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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

626-627

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kalimi, Isaac

Titel/Untertitel:

The Book of Esther between Judaism and Christianity.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2023. 350 S. Geb. GB£ 100,00. ISBN 9781009266123.

Rezensent:

Helge Bezold

Das hier anzuzeigende Buch von Isaac Kalimi ist das Ergebnis jahrzehntelanger intensiver Beschäftigung mit dem Buch Ester (Est), seiner Textüberlieferung und seiner Rezeptionsgeschichte. Neben dem reichen Schatz an Bildmaterial, Quellen und Sekundärliteratur, die K. bietet, ist es ein großes Verdienst des Autors, erstmals die Rezeptionsgeschichte des Est vom biblischen Text über Antike und Mittelalter bis in die Moderne hinein nachzuzeichnen und dabei Abgrenzungs- und Identifikationsprozesse auf jüdischer wie christlicher Seite sichtbar zu machen. Das gelingt K. mit einem wahrhaft gelehrten Blick für das große Ganze und über weite Strecken überzeugenden Argumentationsgängen.

Nach einer kurzen Einleitung (Kapitel 1) stellt K. den biblischen Text und seine Abfassungszeit vor (Kapitel 2). Er nimmt an, das Est sei »sometime between ca. 475 und 425 BCE« (19), also noch in der Perserzeit entstanden. Dieser konservative Datierungsvorschlag steht in Kontrast zur jüngeren exegetischen Forschung (vgl. z. B. B. Ego oder J.-D. Macchi), die sich für eine hellenistische Datierung ausspricht. Darauf aufbauend unternimmt K. im fünften Kapitel (»Historical Setting and Historicity«) den Versuch, die Perserzeit weiter als Abfassungskontext des Est zu plausibilisieren. Dazu führt er Parallelen zwischen dem Perserbild des Est und der griechischen Historiographie an, ohne jedoch zu erwägen, dass das Est ebendiese griechischen Vorstellungen rezipiert haben könnte (so H.-P. Mathys oder J.-D. Macchi). Wenig innovativ ist auch der auf P. Schäfers Überlegungen aufbauende Ansatz, in dem perserzeitlichen Konflikt um den Yahu-Tempel auf Elephantine einen möglichen »historical kernel« (129) des Est zu sehen. Es drängt sich die Frage auf, warum K. so daran liegt, die Erzählung über Anfeindung und Bedrohung des jüdischen Volkes möglichst weit in der Vergangenheit zu verankern.

In den Kapiteln 2 und 3 legt K. eine inspirierende und von rabbinischen Auslegungen inspirierte Analyse des Est vor. Mittels einer intertextuellen Verortung des Est innerhalb der hebräischen Bibel sowie einer Struktur- und Stilanalyse weist er die Erzählung als kunstvolle Komposition, den Verfasser als virtuosen Schriftsteller aus. Kapitel 4 widmet sich der Frage nach der zentralen Botschaft des Est. Der Fokus liegt auf dem Vernichtungsmotiv. Mit Verweis auf Textstellen wie Gen 22, Ex 1 oder Ps 83 attestiert K. den Ver­fassern der hebräischen Bibel eine geradezu traumatische Angst (»a traumatic fear«, 66) vor der möglichen Vernichtung des eigenen Volkes. Das Est reihe sich in diese Tradition ein, und es entwickle eine vergleichbare theologische Antwort: Gott wird sein Volk vor der Vernichtung bewahren, wenngleich er im Est im Verborgenen agiert (82).

Im sechsten Kapitel stellt K. antike Parallelen zu den judenfeindlichen Vorwürfen Hamans aus Est 3 vor. Unter Bezugnahme auf einschlägige pagane Quellen (u. a. Diodor, Apollonius Molon, Apion, Tacitus) schlussfolgert K. wie andere vor ihm, dass Hamans Vorwürfe Parallelen bei griechisch-römischen Autoren haben (150). Dass dieser Befund ein deutliches Indiz für eine hellenistische Verortung des Est sein könnte, zieht K. auch an dieser Stelle nicht in Erwägung.

Der zweite Hauptteil des Buches widmet sich der Rezeptionsgeschichte des Esterbuches in jüdischer Tradition. In Kapitel 7 diskutiert K. zunächst die Frage, warum das Est nicht unter den Qumranschriften zu finden ist. Seine Erklärung lautet, die Qumrangemeinde habe am Toraverständnis des Buches, insbesondere an Esters Heirat mit dem Perserkönig sowie ihrer Nichteinhaltung der Pessachvorschriften (bzw. dem Fasten am 13. Nisan), Anstoß genommen.

In Kapitel 8 folgt zunächst eine detaillierte Darstellung rabbinischer Bezugnahmen auf das Est. Diese wird ergänzt um eine Zusammenschau der Darstellungen von Dura Europos, die mittelalterliche Verarbeitung des Stoffs von Jehuda ha-Levi und moderne Verfilmungen. Auffällig ist K.s Bewertung der (kritischen) modernen Stimmen zum Est. Autoren wie Schalom Ben-Chorin oder Jonathan D. Magonet wirft er Fehlinterpretationen des Est vor und vermutet dahinter eine Tendenz, christliche judenfeindliche Tendenzen zu ignorieren oder sich sogar zu eigen zu machen (194 f.).

In Kapitel 9 stellt K. zunächst Beispiele aus der jüdischen Tradition zusammen, die Motive des Est neu deuten. Zeitgeschichtliche Identifikationen Hamans macht er u. a. in der antiken griechischen Esterüberlieferung (LXX und Alpha-Text) sowie bei Josephus, Targum Sheni, Esther Rabbah, Abraham Saba oder Leopold Zunz aus. Unter Aufnahme der Arbeit von E. Horowitz (Reckless Rites, 2006) stellt K. eine Vielzahl mittelalterlicher und moderner Purimdeutungen zusammen und zeigt auf, wie darin Spannungen zwischen jüdischen und christlichen Gruppen greifbar werden. Hier kommen die antisemitischen Vereinnahmungen durch Nationalsozialisten, aber auch jüdische Vergleiche Hamans mit Hitler zur Sprache. Der Einsicht, dass jede Generation ihre eigenen Hamans und Purimfeste gefunden habe (227) stellt K. eine Übersicht über historische Judenverfolgungen bis zum Holocaust zur Seite. Daran entwickelt er – einer der spannendsten Momente des Buches – eine jüdische Hermeneutik des Est, die über »fundamentalist theodicy« und »depression and denial of God« (231) hinausgeht und sich um eine verantwortungs- und hoffnungsvolle Interpretation bemüht.

Der dritte Hauptteil des Buches bietet einen Überblick über die christliche Esterrezeption. Nach der griechischen Überlieferung (Kapitel 10), für die K. eine christliche Revision mit judenfeindlicher Tendenz vermutet (235–239) schreitet K. altkirchliche und mittelalterliche Deutungen ab und gelangt zu Martin Luther, dem dann das elfte Kapitel gewidmet ist. K. fasst darin etablierte Modelle zur Entwicklung von Luthers Judenfeindlichkeit zusammen und bringt sie mit Aussagen zum Est ins Gespräch. Kapitel 12 fokussiert sich auf jüngere christliche (exegetische) Auslegungen. Darin spürt K. dem problematischen Echo Luthers insbesondere in der deutschsprachigen Exegese von Johannes Brenz über W. M. L. De Wette bis A. Weiser und O. Eißfeldt nach, bevor er den geistesgeschichtlichen Hintergrund dieses judenfeindlichen Erbes erhellt.

Abschließend setzt sich K. im 13. Kapitel mit christlichen Verweisen auf Est auseinander, die sich positiv auf das Buch beziehen. Nach Wilhelm E. Vischer, der sich zur Zeit des Nationalsozialismus für das Esterbuch und die jüdische Gemeinschaft stark gemacht hatte, kommt K. auch auf B. Childs oder E. Zenger zu sprechen, die sich ebenfalls um eine jüdisch-christliche Verständigung um das Est bemüht hätten. Das letzte Kapitel führt die bisher erarbeiteten Linien und Ergebnisse zusammen.

Das Buch markiert einen Meilenstein in der Esterforschung und zeugt von größter Gelehrsamkeit. Von K.s konzentrierter und nuancierter Aufarbeitung des Materials aus gut 2000 Jahren (sowie dem Register des Buches) wird man noch lange profitieren. Vor dem Hintergrund, dass sich die Forschungslage sowohl im Hinblick auf die Entstehungskontexte des Est als auch auf neue Rezeptionsphänomene des 21. Jh.s stets verändert, erscheint K.s Werk bisweilen als etwas konservativ. Das mindert jedoch kaum den Wert des Buches und den Weitblick, den es bietet.