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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

697-699

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schuppert, Gunnar Folke

Titel/Untertitel:

Über Menschenbilder. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmen.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2023. 312 S. Kart. EUR 74,00. ISBN 9783756014323.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Der Kern dieses Buches von Gunnar Folke Schuppert besteht in der Beschreibung bzw. der Analyse von insgesamt weit mehr als 30 Menschenbildern, die in verschiedener Intensität behandelt werden, zum Teil mit der Hilfe von weitergehenden Theorien. Dem vorangestellt sind »einige einleitende Bemerkungen« (10 S.), in denen betont wird, dass es nicht um ein neues Menschenbildmuseum ginge, sondern um die Frage, wie diese Bilder unser Denken und Handeln bestimmen, zum Guten oder Schlechten. Darauf wird dann auch gleich eine Antwort dahingehend geliefert, dass sie als Argumente taugen würden, handlungsleitende Funktionen hätten, als Bilder in unseren Köpfen funktionierten und so unsere Wahrnehmung und unser Denken bestimmten. Mit Michael Zichy werden drei Wirkungen von Menschenbildern festgehalten: Wirkungen auf die Intentionalität von Individuen, Wirkungen auf soziale Institutionen und Wirkungen auf die Konstitution von Individuen. Eigentlich wäre damit schon alles gesagt, aber dann beginnt das Buch zusammenhanglos mit Bildern vom kulturell Fremden und spinnt sich durch sie hindurch.

Etwas Orientierung hätte man sich durch eine abschließende Antwort auf die eingangs gestellte Frage erhofft: ein solche Ergebnissicherung kommt jedoch nicht vor. Der Leser bleibt deswegen am Ende irritiert alleingelassen. Wenigstens eine klare Antwort, wie denn die genannten Wirkungen zustande kommen, hätte man erwartet. Auch die einzelnen Kapitel (sechs an der Zahl) enthalten keine Ergebnissicherungen, sodass sich der Leser einen argumentativen Fortschritt selbst erarbeiten muss, was sie oder ihn frustriert zurücklässt. S. pflegt einen sympathisch lockeren Stil (»es scheint nun an der Zeit zu sein, mit dem ersten Kapitel zu beginnen«) und zitiert extensiv all seine Gewährsleute. Geschätzt besteht wohl gut ein Viertel des Buches aus Zitaten. Das Ganze hat so den letztlich geradezu künstlerischen Charakter einer Collage, wozu auch das Fehlen von Schlussfolgerungen passen könnte.

In den sechs Kapiteln wird eine Unmenge an Material über Menschenbilder unter verschiedenen Perspektiven ausgebreitet. Es beginnt im langen 1. Kapitel mit dem Bild vom »Anderen«. Hier geht es um den viel diskutierten ethnologischen Blick des »edlen Wilden« und den »weißen Blick« des Kolonialherren und Missionars. Eine Bündelung erfolgt im Blick der Weltausstellungsbesucher mit ihren skandalösen »Eingeborenenshows«, bevor es dann relativ ausführlich um Hexen und Helden geht, in oder mit deren Bildern Krisenerfahrungen, Sehnsüchte und Ängste projiziert werden. Sie gipfeln in Verschwörungstheorien, mittels derer Sinn gestiftet, Kontingenz reduziert wird und man es sich erlauben kann, sich der breiten Masse überlegen zu fühlen, wie S. mit einigen Zitaten belegt. Der Zusammenhang von Selbst- und Feindbildern wird dann am Beispiel frühneuzeitlicher Flugblätter illustriert. Und was Helden anbetrifft, so werden sieben Kurzporträts [von Tori Amos] skizziert, die »viel besser als jede wissenschaftliche Abhandlung zu erklären (! GW) vermögen, warum sie gerade diese Personen als prägende und ihr Mut machende Vorbilder erkoren hat«. Es folgen Überlegungen zum Diskriminierungspotential von Klischees, Stereotypen und Vorurteilen, was dann weitgehend rein darstellend auf das Bild vom »Schwarzen« im Kongo und des Juden in Hitlers Wien angewendet wird. Schließlich geht es um die »Macht- und Herrschaftsfunktion von Benennungen«. Benennungsmacht sei seit Judith Butler »sprachliche Konstitutionsmacht« und gehe mit der Aufteilung der Welt in Benannte und Unbenannte einher. Diese Ordnungsstrukturen werden durch (rechtliche) Kategorienbildung noch verfestigt, die direkt handlungsleitende Funktionen aufweisen und so zur Herrschaftsausübung beitragen. Sicherlich wäre es denkbar gewesen, diese Überlegungen auch mit Leitbildern in Verbindung zu bringen, aber das geschieht nicht.

Die weiteren Kapitel arbeiten ähnlich. Gerne werden umfassende Thesen mit literarischen Beispielen illustriert – vgl. im zweiten Kapitel (»Wie wir uns ein Bild von ›UNS SELBST‹ machen«) individuelle Selbstbilder anhand von Tonio Kröger und Didier Eribon. Aber es erscheint auch das evangelische Pfarrhaus »als gelebtes Selbstbild«. S. zeichnet Selbstbilder von Eliten (Adel) oder bestimmten Milieus. Es seien dann die jeweiligen Selbstverständnisse als Konkretisierung von Identität, die das Handeln prägten. Ein Zusammenhang mit Menschenbildern ist auch hier zwar zu erahnen, wird aber nicht expliziert. Sind milieuspezifische Selbstbilder, wie sie in der Forschung erfasst werden, Menschenbilder?

Im dritten Kapitel werden »Rollenspezifische Menschenbilder als Schnittstellen zwischen Selbst- und Fremdbildern« diskutiert. Dabei kommt das Bild des Ritters, der Frau und des Beamten zum Tragen. Geboten werden auch hier umfangreiche Zitatsammlungen, die die eigene Analyse nun endgültig ersetzt haben. Der umfangreiche argumentative Gehalt dieser Zitate kann nicht mehr ausgewertet werden. Ähnlich ist es dann im vierten Kapitel (»Der anthropologische Blick«), in dem anthropologische Annahmen in Recht, Politik und Pädagogik diskutiert werden. Es folgen im fünften Kapitel »Menschenbilder mit utopischem Überschuss«, in der französischen Revolution, im Nationalsozialismus und Kommunismus. Es verwundert nicht, dass hier die Bedeutung der Erziehung betont wird – allerdings ohne dass ihre Rolle als solche für die Vermittlung von Menschenbildern herausgearbeitet wird. Schließlich beenden Überlegungen zur Überwindung des Gegensatzes von optimistischen und pessimistischen Menschenbildern im sechsten Kapitel das Buch. Es folgen Varianten des »kommunikationsbedürftigen« und des »-befähigten« Menschen. In beiden Fällen müssen die Beteiligten die hintergründigen Regeln der Kommunikation verinnerlicht haben. Das Buch endet dann mit sehr persönlichen Bemerkungen über »Gemeinwohlverantwortung als Auftrag des Christenmenschen« in Erinnerung an Helmut Simon.

Ziel des Buches ist es zu klären, wie Menschenbilder unser Denken und Handeln bestimmen. Dass sie es tun, wird mittels des vielen Materials deutlich, auch wenn es recht willkürlich ausgewählt zu sein scheint. Mir scheint es denn doch das geworden zu sein, was es nicht werden sollte: ein Menschenbildmuseum mit viel ergänzendem Material. Nimmt man es so zur Hand und nutzt es als hilfreich zur Komplettierung des mangelhaften eigenen Zettelkastens, lohnt es sich. Falls S. jedoch noch einmal die Kraft dazu findet, sollte er das vermisste Schlusskapital noch verfassen. Erst dann würde seine Leistung wirklich deutlich werden.