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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

647-649

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens, Nicklas, Tobias, and Joseph Verheyden [Eds.]

Titel/Untertitel:

Gospels and Gospel Traditions in the Second Century. Experiments in Reception. In coop. with K. Simunovic.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2019. XIV, 368 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 235. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110540819.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Um die Rezeption von Evangelien und Evangelientraditionen im 2. Jh. auszuleuchten, liegen uns nur recht wenige Quellen vor; Vieles muss erschlossen werden. Der Aufsatzband bietet zwölf Beiträge, die auf eine Konferenz in Leuven vom 15. bis 17. Dezember 2016 zurückgehen, wie man aus der Einführung durch die Herausgeber erfährt (IX–XIII). Der Band will die im 2. Jh. vorhandene Vielfalt von Evangelienüberlieferungen würdigen, ohne den Blickwinkel auf die vier jetzt im Neuen Testament zu findenden Evangelien zu verengen, und vermeidet die Unterscheidung »kanonisch«/»apokryph« zugunsten von »Evangelien und Evangelienüberlieferungen«. Die Beiträge untersuchen, wie einzelne Zeugen (Ignatius, Basilides, Herakleon, Markion, Justin, Irenäus) oder Texte (Epistula Apostolorum, Thomasevangelium, Philipperevangelium) mit Evangelientraditionen umgehen.

James K. Elliott befasst sich mit Papyrushandschriften, die aus dem 2. Jh. stammen oder noch stammen könnten (1–26). Viele erhaltene Papyri aus dieser Zeit sind Einzelblätter, so dass nicht gesagt werden kann, ob sie eines oder mehrere Evangelien enthielten. Immerhin: Papyrus 45 (3. Jh.) bietet alle vier Evangelien (5). Papyrus 75 (meist um 200 datiert, nach E., Anm. 1 und S. 16, 3. Jh.) liest nach Lk 24,53, in neuer Zeile Unterschrift »Evangelium | nach Lukas«, Freizeile; Überschrift »Evangelium | nach Johannes«, neue Zeile beginnt mit Joh 1,1. (6). Dass dieser Übergang auf einem Papyrusblatt gut lesbar zu finden ist, lässt sich in der digitalen Veröffentlichung gut einsehen (Pap. Hanna 1, olim: Bodmer 13/14, 2A 8r). Die überwiegend in Einzelblättern erhaltenen Papyri lesen zwar (von Pap. 45 und 75 abgesehen) nur ein Evangelium. Ob sie aus Mehrevangeliensammlungen stammen oder nicht, lässt sich aus diesen Einzelblättern nicht belegen oder widerlegen, weil Anfang und Ende der bezeugten Evangelien fehlen (6). Richtig (und bekannt) ist jedenfalls, dass keiner der Papyri die später kanonisch gewordenen Evangelien mit apokryphen (»evangelienverwandten Texten«) mischt, also etwa Joh und EvThom verbindet (8 Anm. 14). Den einschlägigen Aufsatz von Charles Hill: A Four-Gospel Canon in the Second Century, Early Christianity 4, 2013, 310–334, diskutiert E. nicht.

Giovanni Bazzana untersucht Einzelstellen von Klemens Al. und dem 2Klem, die Jesusworte enthalten, die nicht aus den kirchlichen Evangelien bekannt sind (»Agrapha« 27–43). Klemens bietet z. B. zwei unterschiedliche Abschlüsse zur Zachäus-Geschichte (Lk 19). Solche Abweichungen könnten der mündlichen Überlieferung entstammen, die – wie bei Papias – der schriftlichen Überlieferung beigeordnet wurde (42 f.).

John Kloppenborg vergleicht die Zusammenstellung von Platonüberlieferung durch Alkinoos mit denen des Justin (45–80). Im Ergebnis bringt dieser Vergleich wenig.

Paul Foster stellt fest, dass Ignatius sicher Mt kannte, aber wohl nicht unter der Überschrift »Evangelium«. Er verwendet den Ausdruck »Evangelium« zwar öfters, bezieht sich aber damit nicht auf ein Schriftstück (81–106).

Francis Watson untersucht die Epistula Apostolorum (107–128). W.s Veröffentlichungen zur Evangelienüberlieferung bekommen in diesem Text aus dem 2. Jh. eine weitere Absicherung (Gospel Writing, 2013; The Fourfold Gospel, 2016): EpAp stellt die Überlieferungen, die es den kirchlichen Evangelien entnimmt, als die Überlieferung der elf Jünger dar. Der Aufsatz ist eingegangen in W.s Monographie zur EpAp (Kap. 3, in: An Apostolic Gospel: The Epistula Apostolorum in Literary Context, MSSNTS 179, Cambridge 2020).

Daniel A. Smith behandelt das für Markion anzunehmende Evangelium (129–174). S. befasst sich insbesondere mit der These M. Klinghardts, der meint, das durch Markion edierte Evangelium (»EvMarkion«) sei älter als die uns vorliegenden Evangelien des Mk und Lk. Gegen Klinghardt weist S. m.E. überzeugend nach, dass Mk in der uns erhaltenen Form älter ist als EvMarkion. Durch eine hochspekulative Aufteilung des Stoffes, der uns in Lk erhalten ist, will S. die Überlieferungslage neu sortieren. Markion habe einen uns verlorenen Protolukas zu seinem Evangelium umgearbeitet. Dann erst sei Protolukas zum uns erhaltenen Lk überarbeitet worden (soweit mit Klinghardt). Die sehr viel einfachere Lösung, Markion habe Lk beschnitten und erst so das EvMarkion geschaffen, hat für S. (wie für Klinghardt) den »Makel«, dass sie von Irenäus im ausgehenden 2. Jh. propagiert wird. Hier wird dem Kirchenvater fast zwanghaft Fehldarstellung unterstellt.

Katharina Greschat befasst sich mit den Evangelientraditionen, die Justin voraussetzt (175–192). Statt inhaltlicher Auseinandersetzung begnügt sie sich recht oft mit dem Hinweis »vgl.« in den Anmerkungen. So lässt sie die im Zusammenhang wichtige Frage offen, ob Justin unsere Evangelien voraussetzt und frei rezipiert/kombiniert oder uns verlorene evangelienähnliche Texte kennt und genau aufnimmt (178 Anm. 19). Das führt nicht weiter.

Jens Schröter stellt das Thomasevangelium vor (193–216). Dieses koptisch aus den Nag Hammadi-Funden bekannte Werk bietet eine individualisierende oder platonisierende Neuinszenierung von Worten Jesu. Enno Edzard Popkes einschlägige Arbeiten dazu wären m.E. ausdrücklicher Diskussion würdig.

Bernhard Mutschler beschreibt im Wechsel von Einzelbeispielen und übergreifenden Beobachtungen die Schrifthermeneutik des Irenäus (217–252). Dass etwa Irenäus den durch Textzeugen nachweislich erst nachträglich an Mk 1,1–16,8 angehängten Zusatz Mk 16,9–20 als Abschluss des Mk voraussetzt, zeigt, dass schon länger vor Irenäus ein Nebeneinander der Auferstehungsberichte ermöglicht wurde – darauf zielen diese zwölf Verse (s. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, 1999, 279–286).

Hugo Lundhaug (253–276) interpretiert das Philipperevangelium, das seiner Meinung nach aus dem vierten oder fünften Jahrhundert stammt (266, Anm. 65). Für den Rahmen des Bandes ist sein Beitrag dadurch eine Themenverfehlung, soviel auch aus seinem Beitrag zum EvPhil zu lernen ist.

Christopher M. Tuckett fragt nach der Jesusüberlieferung bei einzelnen später als häretisch eingeordneten Zeugen des 2. Jh.s (277–310). T. zeigt überzeugend, dass die verhandelten Überlieferungen nicht etwa vorsynoptische oder vorjohanneische Überlieferungen benützen, sondern »unsere« Evangelien frei verwenden (285.291). Einzelne, aus den Funden von Nag Hammadi bekannte Schriften (2LogSeth, NHC 7/2; ApcPtr, NHC 7/3) polemisieren sogar gegen Joh (299–307). Diese schwer datierbaren Schriften (3. Jh.?) setzen die Kenntnis der Mt/Lk/Joh bei ihren Lesern voraus.

Den Begriff »Neuinszenierung« schlägt Tobias Nicklas für den freien Umgang mit den Evangelienstoffen im 2. Jh. vor (311–330). Eine Neuinszenierung beschreibt in der Theaterwelt die Freiheit, die sich bis heute Regisseure gegenüber ihren Vorlagen erlauben. Wichtiger als ein allgemeiner Ausdruck für den Umgang ist m. E. die genaue Beschreibung des jeweiligen Umgangs. »Neue« Inszenierungen sind nur von den vier später kanonisch gewordenen Evangelien überliefert. Kein Zeugnis inszeniert oder kommentiert eine »evangelienverwandte Schrift« »neu« wie etwa das EvThom (mit Tuckett 286).

Kongressbände zielen auf eine hochspezialisierte Leserschaft und erhalten m. E. ihre Berechtigung zur Veröffentlichung, wenn es den Beiträgen gelingt, neue Argumentationslinien zu eröffnen. Dies sollte in einem Diskurs mit der neueren einschlägigen Forschung passieren. Zur Herausbildung der Vierevangeliensammlung liegen allein aus den letzten 25 Jahren mehrere Monographien vor: Chronologisch geordnet sind dies meine Arbeit (s. o., 1999), Martin Hengel (The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ, 2008; erweiterte dt. Version: WUNT 224, 2008), Charles E. Hill (Who Chose the Gospels?, 2010) und Francis Watson (s. o., 2013/2016). Watson ist im Band vertreten und verweist auf seine Arbeiten. Die Auseinandersetzung mit den drei anderen Monographien fällt weitgehend aus. Insgesamt vermehren die Beiträge die Veröffentlichungen zum Thema, vertiefen sie aber kaum.