsteht, wenn wichtige Traueraufgaben nicht erfüllt werden (können). Kapitel 5 thematisiert die Frage »Brauchen wir eine neue Ars moriendi?« Hier wird der Text stellenweise flach: Die Empfehlung, die heilige Messe zu besuchen, an der Eucharistie teilzunehmen (972) oder den Rosenkranz zu beten erscheint nicht gerade als geeigneter Vorschlag für eine neue ars moriendi, wenn S. gleichzeitig der modernen Gesellschaft »einen Habitus der Beliebigkeit mit nihilistischer Stoßrichtung« (964) zuschreibt. Auf die Schlussbetrachtungen folgen noch Anregungen für die Politik (995 ff.), die eher skurril anmuten: Hier wird der flächendeckende Bau von »Domizilen für den Lebensabend« empfohlen, die man sich als »riesige, hochmoderne mediterrane Hotelanlage« vorstellen soll (n. b. die es in Florida und Kalifornien unter dem Label »sun city« bereits häufig gibt und die zu Altenghettos mutieren!), in denen multikulturelle und multireligiöse Seelsorgeteams tätig werden könnten, um auf diese Weise finanzielle und personelle Synergieeffekte (nicht nur in der Seelsorge, sondern auch in Verwaltung, ärztlichem, pflegerischem und Reinigungspersonal etc.) zu erzielen. Dieser Vorschlag ist tatsächlich ernst gemeint und wird im Detail ausgeführt, man lese besonders die Seite 1001!

Zusammenfassend: Bei der Lektüre war ich beeindruckt von den umfangreichen und differenzierten Kenntnissen S.s, gleichzeitig werden die verschiedenen Zugänge eher additiv nebeneinander gestellt, so dass ich mir schwer vorstellen kann, wie z. B. Ehrenamtliche in der Sterbe- und Trauerbegleitung, an die sich das Buch ausdrücklich auch richtet, hier einen roten Faden erkennen und aus der Vielfalt der Möglichkeiten sinnvoll auswählen können. In theologischer Hinsicht ist das Buch eher konservativ: An entscheidenden Stellen werden dogmatische Konstrukte referiert, die wohl nur gläubigen Katholiken hilfreich sein können. Häufig parallelisiert S. Therapieformate und Seelsorge, ohne zu erwähnen, dass Seelsorgende in aller Regel nicht über angemessene Aus- und Weiterbildung verfügen, um solche Ansätze kompetent und verantwortungsvoll einsetzen zu können.

Ein formaler Eindruck: Es ist mir rätselhaft, wie ein Autor (und ein Verlag!) ein so umfangreiches Werk in einer so wenig strukturierten Weise veröffentlichen kann. Es fehlt ein Personen- und Sachregister, mit dessen Hilfe man sich in der Fülle der Informationen orientieren könnte (ein Beispiel für sehr viele: Es gibt, wie erwähnt, gute Abschnitte über Seelsorge in andere Religionen; die werden aber nicht einmal im Inhaltsverzeichnis genannt: Wie soll man sie wiederfinden?); dann überwiegen seitenlange Texte und Zitate ohne Absätze, ohne jede Hervorhebung (mit Ausnahme der zahlreichen grau unterlegten Imaginationsübungen), so dass es ausgesprochen schwierig ist, sich zu orientieren oder bestimmte Stichwörter zu finden. Jeder der großen Abschnitte wird mit einem Resümee beendet, die aber auch in sich noch mal so umfangreich sind (17 Seiten für die personorientierte Begleitung), dass sie keine einprägsame Übersicht darstellen. Sprachlich erscheinen mir manche Formulierungen merkwürdig: So solle der Sterbebegleiter ein »Liebesopfer« bringen, indem er auf mögliche Aggressionen oder Beleidigungen der sterbenden Person nicht entsprechend antwortet (335), von Gott geht eine »Durchweihung der Welt« (399) aus.

Das Buch enthält eine große Fülle von relevanten und hilfreichen Informationen und Anregungen zum Thema Sterbebegleitung; gleichzeitig empfinde ich die didaktische Struktur des Buches als so unzureichend, dass ein großer Teil der möglichen informativen Wirkung verloren zu gehen droht.