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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

721-723

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rudolphi, Daniel

Titel/Untertitel:

Kirchengemeindefusion. Zwischen Zwang und Selbstbestimmung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 228 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 95. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374073849.

Rezensent:

Frank Weyen

Mit seiner kurzweilig zu lesenden Dissertationschrift legt Daniel Rudolphi eine Studie vor, die Kirchengemeinden und Kirche allgemein im soziologischen Sinne und im Anschluss an Jan Hermelink vorwiegend als Organisation verstehen will. Unter Rückgriff auf die von Hermelink in seiner eigenen Kirchentheorie (2011) vorgelegten vierfachen Gestalt von Kirche (Institution, Organisation, Interaktion Inszenierung), stellt Rudolphi im Laufe seiner in Teilen empirisch angelegten Studie auf die Organisationshaftigkeit von evangelischer Kirche in der Gegenwart ab. Dazu zieht er, wie der Rezensent bereits 2016, neoinstitutionalistische Ansätze aus der Soziologie heran, um die Problematik von Fusionen evangelischer Kirchengemeinden zu betrachten.

Die Ergebnisse seiner Analysen entfaltet er in zehn Kapiteln. Während R. im ersten und im vierten Kapitel den state of the art der Forschungslage verschiedener theologischer Autoren und Autorinnen zum Themenspektrum konsultiert (19–48; 73–90), liefert Kapitel fünf (91–95) die Forschungsfrage, nachdem er die wissenschaftliche Grundlegung in den vorherigen Kapiteln erörtert hatte. Er benennt seine Forschungsfrage allerdings zusätzlich in der Einleitung der Studie und befriedet damit kritische Nachfragen an sein Werk: »Wie wird eine Gemeindefusion mit ihren Prozessdynamiken von ehrenamtlichen Kirchenvorstehern und Pfarrern gedeutet?« (16/96). Dabei fragt R. zugleich nach Bildern, Prozesselementen und Faktoren für Deutungen von Gemeindefusionen bis dahin, ob diese als ge- oder misslungen empfunden werden. Im zweiten (Erkenntnisse aus den Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, 49–60) und im dritten Kapitel beschreibt R. den Neo-Institutionalismus als Phänomen (61–72), was leitend für das in der Studie gewählte Verständnis von Kirche sein soll: Die Organisation.

Der einleitende Großabschnitt einer vorbereitenden wissenschaftlichen Grundlegung (1–98) geht über in empirische Analysen bestehend aus Vorstudien (99–107) und der Durchführung der Erhebung (107–115). Die auswertenden Kapitel sieben bis neun (117–208) münden letztlich, einem Fazit gleich, in das zehnte Kapitel (209–222).

Ausgehend von der Grundannahme, die zur Fusion anstehende Kirchengemeinde als Organisation zu verstehen, kann R. interdisziplinär unterschiedliche Analysemethoden aus den Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften konsultieren (50–62). Dabei betrachtet er Fusionsmotive ebenso wie Strategie- (Pre-Merger), Verhandlungs- (Merger) und Integrationsphasen (Post-Merger). Das K7-Modell nach Stephan A. Jansen analysiert die Gründe des Scheiterns einer Fusion. Als weiteres Analysemodell verweist R. auf das Konfliktmodell nach Friedrich Glasl, das sich mit Fragen des Konfliktmanagements befasst. Isomorphien kommen in der Darstellung des Neoinstitutionalismus (64–71) in den Blick. Allerdings blendet R. die nach E. Hauschildt (2007) mit A. Evers aufgeworfene Frage des Hybridcharakters von Kirche aus, trotz der Referate verschiedener Autoren und Autorinnen der zurückliegenden Jahre zur Kirchentheorie (73–90). R. wendet den Organisationsbegriff auf Kirchengemeinden an, ohne zu berücksichtigen, dass sich in einer Kirchengemeinde auch institutionelle Anteile finden lassen, auf die wiederum Fragen der Organisationsanalyse und -entwicklung nicht angewendet werden können.

In sieben Kirchengemeinden hat R. zunächst in einer Vorstudie nach der Methodik der Grounded Theory den Umgang mit Emotionen als elementares Merkmal bei Gemeindefusionen herausgearbeitet, so dass eine Fusion als prozesshaftes Geschehen in den Fokus der Studie tritt. Hierbei kommen im umfangreichen Hauptkapitel sieben (118–186) für den Fall von Pfarrstellenreduzierungen die Aspekte der Existenzgefährdung von Kirchengemeinden ebenso in den Blick wie Fragen nach der Überlastung von Ehrenamtlichen im Falle von Vakanzen. R. macht hierbei unterschiedliche Motive für Fusionshandelnde aus: Entlastung, Bewahrung, Optimierung oder Qualitätsentwicklung. Unterschiedliche Phasen treten demnach bei Fusionen zwischen Kirchengemeinden auf: Verhandlung, Gremienbesetzung, Gottesdienst-, Gebäude-, Verwaltungs- und Personalstruktur. Aber auch der Name der künftigen Kirchengemeinde sei emotional besetzt. Widerstände macht R. im möglichen Verlust einer institutionellen Sichtbarkeit von Kirche durch schwindende Kirchengebäude, reduzierte Gottesdienstangebote, ohne Pfarrhaus und Gemeindebüro, Verlust von Vertrautheit mit bekannten Liturgien, Gemeinschaften, Einflussbereichen, Gegebenheiten und Orten aus. Diese können sich in Form von Protest, kultureller Grenzziehung, Rückzug aus Kirche und Gemeinde oder dem Ausstieg aus dem neuen System Fusionsgemeinde (165–172) äußern. In pfarramtlicher Hinsicht werden Ängste im Verlust von Selbstbestimmungs- und Kontaktmöglichkeiten (176–179) und in der Gottesdienststruktur, in der Anpassung der Liturgie, der Gebäudestruktur und Räumlichkeiten plausibilisiert (180–185). »Wenn hingegen die Initiation des Prozesses als selbstbestimmt wahrgenommen wird, scheint sich dies aus Sicht der Interviewpartner positiv auf den weiteren Verlauf niederzuschlagen.« (185)

Unterschiedliche Fusionsmodelle macht R. daraufhin aus. Dabei geraten die Aspekte der Bedrohung (188–192), des Kampfes (192–193), der Zwangsehe (193–194) sowie der Inklusion (194) als Erklärungsmuster für emotionale Verhaltensweisen von durch Fusionen betroffenen Menschen in den Blick. Aber auch die eher positiv besetzten Themen: Bewahrung, wirtschaftliche Konsolidierung und Fortschritt werden angeführt (195–198). Ferner benennt R. auch Schlüsselfaktoren für die Deutung von Kirchengemeindefusionen. So die Selbstbestimmung. »Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Fusionsprozesse zu einer Auseinandersetzung mit Gemeindebildern und Gemeindeverständnissen führen und neu ausgehandelt wird, welche Aspekte von Gemeinde für die neu entstehende Gemeinde von Relevanz sind« (214).

Insgesamt hat R. ein hilfreiches Werk zum Verständnis der inneren Ablaufprozesse von Kirchengemeindefusionen und deren Problematiken vorgestellt. Dass er insbesondere im Epilog (220–221) nicht nur Kirchengemeinden, sondern auch Kirchenkreise und Landeskirche, die Synoden sowie Ämter und Werke seinem paradigmatischen Verständnis als Organisation unterwirft, verweist auf eine grundsätzliche Herangehensweise an eine sich als Körperschaft öffentlichen Rechtes aufstellende evangelische Kirche in den deutschen Ländern, die ihren Institutionscharakter aus rechtlichen Rahmungen (Art 140GG) herleitet, die sich auch in einer sich verändernden politischen Zukunft womöglich noch, aufgrund ihrer föderalen Struktur, soziologisch als resistent erweisen werden. Hier hätte R. soziologisch zu Beginn klären können, wo sich organisationale und institutionelle Züge im hybriden Gesamtsystem Kirche auf allen kirchlichen Ebenen auffinden lassen. Auch im Anschluss an die vierfache Gestalt von Kirche bei Jan Hermelink wäre die Plausibilisierung der hermelinkschen Thesen in der vorgelegten Studie zumindestens interessant gewesen. Letztlich jedoch bietet R. weiterführende Grundlegungen, die in anderen Studien zum Tragen kommen können.