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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

629-632

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Röhrig, Meike J.

Titel/Untertitel:

Innerbiblische Auslegung und priesterliche Fortschreibungen in Lev 8–10.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 277 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 128. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161606861.

Rezensent:

Christoph Berner

Die im Rahmen des DFG-Projektes »Innerbiblische Schriftauslegung in den erzählenden Texten des Pentateuchs« entstandene und von Walter Bührer betreute Dissertation von Meike J. Röhrig widmet sich einem Textbereich, dem für die Erforschung der priesterlichen Strata des Pentateuch eine gewichtige Bedeutung zukommt. Die Erzählung über die Einsetzung der Priester (Lev 8), ihr erstes Opfer (Lev 9) und den Tod der beiden Aaronsöhne Nadab und Abihu (Lev 10) hebt sich bereits formal von den sie umgebenden, primär legislativen Passagen ab. Die drei Kapitel sind überdies eng mit anderen priesterlichen Texten im näheren und weiteren Kontext verknüpft, allen voran den Opferbestimmungen in Lev 1–7 und dem Auftrag zur Priesterweihe in Ex 29, dem Lev 8 als Ausführungsbericht zugeordnet ist. Lev 8–10 bilden mithin eine distinkte Texteinheit innerhalb der priesterlichen Sinaiperikope, wobei sich in Anbetracht zahlreicher literarischer Spannungen und inhaltlicher Akzentverschiebungen unweigerlich die Frage nach ihrer Genese im Horizont des priesterlichen Schrifttums stellt. Damit untrennbar verbunden ist eine der großen Forschungsdiskussionen der vergangenen Jahrzehnte, nämlich die Kontroverse um das Ende des ältesten priesterlichen Textes und sein Verhältnis zum nicht- bzw. vorpriesterlichen Textbestand (Quelle oder Bearbeitung).

Wie zahlreiche Forschungsbeiträge der Vergangenheit wählt auch R. einen redaktionsgeschichtlichen Zugang, versucht also die Eigenheiten des Textbereiches Lev 8–10 aus seiner literarischen Genese heraus zu erklären. Das Spezifikum ihrer Untersuchung besteht darin, dass R. die Entstehungsgeschichte der Kapitel dezidiert mit der Vorstellung der innerbiblischen Schriftauslegung in Verbindung bringt, die zu Beginn der Einleitung (I.) betont als Leitfrage der aktuellen alttestamentlichen Forschung markiert wird. Dabei verwahrt sich R. mit Recht gegen einen inflationären Gebrauch der Vorstellung, die häufig allzu pauschal zur Charakterisierung jedweder Art von Fortschreibungen verwendet werde, und plädiert für ein qualifiziertes Verständnis von innerbiblischer Auslegung als Beschreibung solcher Texte, »die primär am Referenztext selbst interessiert sind, also aus diesem heraus motiviert sind und/oder zu seiner Lektüre anleiten möchten. Solche auslegenden Fortschreibungsprozesse lassen sich dann von anderen Phänomenen intertextuell angelegter Fortschreibung unterscheiden, bei denen die Textbindung vornehmlich dem Aussageinteresse des neuen Textes dienlich ist, also keine oder eine nur geringe Rückwirkung auf den Gebertext entfaltet« (11). Dass die Unterscheidung der Phänomene nicht vollkommen trennscharf, sondern nur mit gewissen Einschränkungen formuliert werden kann, lässt indes erahnen, dass ihre Anwendung auf komplexere Textbefunde keine geringe Herausforderung darstellt.

Die Einleitung umfasst ferner eine forschungsgeschichtliche Standortbestimmung zu Lev 8–10 im Horizont der Priesterschrift und einen Abschnitt mit methodischen Vorbemerkungen, in dem R. ihren Ansatz und ihr Vorgehen erläutert. Ziel ist zunächst die Herausarbeitung der literargeschichtlichen Stratigraphie von Lev 8–10, sowohl mit Blick auf die relative Chronologie innerhalb der Kapitel selbst als auch hinsichtlich ihrer literargeschichtlichen Beziehungen zu weiteren zentralen Referenztexten. Die hierbei offengelegten redaktionsgeschichtlichen Entwicklungen sollen dann in einem weiteren Schritt näher qualifiziert werden, wobei im Licht der Leitfrage der Studie den innerbiblischen Rezeptionsprozessen ein besonderes Augenmerk gilt: »Es wird eine genaue Nachzeichnung der rezeptiv-produktiven Prozesse angestrebt, die in einer Text-Text-Beziehung erkennbar sind« (30). Das skizzierte Programm wird im Hauptteil der Arbeit konsequent umgesetzt. Jedem der drei analysierten Kapitel des Levitikusbuches ist ein eigener Abschnitt gewidmet (II.–IV.), in dem zunächst eine knappe kommentierte Gliederung mit eigener Übersetzung auf gelungene Weise in den Text einführt. Es folgt jeweils eine ausführliche literarkritische Analyse mit eingehender Untersuchung der herausgearbeiteten Text-Text-Bezüge, die als Ausgangpunkt einer knappen Skizze der literarischen Genese des Kapitels dient. Im Fall von Lev 10 schließt sich ein weiterer Unterabschnitt zur diachronen Einordnung des Kapitels in buchübergreifender Perspektive an.

Auf Grundlage der Einzelanalysen präsentiert R. in ihrer abschließenden Auswertung (V.) eine redaktionsgeschichtliche Synthese, die die Entstehungsgeschichte von Lev 8–10 im Horizont des priesterlichen Schrifttums nachzeichnet und in einem weiteren Schritt die jeweils leitenden Fortschreibungsdynamiken bestimmt. Als ältester Bestand der drei Kapitel gilt Lev 8, das mit Ausnahme von V. 34(f.) als literarisch einheitlich betrachtet wird. Dabei sei der Bericht über die Einsetzung der Priester in Lev 8 seinerseits jünger als der korrespondierende priesterliche Auftrag aus Ex 29, denn in Lev 8,10 f. werde mit Ex 40,9–15 eine Passage aufgenommen, die bereits in die Nachgeschichte von Ex 29 gehöre. Lev 8 habe sodann auf Ex 29 zurückgewirkt und punktuelle Einzelzusätze motiviert. Auch Lev 9 gilt R. als weitgehend einheitlicher Text (Nachträge in V. 17b.21aα2), der in der relativen Chronologie nach Lev 8 einzuordnen sei. Hierfür spreche unter anderem, dass Lev 9 auf Lev 8 aufbaue und mit Ex 40,35 einen im Vergleich zu Ex 40,9–15 nochmals jüngeren Nachtrag innerhalb des Abschlusskapitels des Exodusbuches voraussetze. Auch dass Lev 9 im Unterschied zu Lev 8 erkennbar von den Opferbestimmungen in Lev 1–7 abweiche und Einflüsse der (nichtpriesterlichen) Hinteren Sinaiperikope (Ex 32!) erkennen lasse, dient R. als wichtiges Indiz für eine spätere Entstehung des Kapitels. Während Lev 8 einmal den sekundären Abschluss einer noch selbstständigen Priesterschrift gebildet haben könnte, vermutet R. in Lev 9 (im Verbund mit Lev 11–15.16*) eine weitere Ausbaustufe, die bereits die Integration der nichtpriesterlichen Texte voraussetze. Nochmals jünger sei schließlich Lev 10, das bereits in seinem literarischen Grundbestand (V. 1–7.12–14.16–20) das Heiligkeitsgesetz voraussetze und im Zusammenhang mit der späten Genealogie aus Ex 6,14–25 stehe.

Es ist überaus anerkennenswert, wie R. vor allem durch die konsequente Auswertung der von ihr aufgedeckten Text-Text-Beziehungen ein eingängiges und in seinen Entwicklungslinien durchdachtes Entstehungsmodell von Lev 8–10 entwirft, das durchweg den weiteren Horizont der Genese der priesterlichen Literatur und des Pentateuch mit im Blick hat. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass eine wesentliche Voraussetzung dieses Modells in der doch sehr zurückhaltenden literarkritischen Analyse der drei Kapitel besteht, die mit Ausnahme von Lev 10 als weitgehend einheitlich gelten. An dieser Stelle müssen diesbezüglich einige Bemerkungen genügen. Eine Schlüsselstelle ist sicherlich die Salbung des Altars und der Geräte in Lev 8,10aβb.11. Obwohl der betreffende Passus den Duktus der Priesterweihe unterbricht und der Altarweihe in Lev 8,15 vorgreift, obwohl er im korrespondierenden Auftrag aus Ex 29 fehlt und obwohl er schließlich in der Septuaginta an anderer Stelle begegnet, weist R. die in der Forschung verschiedentlich vertretene Annahme eines späteren Zusatzes zurück, begnügt sich aber letztlich mit der Feststellung, die genannten Punkte sprächen nicht zwingend für redaktionelle Nacharbeit (43 f.). Eine plausible Erklärung des in mehrfacher Hinsicht auffälligen Befundes bleibt sie dabei schuldig. Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil Lev 8,10–11 an späterer Stelle zum redaktionsgeschichtlichen Schlüsselargument werden: Da die Verse nicht auf Ex 29, sondern auf die jüngere Passage Ex 40,9–15 rekurrierten, müsse Lev 8 als Ganzes jünger sein als Ex 29 (90). Diese für das entfaltete Redaktionsmodell entscheidende Schlussfolgerung wäre hinfällig, sollte in Lev 8,10aβb.11 ein späterer Zusatz vorliegen.

Auch bezüglich Lev 9 erstaunt mit Blick auf die bisherige Forschungsdiskussion das vehemente Festhalten an der weitgehenden Einheitlichkeit des Textes. Die Schlusspassage in Lev 9,22–24 etwa hat mit ihren Motivdopplungen nicht ohne Grund Anlass zu zahlreichen Schichtungsthesen gegeben. Die Feststellung R.s, die erzählerische Fülle der Passage ergebe sich aus der Verbindung verschiedener Handlungsstränge und sei »nicht literarkritisch aufzulösen« (114), weicht letztlich einer Erklärung der komplexen Textgestalt aus und vermag daher nicht zu überzeugen. Dabei ergeben sich abermals gravierende Konsequenzen für das redaktionsgeschichtliche Modell als Ganzes, denn der (fraglos bestehende) Zusammenhang zwischen Ex 40,35 und Lev 9,23 dient R. als zentrales Argument für die Bestimmung des literargeschichtlichen Ortes des gesamten Kapitels (145). Was aber, wenn Lev 9,23 gar nicht ursprünglich ist? Die Gefahr eines vorschnellen Rückschlusses von Einzelbefunden auf größere Textzusammenhänge zeigt sich schließlich auch bei einer weiteren Beobachtung zu Lev 9. So betont R. wie andere vor ihr mit Recht den auffälligen Befund, dass sich Lev 9 in der Opferterminologie mit dem nichtpriesterlichen Text Ex 32 berührt, und folgert daraus: »Ist die Bezugnahme intendiert, so setzt Lev 9 bereits die Integration priesterlicher und nichtpriesterlicher Texte in der Sinaiperikope voraus« (146). Diese weitreichende Folgerung ist indes vom beobachteten Textbefund keinesfalls gedeckt. Sie unterschlägt, dass die Texte der nichtpriesterlichen Sinaiperikope ihrerseits eine hochkomplexe literarische Genese durchlaufen haben, und schließt vorschnell von einem isolierten Text-Text-Bezug auf die Redaktionsgeschichte ganzer Textkomplexe.

Das von R. erarbeitete redaktionsgeschichtliche Modell zu Lev 8–10 wird am Ende der Studie an die in der Einleitung formulierte Definition innerbiblischer Auslegung zurückgebunden. Dabei gelingt es R. zu zeigen, dass die einzelnen Stufen des angenommenen Fortschreibungsprozesses in je spezifischer Weise durch die sie bestimmenden Text-Text-Relationen qualifiziert werden. So sei mit Lev 8 ein besonderer Fall von Textbindung gegeben, da der Text als nachträglicher, den älteren Auftrag aus Ex 29 in Teilen aktualisierender und damit auslegender Ausführungsbericht gestaltet sei. Auch das jüngere Kapitel Lev 9 sei im Licht der ihm vorgegebenen Texte Ex 29,43–46; 40,34 als Fall innerbiblischer Auslegung anzusprechen, wobei sich hier in besonderer Weise eine korrigierende Tendenz ausmachen lasse, der zufolge die Vollendung des Zeltheiligtums erst mit der Aufnahme des Opferbetriebs durch die Aaroniden eingetreten sei. Die nach Lev 9 entstandene Grundschicht von Lev 10 hat dagegen nach Ansicht von R. ein nochmals anderes Profil, denn der Text mache Schriftauslegung zum Thema, »ohne aber im engeren Sinne Innerbiblische Schriftauslegung zu sein« (246). Erst der Zusatz in Lev 10,8–11 sei dann wieder als Schriftauslegung im engeren Sinne anzusprechen, insofern hier die Darstellung der Aaroniden aus der Grundschicht im Licht von Ez 44 programmatisch weitergedacht werde.

Ungeachtet der strittigen redaktionsgeschichtlichen Fragen hat R. mit ihrer Studie einen substanziellen Forschungsbeitrag vorgelegt, der die Bedeutung von innerbiblischer Schriftauslegung als produktivem Faktor im Prozess der priesterlichen Literaturwerdung unterstreicht. Dass die unterschiedlichen Spielarten des Phänomens nicht nur durch die divergierenden Text-Text-Bezüge, sondern auch durch den Grad an Autorität und Abgeschlossenheit der größeren Textzusammenhänge und -korpora bestimmt werden, ist dabei eine weitere zentrale Beobachtung, deren Relevanz R. noch einmal unterstrichen hat. Die künftige Forschung wird gut daran tun, diese Anstöße aufzunehmen und nicht nur bei der sicherlich gebotenen feineren Ausdifferenzierung des von R. vorgelegten redaktionsgeschichtlichen Modells zu Lev 8–10 konsequent mit zu bedenken. Welche Folgen sich für die inhaltliche Qualifizierung von Fortschreibungs- und Auslegungsprozessen ergeben, wenn die dieselben bestimmenden Text-Text-Bezüge viel punktueller ausfallen und die textgenetischen Prozesse damit eher im Rahmen multidirektionaler Wechselwirkungen verlaufen, ist eine zentrale künftige Forschungsfrage, zu der R. mit ihrer anregenden Studie einen wichtigen Impuls gegeben hat.