Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

696-697

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Männlein-Robert, Irmgard [Hg.]

Titel/Untertitel:

Seelenreise und Katabasis. Einblicke ins Jenseits in antiker philosophischer Literatur.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. IX, 443 S. = Philosophie der Antike, 40. Geb. EUR 109,95. ISBN 9783110713152.

Rezensent:

Elis Eichener

Dieser von der Klassischen Philologin Irmgard Männlein-Robert herausgegebene Tagungsband verfolgt das Anliegen, eine Lücke in der Forschung um Seelenvorstellungen zu schließen. Ausgangspunkt stellt die Feststellung dar, dass eine ungebrochene Faszination für das in der antiken Literatur häufig auftauchende Motiv der Seelenreisen zu diagnostizieren ist, eine genauere Bestimmung der Funktionen dieses Motivs nicht nur im literarischen, sondern auch philosophischen Sinne aber noch aussteht. Mit dieser Beobachtung wird ein weites Themenfeld zwischen Hades und Himmel, Ekstase und Vision eröffnet, das von der archaischen Zeit Griechenlands bis in Mittelalter und Neuzeit hinein von Bedeutung gewesen ist, wie Männlein-Robert in ihrem den Band eröffnenden Beitrag ausführt. Insgesamt lassen sich in dem Buch viele interessante Beiträge philologischen, aber auch philosophischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Charakters finden, von denen nicht wenige aus der Feder renommierter deutscher wie internationaler Experten und Expertinnen stammen – exemplarisch sei hier nur der Aufsatz des 2020 verstorbenen Jens Halfwassen genannt.

Das Buch nimmt eine große Spannbreite von Denkern, Vorstellungen und Philosophien von der griechischen Frühzeit bis in die frühe Neuzeit in den Blick. So finden sich Ausführungen zu Pythagoras, Aristophanes und Platon genauso wie Studien zu Cicero, Plotin und Augustinus. Abgeschlossen wird der Band durch einen Beitrag, der das Seelenreisemotiv bei dem Jesuiten Athanasius Kirchner untersucht. Das Schwergewicht des Tagungsbands liegt offenkundig auf der griechisch-römischen Antike. Im Fokus dieser Beiträge stehen oft eher vernachlässigte – und, wie sich beim Lesen des Aufsatzes von Christoph Riedweg zur pythagoräischen Eschatologie zeigt, manchmal auch nur in Spurenelementen rekonstruierbare – Aspekte im Werk der hier behandelten Autoren. Erhellend ist darüber hinaus die enge Verzahnung von Literatur und Philosophie, die immer wieder vor Augen geführt wird. So stellt Alessandro Stavru dar, inwiefern Aristophanes pythagoräische Ideen rezipiert und in theatrale Logik übersetzt. Dadurch wird deutlich, dass sich diese Jenseitsvorstellungen nicht auf bekannte Schlagwörter wie die Reinkarnationslehre reduzieren lassen, sondern sich mit lebendigen und plastischen Bildern verbinden können. Bei Platon liegt naturgemäß viel Interesse auf den mythischen Aspekten seiner Schriften. Mauro Tulli zeigt, auf welche Art und Weise der Philosoph auf Vorlagen von Homer und Hesiod zurückgegriffen hat, um seine eigene Topographie des Jenseits zu entwerfen. Auch Irmgard Männlein-Robert legt in ihrem Beitrag, in dem sie das Verhältnis der Seelen zu den Sternen, also die astronomische Dimension von Platons Seelenverständnis, beleuchtet, Wert auf die literarischen Qualitäten des antiken Philosophen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch der Beitrag von Miguel Herrero de Jáuregui, der die Jenseitsvorstellungen des alten Griechenlands auf die dort imaginierten Vergemeinschaftungsformen – Monarchie, Aristokratie und Demokratie – hin analysiert. Die genannten Texte stehen alle für eine Herangehensweise, die im Grunde genommen den ganzen Tagungsband durchzieht. Bilder, Metaphern und andere literarische Ausdrucksformen werden als zu durchformulierten Konzeptionen gleichwertiges Moment in den komplexen antiken Gedankengebäuden gewürdigt, was durchaus neue Perspektiven eröffnet.

Dass der Tagungsband den Blick über die griechisch-römische Antike hinaus zeitlich wie räumlich weitet, zeigen die Beiträge von Jan N. Bremmer, Dmitrij F. Bumazhnov, Matthias Perkams und Jörg Robert. So zeichnet Bremmer einen gedanklichen Weg des Seelenreisemotivs nach, den er beim Gilgamesh-Epos beginnt, über Plutarch weiterführt und erst bei frühmittelalterlichen Quellen enden lässt. Dieser historische Querschnitt ist aufschlussreich, wird doch sichtbar, inwiefern jüdische und christliche Sichtweisen den Fokus von mythologischen Imaginationen fort auf die Sorge um die Seele hin verschoben haben. Bumazhnow nimmt demgegenüber die ostkirchliche Rezeption des Seelenreisemotivs in den Blick, wofür er das aus dem 6. Jh. stammende, auf Syrisch verfasste »Buch des heiligen Hierotheos« untersucht. Dabei zeigt sich nicht nur der Einfluss des ägyptischen Asketen Evagrios Pontikos, sondern auch der Rückgriff auf manichäische Vorstellungen. Noch weiter nach Osten führt der Beitrag von Perkams, der sich mit der ostsyrischen Tradition im Sassanidenreich auseinandersetzt. Die Beschreibung von Seelenreisen bei Barḥaḏbšabbās, der im persischen Nisibis wirkte, zeigt, inwiefern aristotelische, neuplatonische und biblische Denkmuster und Bilderwelten miteinander verknüpft werden. Lesenswert ist nicht zuletzt der Beitrag von Jörg Robert, der aufgrund des Fokus auf einen Denker des 17. Jh.s ein wenig aus der Reihe fällt, aber eine originelle Deutung der Seelenreise als Vorläuferin der Science-Fiction-Literatur bietet. Es zeigt sich dabei, dass Athanasius Kirchner gewissermaßen an der Schnittstelle zur Moderne steht, spielt die Unterstellung von Fiktionalität in seinem »Iter exstaticum« doch eine wichtige Rolle.

Insgesamt handelt es sich bei dem Tagungsband um eine reiche Fundgrube für die Beschäftigung mit antiken und nachantiken Seelenvorstellungen. Spannend und öfters über gängige Interpretationen hinausgehend ist insbesondere, welche Relevanz der literarischen Qualität von Texten und den dort ausgedrückten Konzeptionen zugesprochen wird. Dieser Zugang zu den Quellen ist durchaus erhellend, weil die falsche Diastase zwischen Literatur und Philosophie aufgelöst wird. Aus theologischer Perspektive ist zudem interessant, inwiefern spätantike und frühmittelalterliche Autoren auf die griechisch-römische Vorstellungswelt zurückgreifen und sie gleichzeitig transformieren. Der Band schließt mit einem index locorum und einem Namensregister, was die intensive Beschäftigung erleichtert.