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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

707-709

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Beckmayer, Sonja, u. Christian Mulia [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Volkskirche in postsäkularer Zeit. Erkundungsgänge und theologische Perspektiven.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 506 S. = Praktische Theologie heute, 180. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170389205.

Rezensent:

Christian Hennecke

»Mir geht es eher um eine Kirche der Gegenwart, d. h. um eine kirchliche Praxis, die gegenwärtig ist, und in der Gegenwart vielfältig und höchst eigensinnig gelebt werden kann«, so zitiert schon das Vorwort dieser umfangreichen Festschrift die Grundlinie des Denkens Christian Fechtners aus seiner Dissertation, des Ordinarius für Praktische Theologie in Mainz, der in mehr als 20 Jahren seiner Tätigkeit dort vielfach »Erkundungsgänge« in den vielfältigen Feldern praktischer Theologie unternommen hat. Darum geht es in diesem Buch, das sich in den vielen Beiträgen der Kollegen, Schüler, Freunde und Weggefährten widerspiegelt: Es geht um eine neue Vergegenwärtigung des Kircheseins, aber eben nicht als Theorie, sondern als Praxis der Spätmoderne. Es geht um »fortschreitende Pluralisierung«, um »unhintergehbare Individualisierung« und »unverzichtbare Gemeinschaftsbildung«, wie die Keywords aus Fechtners Analysen benannt werden.

Und wer, noch vor den mächtigen Datensätzen der neuesten Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU 6) und der deutlich abnehmenden institutionellen Stärke der Kirchen, die Transformationsprozesse beobachtet, wird ganz sicher neu fragen und definieren müssen, was denn in diesen Kontexten eine »Volkskirche im Übergang« (Fechtner) ist. Man muss, so Christian Mulia in seinen programmatischen Auftaktbemerkungen (13–25), diese Begrifflichkeit der Volkskirchlichkeit neu erfinden, wenn all die Abschiede, aber auch alle Potenziale bedacht werden sollen – mit offenem Ausgang, wie Mulia formuliert. Es geht eben in dieser neuen postsäkularen Epoche nicht um eine stillschweigende Auflösung gewohnter Formen, sondern auch um neue Verortung: Wie werden in den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen Praktische Theologie und postsäkulare Volkskirche die Themen unserer Zeit aufgreifen? Wie gelingt eine Übersetzung und Neuaneignung der eigenen Tradition inmitten eines breiter werdenden Pluralismus, was bedeutet hier die pluralitätsfördernde Digitalisierung – und was bedeutet es schließlich, wenn die postsäkulare Gesellschaft nicht Lehre und Moral als Ausdrucksformen präferiert, sondern Praxen?

Die vielfachen Beiträge versuchen diesen Rahmen zu entfalten. Dabei geht es oft um genaue Beobachtungen, es geht um den fokussierten »Blick« auf den Gegenstand, auf die Praxis, auf die Phänomene. In seinem Beitrag »Was bewegt die Praktische Theologie heute« unternimmt Stefan Altmeyer sprachempirische Erkundungen (49–58), die genau hier – im Wortfeld des Blickens – ihr Zentrum entbergen. Es geht um das präzise Hinschauen, und um die Deutung der Phänomene. Es braucht einen Blick, der Gott ins Spiel bringt, »als denjenigen, der mit den Menschen ›in jedem Ereignis wieder neu beginnen‹ (Fechtner) will« (Altmeyer, 58).

Die »Blickrichtungen« der kurzen Aufsätze sind nicht alle gleichwertig, aber reflektieren eine unglaubliche Vielfalt von Horizonten, von der Literatur (Friedrichs) und ihrem Bezug zur Religiosität über frühkindliche Erfahrungen und ihr Zusammenhang mit praktisch-theologischem Handeln (Kohler-Spiegel) hin zur Religionspsychologie und den Fragen zwischen Einsamkeit und spätmoderner Kirchlichkeit (Lorenzen-Noth).

Im spannenden dritten Teil dieser Festschrift werden von unterschiedlichen Autoren die »Produktive[n] Gegenwartskräfte christlicher Religion« ausgelotet (Daiber, Gutmann, Kretzschmar, Kranemann, Bauer). Spannend zu verfolgen ist die Diskussion um Gottesdienst und Kasualien (IV. Teil Praktische Theologie von Fall zu Fall). Dabei wird deutlich, dass der gefühlte Abbruch der gottesdienstlichen Praxis nur ein Akzent ist: Immer mehr gibt es unterschiedliche Gelegenheiten – wie auch Kasualien –, die ein anderes Bild zeigen: Kontextualität und individuelle Bedürfnisse der Menschen führen zu neuen Formen, die zweifellos attraktiv sein können. Die Vielfalt der Feierformen löst den »Normalfall Sonntagsgottesdienst« ab. Es ist eben nicht so, dass neben diesem Normalfall andere Formen dazukommen können – es gibt keinen Normalfall mehr. Das gilt, so wird im Beitrag katholischer Kollegen deutlich, auch für den katholischen Bereich, wie Benedikt Kranemann beschreibt (131–141).

Im Blick auf pastoralpraktische Erkundungsgänge in der Gegenwart wird der Reflexion der Coronapandemie viel Raum eingeräumt, ist sie doch ein Testfall für Krisenzeiten (V. Teil Testfall Corona, 201–321). Hier wird deutlich, dass die Pandemie eine Auflösung »normaler« Zusammenhänge beschleunigt hat: Das betrifft natürlich die Gottesdienstformen, die in der Coronazeit sich digital verwandelten – aber vor allem auch die Frage, wie Kirche sich als Erfahrung passagerer Gemeinschaft veränderte. Gottesdienst und Gemeinschaftsform in analoger, aber auch in hybrider Form sind nicht mehr in eine Normalform zurückzuholen. Oder deutlicher: »Die Volkskirche erfand sich in kürzester Zeit neu, und zwar in digitaler Gestalt«, so formuliert es David Plüss (Digitale Präsenzeffekte: Volkskirchliches Feiern in Zeiten der Pandemie, 215–228, 215).

Wenn im VI. Teil die Frage nach der religiösen Kompetenz (»Ausbildung und Ausübung religiöser Kompetenz«, 279–334) in verschiedenen Beiträgen in den Blick genommen wird, dann bereitet das die intensive und vielleicht zentrale Reflexion über das Selbstverständnis der Volkskirche in Zeiten des Übergangs (VII Volkskirche im Übergang, 335–444) vor. Die Beiträge von Michael Meyer-Blank (336–343), Michael Haspel (345–364) und etwa von Christian Grethlein (365–374) illustrieren – auch für den katholischen Rezensenten – spannend das Ringen um eine neue Vergewisserung über die ekklesiologische Transformation, die sich in uns und mit uns und um uns ereignet. Die Analysen ähneln sich, und ob man von einer post-volkskirchlichen offenen Minderheitenkirche spricht (Haspel) oder mit Grethlein die digitale Sphäre als Ort der Neuerfindung volkskirchlicher Elemente sieht – all dies macht noch einmal die Spannung deutlich, die auch die neueste Kirchenmitgliedschaftsstudie bestätigt: Die Transformation der Kirchengestalt, die unweigerlich geschieht und sich ereignet, wird beide Kirchen extrem herausfordern, denn sie muss, so sagt es die KMU 6, Spannungen ertragen zwischen den oft noch sehr von der Vergangenheit und ihrer gefühlten Glorie geprägten klassischen Gemeindemustern und dem Aufbrechen vieler neuer Akzente. Es bedarf jedenfalls intensiver Sehhilfe, einer achtsamen Wahrnehmungskunst für den sich zeigenden Spannungsraum der Postvolkskirchlichkeit. Dabei spielen Studien wie die Freiburger Studie über die Entwicklung der Mitgliedschaft eine wichtige und emotionale Rolle.

In seinem klugen Beitrag zur »Freiburger Apokalypse« (385–397) setzt sich Jan Hermelink mit der unternehmerischen Sicht der Kirche auseinander. Dabei wird auch hier deutlich, dass in Zukunft eine »Volkskirche bei Gelegenheit« die engen Grenzen einer Parrochie übersteigt. Es erscheint dem Rezensenten bemerkenswert, dass hier in evangelischer Perspektive immer deutlicher wird, was parallel sich natürlich auch im katholischen Kontext ereignet: Kirche bei Gelegenheit ereignet sich an unterschiedlichen Orten, es gibt nicht mehr den Normort, sondern Menschen entscheiden aus ihrer Individualität heraus und aufgrund unterschiedlicher Relevanzen, wo sie sich einbringen und eventuell Zugehörigkeit suchen: Kirche als Segensort überwindet die enge parrochiale Dynamik hin auf diakonisch-karitative Orte, schulische und außerschulischen Bildungslandschaften, Initiativen und Gemeinschaften, auf Bewegungen und »Pop-up-Kirchen« unterschiedlichster Prägungen. Damit wird die Logik einer verzweifelten Selbsterhaltung überwunden zu Gunsten der Wahrnehmung und Würdigung neuer und fragiler Ekklesiogenesen. Nicht überraschend zitieren einige Beiträge die pastoraltheologischen Ideen katholischer Kollegen wie Michael Schüssler, der Kirche als »Netzwerk der Gelegenheiten« fasst (Peter Scherle, Was kommt auf die Volkskirche zu, 399–411, 410). Uta Pohl-Patalong in ihrem lesenswerten Beitrag formuliert deswegen: »Übergang ist notwendig immer auch Abschied – aber ein Abschied, der sich lohnen dürfte (413–423, 423). Ralph Kunz sekundiert in seinen scharfen Analysen und Denkschneisen und formuliert so 12 Thesen für diesen Übergang hin zu einer »neuen Volkskirche« (Ralph Kunz, 425–441).

Einige wenige Beiträge (VIII – Schnittstellen zur praktischen Theologie, 446–500) aus »Nachbardisziplinen« (Exegese, Kirchengeschichte, Ethik) runden den reichen Sammelband ab.

Vor uns liegt ein Kompendium Praktischer Theologie, das nachdrücklich den Transformationsprozess einer Volkskirche zeichnet, die Kristian Fechtner in seiner Lehrtätigkeit über Jahrzehnte wahrgenommen und teilweise prophetisch vorweggenommen hat. Wie in jeder Festschrift liegen hier wertvolle Resonanzen und weitergehende Überlegungen vor. Es wäre schade, wenn sie im allgemeinen Festschriftgrab untergehen würde.

Vielmehr sollte mit Gelassenheit und Neugier der hier eingeschlagene Weg weiter beobachtet und durchdacht werden. Was scheinbar apokalyptische Züge trägt, ist Häutung und Verpuppung einer Kirchengestalt, oder besser: die Herausforderung jeder Zeit, das Evangelium zu verkünden und mit Staunen zu beobachten, welche ekklesiogenetischen Prozesse emergieren. Und es geht darum weiterzudenken. Denn alle »Kategorien« und »normativen Muster« – aber auch emotional aufgeladenen Bilder einer klassischen Volkskirchlichkeit – gehen zugrunde: auf ihren eigentlichen Grund. Wichtig wird es werden, die Gemeinschaft und Erfahrung des Miteinanders, die Einheit in Christus und das Ereignis der Gegenwärtigkeit des Geheimnisses (in Liturgie und Diakonie etwa) der Gegenwart Gottes neu zu durchdenken und sich von den neuen kirchlichen Formen der Zukunft überraschen zu lassen.