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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

716-719

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Sabrina, u. Jasmine Suhner

Titel/Untertitel:

Transformative Homiletik – Jenseits der Kanzel. (M)achtsam predigen in einer sich verändernden Welt.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchner 2023. 240 S. = Interdisziplinäre Studien zur Transformation, 3. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783761569115.

Rezensent:

Gero Waßweiler

Die Autorinnen Sabrina Müller und Jasmine Suhner sind am Universitären Forschungsschwerpunkt »Digital Religion(s)« der Universität Zürich tätig. Mit ihrer Transformativen Homiletik legen sie ein Buch vor, das auf eine Transformation der Predigtpraxis und auch der Predigttheorie zielt. Das Portmanteau »(M)achtsam« beschreibt dabei die Haltung einer machtsensiblen, machtkritischen und achtsamen Auseinandersetzung mit dem Predigtgeschehen. Sie verstehen das Buch nicht als traditionelle Homiletik, sondern als exemplarische, narrative und kritische Einführung (22) und knüpfen an Diskussionen um Postkolonialismus, Macht, Rassismus und Feminismus in der internationalen Praktischen Theologie an und ergänzen den Diskurs um einen deutschsprachigen Beitrag.

Das Buch folgt einem Aufbau, den die Autorinnen der Transformationsforschung entnehmen (147). So dient Teil I dem Feststellen eines Transformationsbedarfs, Teil II der Erarbeitung konzeptionellen Wissens und der dritte Teil der Darstellung dessen, was die Transformative Homiletik ausmacht.

In der Einleitung wird kritisiert, dass der traditionelle Predigt-Kontext in der Kirche die Lebendigkeit und Kreativität einschränkt und die Predigt weiterhin patriarchalisch und kolonial geprägt sei. Oft fehle es an emotionaler Intensität und ermächtigender Gemeinschaft, stattdessen dominierten Kontrolle und Hierarchie. Statt offener Fragen gäbe es klare Aussagen, und statisch-konservatives Denken behindere die Transformation. Viele Menschen suchten spirituelle Inspiration außerhalb der Kirche in verschiedenen Medien. Dieses Bedürfnis nach Resonanz zeige, dass die Suche nach spiritueller Erfüllung weit verbreitet sei (20). Als Forschungsfragen formulieren die Autorinnen, was transformatives Predigen bedeutet und wie sich Erkenntnisse daraus in visionäre Handlungsempfehlungen umsetzen lassen. (22)

Im ersten Teil des Buches, den die Autorinnen als eine Kanzelkritik bezeichnen, setzen sie sich mit dem heutigen Kanzelbewusstsein auseinander. Dazu beschreiben sie zunächst verschiedene historische Entwicklungen der Homiletik. Sie stellen fest, dass die Sonntagspredigt kaum noch als Hauptereignis des Gemeindelebens bezeichnet werden kann und die Predigten »an Leuchtkraft« (35) verlieren. Weiter diskutieren sie die Entstehung der Kanzel als liturgisch zentralen Ort und betrachten die Kathedra als Symbol der Leitungsgewalt. Thematisiert wird auch die spätmittelalterliche Entwicklung hin zum Ort der Predigt im Freien außerhalb der Kirche (42f). Diese Form jenseits der Kanzel mit ihrer konfessionsgeschichtlichen Bedeutung in der Reformation wird leider nicht herausgearbeitet.

Unter klassischem Kanzelbewusstsein verstehen die Autorinnen die traditionelle Art und Weise religiöser Kommunikation, die von männlichen, räumlichen und institutionellen Perspektiven geprägt sei. Sie stellen fest, dass das gegenwärtig vorherrschende Kanzelbewusstseins überwiegend aus westlichem, männlichem Denken und Handeln hervorgeht, das hauptsächlich von weißen Männern geprägt wurde (50). Die architektonische und bauliche Platzierung der Kanzel und auch die bauliche Form der Kanzel sei auf die Körpermaße weißer Männer aus Westeuropa und Nordamerika zugeschnitten (56), was nonverbal diejenigen ausschließe, die nicht dieser Passform entsprächen (57). Der Rezensent versteht diese Wahrnehmung, fragt sich aber, ob sie nicht die durchschnittliche Entwicklung der Körpergröße allein in den letzten Jahrhunderten außer Acht lässt. Ein weiterer Aspekt des Kanzelbewusstseins betrifft die kirchliche Anerkennung der Prediger bzw. Predigerinnen durch Ausbildung, Ordination, Bekenntnis und Verortung. Dazu wird festgestellt, dass zahlreiche kanzel(fernere) Orte wie bspw. digitale Formen eine intensivere Resonanz als die klassische Kanzelrede hervorrufen können. Dazu gehörten auch Reden von Menschen ohne Theologiestudium. Solche Beispiele würden das Selbstverständnis der klassischen Kanzelrede und den homiletischen Diskurs derzeit noch wenig angemessen prägen.

Für den wissenschaftlichen Diskurs in deutschsprachigen homiletischen Seminaren stellen die Autorinnen verschiedene »dominierende homiletische Ansätze« (61) dar. Sie untersuchten, wie sich der aktuelle Frauenanteil von knapp 40 % im evangelischen Pfarramt in der Auswahl der verwendeten Literatur in den Seminaren widerspiegelt. Sie haben dazu Seminarpläne von sechs Universitäten analysiert, die ihnen »von Kolleg:innen und Studierenden zur Verfügung gestellt« wurden (62). In diesen stellen sie ein Ungleichgewicht im Kanon der verwendeten Literatur fest. Nur 4 % der Texte in den Seminaren stammen von Frauen, und Texte von PoC und aus anderen Ländern fehlen komplett. Der Rezensent fragt sich, warum bei dieser Analyse von der Anzahl der Pfarrerinnen im Dienst ausgegangen wird, und nicht von der Zahl der Seminarleiterinnen. Etwa die Hälfte der Lehrstühle für Praktische Theologie sind mit Frauen besetzt. Das wirft die Frage auf, warum die deutschsprachige homiletische Literatur der letzten Jahre davon so wenig profitiert zu haben scheint.

Der erste Teil endet mit der Feststellung, dass die Kanzel nicht als neutraler Ort zu betrachten sei, sondern als ein Ort, der aufgrund seiner Geschichte und bis heute als Ort religiöser Deutungsmacht und strukturellen Sexismus und Rassismus betrachtet werden müsse (77), weshalb weiterhin eine transformativ-(m)achtsame Homiletik einzufordern sei. Es stellt sich die Frage, ob struktureller Sexismus und Rassismus aus der vorangegangenen Analyse des Lehrkanons und der Interpretation der Kanzel im historischen Kontext und der Entwicklung hin zur Frauenordination für den deutschsprachigen Kontext so verallgemeinert werden kann.

Im zweiten Teil mit dem Titel »(m)achtsame Homiletik« werden zunächst verschiedene Machttheorien dargestellt. Dazu beziehen sich die Autorinnen zunächst auf klassische Machttheorien (Max Weber, Michel Foucault). Allen Ansätzen ist gemeinsam, so die Autorinnen, dass sie Macht als Beziehungsgeschehen verstehen. Damit verbunden sei häufig ein Machtgefälle zwischen Personen, Personengruppen, Kulturen oder anderen Teilsystemen (91). Die Autorinnen deuten Macht als ein wesentliches Element jedes Systems und als unabdingbar für die Prägung, Beeinflussung und Veränderung durch Predigten sowie für Bildungsprozesse und jegliches Bemühen um Transformation. Macht interpretieren sie als notwendige »Verbündete« und soziale Ressource, die dazu beiträgt, Benachteiligte zu unterstützen, Diskriminierung zu thematisieren, ungerechte Strukturen zu transformieren und denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden (93). Geteilte und partizipative Macht sehen sie als Schlüsselressource für gesellschaftliche Veränderungen und für eine transformative Homiletik.

Es folgt eine Darstellung neuerer partizipativer (Hannah Arendt), feministischer (Judith Butler) und postkolonialer (Edward Said, Stuart Hall) Machtdiskurse sowie das Plädoyer für eine Homiletik, die disruptives Potenzial hat und sich als macht- und systemkritische Homiletik von unten auszeichnet. Mit Hysran Kim-Cragg wird eine postkoloniale Predigtpraxis erörtert, die implizite Machtstrukturen wahrnimmt und benennt und dadurch transformativ in das Leben sowohl einzelner als auch der Gesellschaft hineinwirken kann.

Mit diesem umfangreichen Diskurs greifen die Autorinnen wichtige und bedenkenswerte Konzepte auf, die zum Nachdenken anregen. Sie fordern berechtigterweise aus dem dargestellten Diskurs ein soziales Empowerment, welches eine Pfarrerzentrierung hinter sich lässt. (M)achtsam Predigen zeichne sich aus durch eine Sensibilität für Rassismus und eine Präferenz für die Menschen am Rand (voices from the margins). Dazu gehöre auch – und dazu fügen sie einen Exkurs ein – die Kommunikation und das Predigen jenseits der Kanzel, in der Vielfalt digitaler Formate. Die Autorinnen betonen einen Verlust an Deutungsmacht, der jedoch durch das Allgemeine Priestertum gestärkt würde (132).

Der dritte Teil führt in die Transformationsforschung ein und präsentiert die Ruach als zentrale Kraft einer transformativ-(m)achtsamen Homiletik. Diese pneumatische Grundlage, die an befreiungstheologische Konzepte erinnert, betont die transformative und sozial gerechte Wirkung des Heiligen Geistes. Sie betonen die Ruach als Grundlage, weil sie zur Transformation aufrufe und inspiriere und für eine kritische, unverfügbare Stimme stehe, die nicht wegen unterdrückter Strukturen verstumme (172). Die Autorinnen stützen sich bei ihrer Darlegung prominent auf Rudolf Bohren. Es folgen verschiedene Dimensionen einer transformativ-(m)achtsamen Homiletik. Diese werden beschrieben als das Teilen von Deutungsmacht, das Ernstnehmen körperlicher Erfahrungen, das Fördern von Polyphonie und das gemeinsame Streben nach dem Reich Gottes. Manche Gedanken erinnern an die aktuellen Reflexionen um Transformational Diaconia bzw. Diakonia in Context.

Das Buch enthält Handlungsempfehlungen und Reflexionsfragen, die das Lesen unterbrechen, und eignet sich auch zum selektiven Lesen einzelner Abschnitte, was eventuelle Redundanzen in bestimmten Passagen ausgleicht. Leider sind die zahlreichen Skizzen, die den Text visualisieren sollen, aufgrund der Schriftgröße größtenteils kaum oder gar nicht lesbar. Die Verwendung von Fußnoten anstelle von Endnoten hätte die Lesbarkeit verbessert. Eine Durchsicht der Fußnoten wäre auch hilfreich gewesen, um Verweise auf PDF-Dateien wie z. B. »Vgl. ›Bibelteilen.pdf‹« (Anm. 44; 215) oder auf falsch benannte Texte wie z. B. »null« statt der Zeitschrift »Liturgy« (Anm. 2; 77) zu vermeiden.

Die Autorinnen hoffen, dass es ihnen gelungen ist, für die Vielfalt noch zu beschreitender Wege einer transformativ-(m)achtsamen Homiletik zu begeistern und halten fest: »Wenn die Stimmen von Frauen, queeren Personen und People of Color […] im homiletischen Diskurs fehlen, dann fallen ganze Erfahrungswelten weg.« (225) Mit ihrem Buch leisten sie einen wichtigen Beitrag in der aktuellen Diskussion um Macht und Achtsamkeit. Sie regen zum gemeinsamen Nachdenken und Weiterdenken an. Dem ist nur zuzustimmen, und umso erfreulicher ist, dass sie den deutschsprachigen Kanon homiletischer Literatur um gleich zwei weibliche Stimmen erweitern.