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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

669-671

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Melanchthon, Philipp

Titel/Untertitel:

Melanchthon deutsch VII. Aus Melanchthons Alltag. Hg. v. M. Beyer, C. Domtera-Schleichardt, A. Kohnle u. S. Rhein.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 456 S. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783374073429.

Rezensent:

Johannes Schilling

Es ist erfreulich und ein Glück für alle Beteiligten, wenn ein Projekt abgeschlossen werden kann. »Melanchthon deutsch« startete, herausgegeben von Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg, mit den ersten beiden Bänden im Melanchthon-Jubiläumsjahr 1997. Wartenberg verstarb 2007, seither haben die beiden verbliebenen Herausgeber unter Beteiligung zahlreicher Mitwirkender das Werk bis zum vorliegenden letzten Band gebracht – eine bemerkenswerte Leistung.

Es handelt sich in dieser Sammlung um das erste größere Übersetzungsprojekt in Sachen Melanchthon seit einer dreibändigen Ausgabe Friedrich August Koethes (1781–1850), die unter dem Titel »Philipp Melanchthon’s Werke in einer auf den allgemeinen Gebrauch berechneten Auswahl« mit einer ausführlichen Einleitung 1829/30 bei F. A. Brockhaus in Leipzig erschienen war. Zwischen Koethes Ausgabe und der vorliegenden lagen mehr als 150 Jahre. Für absehbare Zeit dürfte daher in Sachen mehrbändiger Melanchthon-Übersetzungen Ruhe herrschen. Denn die vorliegende Ausgabe übertrifft diejenige Koethes in Umfang und Qualität, sie »versteht sich als Leseausgabe für ein interessiertes Publikum, das nicht auf den Kreis der Fachkolleginnen und Fachkollegen beschränkt sein soll. […] Die meisten Texte sind Erstübersetzungen aus dem Lateinischen bzw. aus dem Frühneuhochdeutschen […]; Ziel der Bände ist es, »mit der Leseausgabe »Melanchthon deutsch« ein Gesamtbild des »Lehrers Deutschlands« zu entwerfen« (7). Übersetzungsgrundlagen sind, wo vorhanden, Melanchthons Briefwechsel (MBW), zudem das Corpus Reformatorum (CR) und die seit 1546 erschienenen Wittenberger Scripta publice proposita (SPP).

Während die Stücke in den Bänden 1–6 verschiedenen Bereichen von M.s vielfältigen Aktivitäten galten: Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik, Theologie und Kirchenpolitik, seinen Beziehungen und Wirkungen in und nach Europa, seinen Auslegungen des Römerbriefs als eines für die reformatorische Theologie grundlegenden Textes, schließlich seinen Sonntagsvorlesungen und Anekdoten, ist dieser letzte Band M.s Alltag gewidmet. Er enthält 102 Texte unterschiedlicher Länge und Gattung, nicht in chronologischer, sondern in sachlicher Gliederung. Unter der Überschrift »Mensch und Familie« werden Selbstzeugnisse M.s versammelt, solche über seine Frau Katharina, die Tochter Anna und den Sohn Philipp sowie die Hausgemeinschaft – hier ragt M.s Klage über den verstorbenen Famulus Johannes Koch (Nr. 16) heraus –, aber auch Träume und Reflexionen über Sterben und Tod. Nr. 3 bietet bisher nicht edierte und noch nie übersetzte Geschichten, die M. in seinen Vorlesungen erzählt hat, und auch M.s Testament (Nr. 22) findet sich hier.

Ein zweites Kapitel ist »Glaube und Frömmigkeit« gewidmet. Eröffnet wird es mit Gebeten, individuellen (Nr. 26 ein tägliches Gebet M.s in einem griechischen Distichon) und liturgischen Kirchengebeten, es folgen Tage- und Festgedenken, Katechese, Predigt und Exegese, religiöse Dichtung und Texte zu Seelsorge und Trost. Sie zeigen allesamt, wie sehr M.s persönliches Leben und seine Arbeit auch auf die praxis pietatis zielte. Ein Programm zum Michaelisfest (Nr. 35) zeugt von der Bedeutung von Engeln in der zeitgenössischen Frömmigkeit.

Das Kapitel »Kollegen und Freunde« kennt zwei Hauptpersonen: Luther und Joachim Camerarius, dem M. etwa seine Meinung über Luthers Hochzeit (Nr. 66) schreibt, zudem weitere »Freunde«: Bugenhagen, Jonas und Cruciger sowie die »Schola Witebergensis«. Einmal datiert M. einen Brief auf den 31. Oktober (Nr. 37; MBW 7816) und macht damit sein Verständnis der epochalen Bedeutung dieses Tages deutlich. Und die Rede über Bugenhagens Leben (Nr. 76) – der umfangreichste Text in diesem Band – beleuchtet dessen Stellung innerhalb der Reformationsgeschichte.

Sehr ausführlich geraten ist das letzte Kapitel »Studenten«, in dem es um »Universitätsreform, studentisches Verhalten und Fehlverhalten«, um »Studienalltag, philosophische und theologische Ausbildung« und um »Studentenförderung« geht. Es enthält Gutachten und Empfehlungsschreiben für Studenten, überdies einige schwergewichtige theologische Texte, die Widmungsvorrede zu den Loci theologici von 1541 (Nr. 90) und Thesen über den Unterschied von Gesetz und Evangelium von 1550 (Nr. 93).

M.s lateinische Texte sind anspruchsvoll, und es war nicht immer leicht, sie angemessen ins Deutsche zu übersetzen – M. war mindestens zweisprachig (wenn man seinen Gebrauch des Griechischen einbezieht, dreisprachig, wie man etwa an Briefen an seinen Freund Camerarius sehen kann), und auch das alltägliche Leben fand sprachlich lateinisch statt. Selbst wenn man den Wortlaut verstanden und sprachlich korrekt übersetzt hat, kann es geschehen, dass die Sache nicht erfasst ist. Eine Richtigstellung: In der Todesanzeige für Jakob Bairreuter (Nr. 84) werden die Studenten aufgefordert, sich »in vico Cyprico« einzufinden. Gemeint ist aber nicht das nicht identifizierte »Dorf Cyprium« (324), sondern die Kupfergasse (jetzt: -straße) in Wittenberg – für Ortskundige ein plausibler Versammlungsplatz. – Schließlich: Leider ist der Name Melanchthon innerhalb des Buches nicht immer korrekt getrennt.

Ein Anhang umfasst neben allgemeinen Abkürzungen und Abkürzungen biblischer Bücher ein Gesamtinhaltsverzeichnis der Bände 1–7 der Ausgabe, eines aller Texte in den sieben Bänden nach Gattungen und ein Namensregister (für diesen Band). Gerade diese beiden Verzeichnisse sind von besonderem Wert. Sie vergegenwärtigen noch einmal im Zusammenhang die Schwerpunkte von M.s Lebensarbeit, die Vielfalt seiner philologischen, philosophischen, theologischen und kirchenpolitischen Aufgaben und Herausforderungen, die europäische Reichweite seiner Wirkungen und in allem seine Persönlichkeit, und sie sind zugleich eine eindrucksvolle Leistungsbilanz des Gesamtunternehmens.

Ein wirklicher Coup ist es, dass es gelang, den Altmeister der Melanchthonforschung, Heinz Scheible, für die Übersetzung des großen Selbstzeugnisses M.s am Eingang des Bandes zu gewinnen. In dieser Vorrede zu einer Ausgabe seiner Werke schildert M. seinen Bildungsgang und sein Verhältnis gegenüber dem Gemeinwesen und der Kirche – eine zusammenhängende vergleichbare Selbstauskunft M.s gibt es nicht. Mit Recht also steht dieser Text an der Spitze des Bandes.

Vorhaben von langer Dauer sind in den gegenwärtigen geschwinden Zeiten rarer geworden. Übersetzungen lateinischer (und auch frühneuhochdeutscher) Texte werden aber angesichts weiter zurückgehender Lateinkenntnisse immer nötiger werden. Dass Übersetzerinnen und Übersetzer über mehr als 25 Jahre dem Projekt treu geblieben sind und/oder junge Nachwuchswissenschaftler zur Mitarbeit gewonnen werden konnten, ist ein großes Verdienst der Herausgeber, aber auch des Verlags, der mit langem Atem seinen Anteil am Zustandekommen des Projekts hat. Die Herausgeber dieses Bandes haben zudem mit der Auswahl der Stücke, der Bearbeitung der eingereichten Manuskripte, der Einleitungen und der Anmerkungen eine Herkulesarbeit vollbracht, die allen Respekt verdient.