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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

676-678

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ernesti, Jörg

Titel/Untertitel:

Friedensmacht. Die vatikanische Außenpolitik seit 1870.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 368 S. Geb. EUR 34,00. ISBN 9783451391996.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Seit dem Erscheinungsjahr des Buches von Jörg Ernesti im Jahr 2022 ist die Suche nach einer »Friedensmacht« hochaktuell, und es zeigt sich, dass es eine solche nicht gibt. Stalins angebliche Sottise »Wie viele Divisionen hat der Papst?«, könnte heute von Putin genauso formuliert werden. Wer nicht die diagnostizierte aktuelle »Faszination für das Papsttum« (17) teilt (und in welchen selbst katholischen Kreisen mag es sie geben?), wird das Buch mit einer gewissen Skepsis lesen, freilich auch mit großem Gewinn: Man hat das Werk eines Autors mit großer Expertise in den Händen, der den Heiligen Stuhl als diplomatische Macht vorstellt, auf vielen Themenfeldern und eben nicht nur dem des »Weltfriedens« agierend.

Das Buch beinhaltet drei Teile, die sich als historische Hinführung zum Ausgangsdatum 1870 (»Die Grundkoordinaten«), Durchgang durch die Papstgeschichte seit 1870 (»Ein Gang durch die Geschichte«) und Systematisierung (»Vatikanische Außenpolitik – eine Standortbestimmung«) charakterisieren lassen.

Der erste Teil umreißt in fünf Teilkapiteln den strukturellen Rahmen, und damit wird auch klar, dass die Päpste formell das diplomatische Parkett als Oberhaupt eines Kleinststaates betreten, sich ihr Einfluss aber faktisch darauf gründet, dass die katholische Kirche jenes organisatorische Netzwerk bildet, das den Einfluss des Völkerrechtssubjekts »Heiliger Stuhl« als einer eigenen Größe begründet und ermöglicht, auch über den Rahmen katholisch geprägter Staaten hinaus. Allerdings, das ließe sich doch auch sagen, ist dieser Einfluss dort gleich Null, wo er nicht geduldet wird, und das gilt mindestens für Russland und China. Die »Soft Power« päpstlicher Politik (24) ist also abhängig von diplomatischem Wohlwollen.

Der zweite Teil ist der eigentliche Sachteil, in dem die These des Buches zur Darstellung gebracht wird. Das vorläufige Ende der weltlichen Herrschaft der Päpste im Jahre 1870 entzog dem Heiligen Stuhl eben nicht seine diplomatische Kompetenz. Hier machte sich das Wohlwollen des Königreiches Italien bemerkbar, das den Einfluss des Papsttums doch nicht einfach ignorieren konnte. Das I. Vatikanische Konzil, der nicht nur deutsche Kulturkampf und der Ultramontanismus zeigten, dass der Katholizismus mehr war als eine Religion, nämlich eine gesellschaftliche und politische Kraft.

Von hier aus schreitet der Vf. die Reihe der Päpste und ihrer politischen und diplomatischen Ambitionen ab. Man lernt zuerst Leo XIII. kennen, einen medienbewussten Kirchenmann, der geradezu Diplomat sein musste, um die Auswirkungen der europäischen Kulturkämpfe und Antiklerikalismen zu begrenzen und die politisch-gesellschaftliche Stellung der katholischen Kirche zukunftsfähig zu machen. Ganz anders aber Pius X.: Er verstand sich als pastoraler Papst. Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich fällt in seine Zeit. Auch wenn er nicht schuld daran war, verstand er es doch nicht, die Folgen zu mildern. Mit Benedikt XV. wurde 1914 ein Papst gewählt, der unter den Umständen des I. Weltkriegs geradezu gezwungen war, sich diplomatisch zu betätigen, aber es faktisch nicht konnte, weil die italienische Regierung kein Interesse daran hatte. Was blieb, waren humanitäre Aktionen. Pius XI. war es dann, der das Wiedererstehen des Kirchenstaates – freilich in kleinem Maßstab –, aber auch die Herausforderungen durch den Aufstieg der europäischen Diktaturen erlebte. Was die mit solchen Mächten abgeschlossenen Konkordate leisten sollten und doch nicht leisten konnten, wird am Beispiel des Reichskonkordats deutlich.

Mit Pius XII. wird der »Diplomatenpapst par excellence« vorgestellt, was er fraglos war, wenn auch in einem bekanntermaßen heute umstrittenen Sinne, gerade was die an ihm hervorgehobene Überparteilichkeit und Vorsicht (122) angeht. Den Hilfs- und Rettungsaktionen steht eben die Frage gegenüber, was geschehen wäre, hätte der Papst nicht geschwiegen (125). Dass man ihn, nicht zuletzt durch seine Rundfunkansprachen, als moralische Stimme wahrnahm, ist vielfach bezeugt.

Der Name Johannes’ XXIII. verbindet sich vor allem mit dem II. Vatikanischen Konzil und der positiven Haltung zu den Menschenrechten und der Religionsfreiheit. In der Zeit des Kalten Krieges kam nun auch die Friedensfrage wieder auf die päpstliche Tagesordnung. Ob aber der Papst wirklich an der Beilegung der Kubakrise Anteil hatte (148)? Die Lösung lag doch darin, dass die amerikanische Seite abrüstete und die sowjetische es ihr gleichtat. Sein Nachfolger Paul VI. war diplomatisch gesehen ein Reisepapst wie auch ein Papst der Konkordate. Konkret versuchte er sich als Friedensstifter im Vietnamkrieg. Wieder einmal zeigte sich dabei, dass päpstliche Appelle nur eine begrenzte Reichweite hatten.

Dass Johannes Paul II. mit seiner »Ostpolitik« durchaus einflussreich war, lag doch letztlich daran, dass er aus Polen stammte und sich die polnische Bevölkerung mehrheitlich als katholisch, auch in einem nationalen Sinne, verstehen konnte. In diesen Rahmen passten auch päpstliche Äußerungen zur Menschenrechtsthematik und zur Religionsfreiheit. Dass der Papst die mörderischen Kleriker in Ruanda während der Massaker an den Tutsi nicht zur Ordnung rief (208), gehört dann wieder in die Geschichte des päpstlichen Schweigens.

Mit Benedikt XVI. kommt der »Übergangspapst« oder »Theologenpapst« (217) in den Blick, dem diplomatisches Ungeschick attestiert wird. Freundlicher fällt das Urteil über Papst Franziskus aus, von dem es heißt, er werde »in der Öffentlichkeit als ein großer Neuerer erlebt« (224). Davon kann wohl kaum mehr die Rede sein und auch nicht davon, dass die Religionen, wie Franziskus es propagiert, einen wirksamen Beitrag zum Weltfrieden leisten können (226).

Die »Standortbestimmung« am Schluss des Buches fällt kurz aus. Das Papsttum, so die Summe, hat sich seit 1870 als »moralisch-politische Größe«, als »eine Art Weltgewissen« profiliert (248). Das ist in der Selbst- und mancher Fremdwahrnehmung sicher richtig. Und gewiss: Es gab viele Vermittlungsversuche, Bemühungen, Appelle und Treffen mit politischer Prominenz, und manches hat sicher auch Wirkung gehabt, aber vieles ist eben auch nicht gehört worden und gescheitert. Die Fülle der Initiativen ist beeindruckend, beeindruckend ist auch der diplomatische Apparat des Heiligen Stuhls, ebenso die technisch mögliche mediale Reichweite päpstlicher Äußerungen. Allerdings weist der Vf. ja selbst darauf hin, dass es keinen homogenen Katholizismus (mehr) gibt. Wer hört also auf den Papst?

Die Frage ist letztlich nicht, wie viele Divisionen der Papst hat, sondern wie viele Divisionen seinetwegen zuhause geblieben oder wieder umgekehrt sind, anstatt andere mit Krieg zu überziehen. Die in dem Buch immer wieder betonte Überparteilichkeit erscheint in den Zeiten des russischen Krieges gegen die Ukraine, aber auch im Rückblick auf die Konflikte des 20. Jh.s fatal. Die Vermischung von Religion und Politik führt eben auch zu einer Unschärfe im politischen Urteil, das Geistliches und Weltliches nicht unterscheidet. Wenn die Menschen rechtschaffen wären und gern Frieden hielten, so wäre Kriegführen die größte Plage auf Erden, sagt Luther. Aber so ist es eben nicht, und deshalb ginge es vielleicht darum, nicht »die Stimme gegen kriegerische Konflikte« zu erheben (250), sondern Täter und Opfer zu unterscheiden und die Mörder und Vergewaltiger beim Namen zu nennen.