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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

666-669

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Knorn, Bernhard

Titel/Untertitel:

Theologie in Umbrüchen. Jesuitenscholastik des 16. Jahrhunderts im Dienst der Reform.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2023. 421 S. = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 178. Geb. EUR 64,00. ISBN 9783402116173.

Rezensent:

Roland M. Lehmann

Die »Zweite Scholastik« ist eine Strömung innerhalb der katholischen Theologie mit Höhepunkt im 16./17. Jh. Ihre Vertreter setzen sich intensiv mit den Ideen des Renaissance-Humanismus, der Reformation und des Frühbarock auseinander. Zunächst kommentierten sie die »Summa theologiae« von Thomas von Aquin, später behandelten sie theologische Fragen in eigenen Traktaten. Die Protagonisten waren hauptsächlich Dominikaner und Jesuiten. Es gab verschiedene reformorientierte Richtungen und Schulen.

In seiner Habilitationsschrift untersucht Bernhard Knorn, selbst Jesuit, die Summenkommentare dreier ausgewählter Vertreter der »Zweiten Scholastik« zwischen dem Ende des Trienter Konzils 1563 und dem frühen 17. Jh.: Francisco de Toledo, Gregorio de Valencia und Gabriel Vásquez. Diese Studie verbindet historische Kontextualisierungen mit Quellenvergleichen und systematisch-theologischen Erwägungen.

Nach dem einleitenden Kapitel widmet sich der Autor zunächst dem theologiegeschichtlichen Kontext im Übergang zur Neuzeit. Den Beginn der »Zweiten Scholastik datiert K. bereits im frühen 15. Jh. mit der Verteidigung des Aquinaten durch Johannes Capreolus (1409). Die zweite Generation des Jesuitenordens ab den 1560er Jahren, auf die sich K. anhand der drei Theologen konzentriert, pflegte die »Normalform« (36) der Theologie anstatt sich kontroverstheologischen Fragen in Auseinandersetzung mit der Reformation zu widmen. Hierzu werden die drei untersuchten Theologen biografisch vorgestellt. Das Kapitel endet mit systematisch-theologischen Erwägungen zum Begriff der »Zweiten Scholastik«. Die Bezeichnung »Nachtridentinische Theologie« wird aufgrund des geringen Einflusses des Konzils abgelehnt. Die Kennzeichnung »Spätscholastik« verbindet der Autor mit den Konnotationen des Abstiegs (69). Der Ausdruck »Schule von Salamanca« wird der Strömung K. zufolge wenig gerecht, da Reformen auch von anderen Schulen ausgingen. Weitere Titulierungen wie »neuzeitlicher Thomismus« oder »Renaissance-Thomismus« hält K. für problematisch, da eine freiere Thomasinterpretation zu beobachten sei. Deshalb unterscheidet K. lieber zwischen »Erster Scholastik« seit dem 11. Jh. und »Zweiter Scholastik«, die mit der Neuzeit im 15. Jh. einsetzt, gefolgt vom »Neuthomismus« des 19./20. Jh.s.

Das dritte Kapitel vergleicht das Theologieverständnis des Aquinaten mit denen der drei Kommentatoren. Die Jesuiten bieten in ihren Kommentaren eigenständige Ausführungen in Form von Disputationen, im Gegensatz zu reinen Literal-Kommentaren oder Glossen. Dabei wird das Werk »De locis theologicis« des Dominikaners Melchior Cano (1509–1560) rezipiert. Thomas unterscheidet zwar zwischen eigentlichen (Schrift und Traditionen) und systemfremden Autoritäten (Vernunft) (proprii und extranei), ohne dies aber genauer zu klassifizieren (103). Cano differenziert dies aus in sieben eigentliche Autoritäten (1. von Gott als Autor offenbarte Heilige Schrift, 2. Tradition Christi und der Apostel, 3. katholische Kirche im Sinne der Gesamtheit aller Gläubigen, 4. Konzilien, 5. Apostolischer Stuhl, 6. frühe Heilige und 7. scholastische Theologen) und drei uneigentliche (8. Vernunft, 9. Philosophen und 10. menschliche Geschichte). Die Summenkommentatoren nehmen dieses Schema mit verschiedener Schwerpunktsetzung auf. Aus seiner Rekonstruktion zieht K. drei systematische Schlüsse. Erstens ist damit eine differenzierte Methodologie entworfen worden, die durch die dicta-probantia-Methode der Neuscholastik wieder »verkürzt« (115) wurde. Zweitens ist K. zufolge eine solche Methodologie der jüngeren Neuscholastik überlegen, da sie keine Trennung von positiver und spekulativer Theologie vornimmt, was der Neuscholastik häufig vorgeworfen wurde (116). Drittens sieht K. bei Vázquez das Geschichtswissen im Kontext lehramtlicher Aussagen aufgewertet.

Im vierten Kapitel wird die Gotteslehre untersucht. Thomas gliedert in Fragen zur Wesenheit, zu den Personen und dem Schöpfungswirken Gottes. Während der Aquinat die Erkenntnis Gottes durch die menschliche Vernunft »aus sich heraus« (per se notum) für möglich hält, sehen die Kommentatoren dies kritischer und hinterfragen die Gottesbeweise. Diskutiert wird die thomistische Position einer möglichen Rede von Gott aufgrund der Analogie zwischen Gott und Sein (analogia entis). In der »Summa theologiae« ist die Vorstellung bereits vorhanden, wenngleich sie Thomas erst später ontologisch entfaltet hat (137). Dagegen steht die scotistische Position der Eindeutigkeit zwischen Begriff und Bezeichnung (Univozität). Die Kommentatoren versuchen zwischen beiden Positionen zu vermitteln, indem Toledo die Analogie als »Proportionsanalogie« (139) deutet, Gregoria de Valencia als »Attributionsanalogie« (140) bestimmt, Vázquez den Analogiebegriff meidet, aber auch die Position der Univozität ablehnt (ebd.). Thomas geht von einem natürlichen Verlangen des Menschen nach der Schau Gottes aus (desiderium naturale), die allerdings nicht, wie die Mystik es behauptete, unmittelbar durch den Menschen erreicht werden könne, sondern deren Erfüllung von Gott abhänge. Die drei Jesuiten entsprechen der thomistischen Auffassung und versuchen, das Verhältnis von natürlichem Verlangen, prinzipiellem Können des Menschen und allein gnadenhafter Verwirklichung zu klären (149). Insgesamt sieht K. eine durch die Reformation verursachte Verschiebung der Themen von der Gottesfrage hin zur Frage nach der Reichweite der menschlichen Vernunft und Freiheit (162 f.).

Das fünfte Kapitel widmet sich dem Verhältnis von Freiheit und Gnade. K. plädiert hier für einen unverstellten Blick auf die Gnadenlehre der frühen Jesuitentheologen, die zumeist durch eine neuscholastischen Brille betrachtet werde (179 f.). Dabei richtet K. den Blick auf die Übereinstimmungen zwischen den Kommentatoren und dem Zeitgenossen Luis de Molinas.

Die Christologie ist Zentrum des sechsten Kapitels. Thomas entfaltet die spekulative Christologie (Inkarnation, Zwei-Naturen-Lehre) und dann die Mysterien des Lebens Jesu (z. B. Empfängnis, Jungfrauengeburt, Beschneidung). Während Scotus und Ockham den Mysterien Jesu weniger Beachtung schenken, zeigt sich bei den Jesuiten hier (218) ein neu aufkommendes Interesse. Darin zeigt sich nach K. eine scholastisch gewendete spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit (232). Ein Anliegen dieser Zeit war es, die Mariologie auszubauen und zu systematisieren (240). Im supranaturalistischen Sinn wird die Körperlichkeit des Auferstandenen und seine Himmelfahrt betont (246). Wenngleich auch noch den damaligen Kommentatoren das methodische Handwerkszeug einer historisch-kritischen Betrachtung des Lebens Jesu fehlte, sieht K. in dieser »Öffnung der scholastischen Theologie hin zum Besonderen« (253) einen ersten Schritt zur historischen Forschung.

Im siebenten Kapitel wird der Kirchenbegriff erörtert. Thomas entfaltete in seiner »Summa theologiae« keine zusammenhängende Ekklesiologie, weswegen einzelne Äußerungen der Kommentatoren vom Autor zusammengetragen werden müssen. Hier ergibt sich der heikelste Punkt in der kontroverstheologischen Auseinandersetzung mit den Reformatoren. So bezeichnet Toledo auf der einen Seiten die Anhänger der Reformation als »Häretiker«, auf der anderen Seite werden sie aber noch als – wenngleich unvollkommene – Glieder der Kirche angesehen, weil sie immer noch durch die Taufe mit der Kirche verbunden sind. Die wahre Kirche wird bei Toledo auf die sichtbare (römische) Kirche bezogen, um sich von der »Tendenz der Verinnerlichung des kirchlichen Lebens«, wie sie bei Martin Luther vermutet wird, abzugrenzen (277). Dabei ist die Anerkennung des Papstes das ausschlaggebende Moment (279). Da aber neben dem Papst auch andere Bezeugungsinstanzen erörtert werden, sieht der Autor darin kein »papst- oder autoritätsfixiertes Modell der Kirche« (281), obwohl die folgenden Ausführungen zur Unfehlbarkeit des Papstes zumindest bei Toledo und Valencia, selbst bei der wohlwollendsten Lesart, diesem Urteil widersprechen (286–292). Als Vásquez mit anderen Theologen in einer Denkschrift die päpstliche Autorität infrage stellte, setzte die spanische Inquisition ihn immerhin unter Hausarrest (294).

Das achte Kapitel bietet einen Ausblick, ob die gewonnenen Erkenntnisse als Vorbild der heutigen Theologie dienen könnten. In vier Durchläufen rekonstruiert der Autor zuerst Auffassungen aus der jüngeren Theologie, um Konvergenzen mit den Kommentatoren aufzuzeigen. Der erste Durchlauf bezieht sich auf den Denkstil. K. bezeichnet ihn als »diskursiven Stil«, den er zwischen einem kerygmatischen Ansatz und der Korrelationsmethode einordnet. Im zweiten Durchlauf hebt K. die Übereinstimmungen hervor, die sich aus dem Klasssikerbegriff des Theologen David Tracy (geb. 1939) ergeben (346). Demnach besitzt ein Klassiker einen Bedeutungsüberschuss, der zu jeder Zeit neue Interpretationen erlaubt und Menschen zu verschiedenen Zeiten in den Bann zieht (342). Hinsichtlich des Geschichtsverständnisses wird im dritten Durchlauf auf die Geschichts-Methodologie Bernhard Lonergans zurückgegriffen. Dabei sieht K. hier eine Mitte zwischen einer in Pluralismus aufgehenden positiven und einer geschichtsvergessenden spekulativen Position (362). Der vierte Durchlauf diskutiert verschiedene historische Einordnungen der Summenkommentatoren, wie sie der jesuitische Historiker John W. O’Malley oder der Historiker Juan Antonio Senent de Frutos vornehmen.

Mit der Untersuchung schließt K. eine wichtige Lücke der Theologiegeschichte. Ihm gelingt es, die Positionen der Summenkommentatoren präzise zu beschreiben und Kontinuitäten sowie Diskontinuitäten in der Thomas-Rezeption aufzuzeigen. Hier ist ein Meister der Darstellung am Werk! Allerdings überzeugt K. nicht immer, wenn er die Bedeutung jener frühneuzeitlichen Jesuiten-Theologen für die Moderne hervorhebt.

Auch wenn im Einzelnen die Kommentatoren von Thomas abweichen, so bleibt m. E. die Fixierung auf den Aquinaten so vorherrschend, dass die Innovationskraft weitaus geringer ausfällt, als K. es wahrhaben möchte. Warum werden kleinste Abweichungen von der Lehrmeinung des Thomas bereits als innovativ gefeiert? Urteile wie »eine erstaunlich moderne Hermeneutik der Geschichte für die Theologie« (113) oder das Erblicken einer »Symboltheorie« bei Vázquez (165) erscheinen fragwürdig. Auch die Meinung, das »Ergründen der biblischen Geschichte könnte durchaus auf einen ersten Schritt zur historischen Erforschung des Lebens Jesu hindeuten« (253), scheint übertrieben, wenn es den Kommentatoren eigentlich um die Rechtfertigung von Marias Empfängnis und der Jungfrauengeburt ging. Am deutlichsten knirscht es beim Versuch, in der Ekklesiologie die Papst- sowie Autoritätsfixierung zu relativieren und stattdessen das Innovative der Ekklesiologie hervorzuheben (281). Auch die Epochenunterscheidung in »Erste« und »Zweite Scholastik« mag vielleicht aus Sicht innerkatholischer Theologiegeschichtsschreibung einleuchtend sein, aber hat Nachteile gegenüber dem Drei-Phasen-Schema »Früh-, Hoch- und Spätscholastik«. In der Kennzeichnung »Spät« muss ja nicht die Konnotation »Abstieg« mitschwingen, sondern sie kann auch als »Reifegestalt« verstanden werden. Außerdem birgt das Zweier-Schema die Gefahr, den Thomismus gegenüber anderen Strömungen normativ zu priorisieren. Dass das Zweier-Schema seine Grenzen hat, zeigt sich auch daran, dass K. immer wieder in die alte Diktion zurückfällt (»hochscholastischen«, 95, »Barockscholastik«, 158, »Hochscholastik«, 166). Auch wenn das Anliegen K.s weniger die Rekonstruktion der kontroverstheologischen Debatten war, so sind dennoch die protestantischen Positionen meist sehr verkürzend und klischeehaft dargestellt. Der unfreie (eigentlich »geknechtete«) Wille bei Luther (211) ist keine allgemeine Ablehnung der Willensfreiheit, sondern beschreibt das Schicksal menschlicher Freiheit, sich religiös in Aporien zu verstricken. Die Vernunftkritik Luthers bezieht sich nicht auf die Vernunft generell, sondern allein auf ihre kalkulierende Tätigkeit im Abwägen guter Werke zum Empfang der Gnade (127). Bei der Zitierung Toledos, Lutheraner würden den äußeren Kult, die Wirksamkeiten der Sakramente und alle positiven Gesetze ablehnen sowie allein den inneren Geist zur Glaubensregel erheben (277 f.), wäre eine Richtigstellung K.s wünschenswert gewesen, da nichts davon zutrifft.

Diese Kritikpunkte sollen aber keinesfalls die große und zutiefst anerkennenswerte Leistung K.s schmälern. Die fulminante Studie gibt einen tiefen Einblick in die scholastischen Debatten im Übergang vom 16. zum 17. Jh. Die Untersuchung kann zu Recht als Meilenstein innerhalb der frühneuzeitlichen Scholastik-Forschung angesehen werden.