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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

685-687

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Cesalli, Laurent, u. Gerald Hartung [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Deutschsprachiger Raum 1830–1870. Bd. 1/2.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2023. X, 466 S. = Grundriss der Geschichte der Philosphie. Lw. CHF 200,00. ISBN 9783796546396.

Rezensent:

Christian Danz

Der anzuzeigende Band behandelt den Zeitraum zwischen 1830 und 1870, also etwa zwischen Hegels Tod und der deutschen Reichsgründung. Es ist die Zeit des Vormärzes und der Restauration, aber auch der Abkehr von den romantisch-idealistischen Einheitsmodellen in Folge des Modernisierungsprozesses. Dieser führte in der Philosophie dazu, dass auch sie sich am Ende des 19. Jh.s als Fachwissenschaft etablierte und verwissenschaftlichte. Diesen auch für die Geschichte der protestantischen Theologie spannenden Zeitabschnitt traktieren die sechzehn Paragraphen des vorliegenden Bandes in Form von Einzeldarstellungen von Positionen sowie von Problemfeldern bzw. Diskussionszusammenhängen. Jeder personenbezogene Paragraph bietet kurze biographische Angaben, Überblicke über das Werk, die Lehre sowie die Wirkung. Die problemgeschichtlichen Abschnitte sind in eine Einleitung, einen Überblick über die Debatten sowie die Wirkung strukturiert. Mit umfassenden Bibliographien, welche über Primär- und Sekundärliteratur informieren, enden die einzelnen Präsentationen. Sach- (449–457) und Personenregister (459–466) beschließen den Band.

Eröffnet wird der Band mit Überlegungen von Gerald Hartung zu »System und Geschichte der Philosophie« (1–58). Er zeichnet die Herausbildung der modernen Form der Philosophiegeschichtsschreibung seit Heumann und Brucker bis hin zu Windelband nach. Kenntnisreich und informativ erschließt der Beitrag die Entwicklung der Geschichte der Philosophie im 19. Jh., zeichnet die wichtigsten Philosophiegeschichten sowie der Konstruktionsprinzipien nach, etwa die von Johann Eduard Erdmann (25–27) oder Ernst Kuno Berthold Fischer (27–29). »Die Art und Weise, wie die Geschichte der Philosophie zwischen der nachkantischen und der neukantianischen Phase konzipiert wird, spiegelt die systematischen Grundfragen wie auch die Reflexion auf die Leistungsfähigkeit systematischen Philosophierens.« (54) Damit ist der Rahmen vorgezeichnet, in dem sich die weiteren Ausführungen bewegen. Dem Einfluss Hegels auf die Entwicklung der Philosophie im 19. Jh. sind gleich zwei Paragraphen gewidmet. Zunächst thematisiert Norbert Waszek »Die Hegel-Schule« (59–93) und sodann Christian Thein den Entwicklungsgang »Von Hegel zum Vormärz« (94–124). In beiden Paragraphen werden nahezu dieselben Protagonisten behandelt, nämlich die Schüler Hegels und das Auseinanderbrechen der Schule, wobei beide Autoren deutlich machen, dass die auf David Friedrich Strauß und Karl Löwith zurückgehende Unterscheidung zwischen Links- und Rechtshegelianern verflüssigt werden muss (64). Denn viele der Schüler haben nicht nur »erhebliche Wandlungen durchlaufen«, sondern auch »Frontwechsel« (65) von einem zum anderen Lager vollzogen. Ausführlich werden in beiden Paragraphen die Positionen der Schülergeneration Hegels sowie die Bedeutung von Eduard Gans, die diversen Publikationsorgane der Schule und die Entstehung der Junghegelianer erörtert. Dabei orientiert sich die Darstellung an der Abfolge von religionsphilosophischen hin zu politischen und staatsrechtlichen Kontroversen sowie deren Nachwirkungen auf den weiteren Gang der Philosophie (120 f.). Berücksichtigung finden im Kontext des Vormärz auch die Spätphilosophie Schellings sowie die ambivalenten Anregungen, die von ihr auf die Junghegelianer ausgegangen sind (100–102. 115).

Ludwig Feuerbach thematisiert der von Wolfgang Rother verfasste vierte Paragraph (125–139). In den Fokus der werkgeschichtlich aufgebauten Darstellung tritt Feuerbachs Religionsphilosophie »zwischen (Hegels) spekulativer Religionsphilosophie und (pietistisch geprägter) christlicher Mythologie« (131). Religion werde in seinem Werk als Bestandteil des Wesens des Menschen aufgefasst, die gleichsam durch ihre Kritik zu sich selbst gebracht werden soll. Mit Karl Marx und Friedrich Engels folgt der Übergang von der Kritik der Religion zu der der Gesellschaft (Thomas Meyer, Michael Quante, Tim Rojek, 140–179). Vorgestellt werden in einer werkgeschichtlichen Perspektive grundlegende Schriften von Marx und Engels. Dem »Spekulativen Theismus« gilt der von Friedemann Voigt verfasste Paragraph sechs. Diese Richtung protestantischer Theologie arbeitete eine spekulative Gotteslehre aus, in der – anders als bei Hegel – der Gedanke der Persönlichkeit Gottes stärkeres Gewicht erhielt. Auf diese Weise sollen Absolutheit und Individualität (vgl. 181) versöhnt werden. Wichtige Vertreter dieser Richtung, wie Christian Hermann Weiße (182–185), Richard Rothe (187–189) und andere, werden ebenso vorgestellt wie das zentrale Publikationsorgan dieser Richtung, die Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie sowie deren Nachfolgeorgan, die Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (180 f.). Mit Immanuel Hermann Fichte, dem der Paragraph sieben gewidmet ist, wird ein wichtiger Vertreter des spekulativen Theismus ausführlich vorgestellt (Gerald Hartung, 206–233).

Den »Debatten zur Naturphilosophie« zwischen 1830 und 1870 geht der Paragraph acht nach (234–273). Kristian Köchy bietet in diesem Abschnitt einen prägnanten Überblick über die naturphilosophischen Kontroversen vor dem Hintergrund der Entwicklung der exakten Naturwissenschaften in dieser Zeit und macht deutlich, dass das Vorurteil, naturphilosophische Reflexionen hätten mit dem Ende der Romantik aufgehört oder wären überflüssig geworden, auf Kontroversen im frühen 20. Jh. zurückgeht. In den vielen Disputen über Naturphilosophie geht es unter anderem immer auch »um den möglichen Anwendungsnutzen von Naturreflexionen« (235). Thematisiert werden so diverse Positionen wie die von Eschenmayer (242 f.), Carus (241 f.), Schleiden (247) und anderen. Als Repräsentanten naturphilosophischer Konzeptionen aus der Mitte des 19. Jh.s werden im Paragraphen neun Gustav Theodor Fechner (Wolfgang Rother, 274–291) und im Paragraphen zehn Hermann Lotze (Dirk Stederoth, 292–309) vorgestellt.

Die »Debatten über die Grundlagen der Logik« zwischen 1830 und 1870 erörtert Valentin Pluder (310–334), und die »Rechtsphilosophie zwischen Naturrechtslehre und Philosophie des positiven Rechts« diskutiert Stephan Kirste (335–377). Gegenüber dem Vorurteil des 20. Jh.s, im 19. Jh. habe man nicht an der Logik gearbeitet, stellt Pluder die Komplexität der Debatten in diesem Säkulum vor. Kirste bietet in seinen Ausführungen »eine Kartierung des rechtsphilosophischen Geländes« zwischen 1830 und 1870 »anhand der Dichotomie von naturrechtlichen und positivistischen Rechtsphilosophien« (335). In seinem Beitrag fällt der Einfluss des späten Schelling auf die rechtsphilosophischen Debatten im 19. Jh. auf (337. 352–355). Dem Herbartianismus geht der Paragraph dreizehn »Psychologie und Pädagogik« von Jürgen Oelkers nach (378–409), die Kontroversen über den Materialismus stellt Myriam Gerhard ebenso vor (»Der Materialismus-Streit«, 410–418) wie das Werk von Friedrich Albert Lange sowie dessen Geschichte des Materialismus (419–424). Der Überblick über die Philosophie zwischen 1830 und 1870 schließt mit dem von Martina Sauer verfassten Paragraphen sechzehn zur »Debatte zwischen spekulativer Ästhetik und Ästhetik als Formwissenschaft« (425–447). Ausführlich werden die Positionen von Robert von Zimmermann (433–436) und Friedrich Theodor Vischer (436–441) vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund referiert.

Insgesamt bietet der Band einen ausgezeichneten Überblick über die philosophischen Entwicklungen in Deutschland in der Zeit zwischen dem nachkantischen Idealismus und dem Neukantianismus. Deutlich wird vor dem Hintergrund des Siegeszugs der exakten Naturwissenschaften im 19. Jh. eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Philosophie, der, wie bei Immanuel Hermann Fichte, eine Institutionalisierung der Diskurse in Form von Fachzeitschriften und Fachkonferenzen korrespondiert. Fichtes Sohn war es denn auch, der vom 23. bis 25. September 1847 in Gotha die »erste Philosophenversammlung überhaupt« (208) organisierte und damit die philosophische Kongresskultur initiierte.