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Ausgabe:

Juli/August/2024

Spalte:

597-614

Kategorie:

Aufsätze
Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ingolf U. Dalferth

Titel/Untertitel:

Von der Religion zur Existenz
Zur normativen Aufgabe einer kritischen Religionsphilosophie1

I Religionsphilosophie der Gegenwart



Religionsphilosophie, so wird heute oft gefordert, müsse von einer Philosophie der Religion zur Philosophie der Religionen werden, sonst habe sie in einer pluralen und polyzentrischen akademischen Welt keine Zukunft.2 Sie müsse sich mit konkreten Religionen und nicht länger mit einem Konstrukt von Religion befassen, das außer für sie von niemand sonst von Interesse wäre. Und sie dürfe nicht nur im Problemhorizont von einigen monotheistischen Traditionen des Westens arbeiten, sondern müsse Religionen weltweit in ihrer ganzen Vielfalt und Verschiedenheit in den Blick nehmen.

Angesichts der immer gleichen Themen religionsphilosophischer Handbücher, Lehrbücher und Aufsatzsammlungen ist das nachvollziehbar. Man scheint auf der Stelle zu treten, auch wenn die Beiträge aus anderen Kulturräumen zunehmen. Aber Verleger wollen neue Themen sehen und nicht nur die Bearbeitung des Immergleichen mit den neuen und gerade aktuellen Instrumenten der Logik, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie, Sozialphilosophie oder Metaphysik. Warum sollte man sich auch in Afrika mit den Fragestellungen der antiken Metaphysik, in den indigenen Kulturen Südamerikas mit den Gottesbeweisen des europäischen Mittelalters oder in Südostasien mit den Themen der westlichen Moderne befassen? Sie haben ihre eigenen Probleme, Denkformen, Traditionen und Diskussionen und arbeiten an ihren eigenen Wissensformen, Ontologien und Epistemologien. Ohne das ernst zu nehmen und sich darauf einzulassen, könne man heute nicht mehr Religionsphilosophie betreiben.

Das ist richtig. Jeder, der auf diesen Feldern gearbeitet hat, weiß, wie wichtig die eigenständige Entwicklung religionsphilosophischer Fragestellungen in anderen kulturellen Traditionen ist und wie fruchtbar (und manchmal auch furchtbar) die inter- und transkulturelle Erweiterung des Themen- und Methodenspektrums religionsphilosophischer Arbeit sein kann. Wer offen für Neues ist, kann hier immer etwas lernen, weil es keineswegs überall immer nur in anderer Weise um das Gleiche geht. Aber wer in diesem globalen Gespräch seine eigene Stimme zu Gehör bringen will, muss auch selbst etwas zu sagen haben, und er wird aus den Dialogen, Auseinandersetzungen und Disputen nicht herausgehen, ohne auch seine eigenen Traditionen anders zu sehen und zu beurteilen. Manches wird nicht mehr so wichtig sein, anderes erst recht wichtig werden.

Ich beschränke mich auf zwei Punkte: Wie sollte man sich heute zu dem strittigen Thema Religion verhalten? Und was soll man zu dem nicht weniger strittigen Thema Philosophie sagen? Das erste scheint sich seit langem in eine immer größere Vielzahl von Phänomenen aufzulösen, die keine einheitliche Bearbeitung zulassen. Und das zweite kennt so viele Antworten, dass mancherorts die Philosophy Departments geschlossen werden, weil man nicht damit rechnet, dass von ihnen noch irgendetwas Relevantes kommen könnte. Wer braucht schon noch Philosophie, oder gar Religionsphilosophie?

Die Situation ist nicht neu. Sie ist sogar nahe an dem, was in der Aufklärungsepoche in Europa zur Ausbildung von Religionsphilosophie geführt hat. Man hat damals vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen und religiösen Traditionen eine radikale Wende von der Theologie zur Anthropologie vollzogen, von Debatten über strittige theologische Themen zur Frage nach dem Ort, von dem aus diese Themen traktiert wurden. Jeder sprach von den verhandelten Gegenständen anders oder von anderen Gegenständen, aber alle, die stritten, waren Menschen. Die Wende zum Menschen schien daher ein weiterführender Ansatz angesichts der Blockaden der kontroversen Sachdiskussionen. Nur die Zahl der Gegenstände zu vermehren, über die man streiten kann, führt nicht weiter. Man muss anders ansetzen. Weil man in den Auseinandersetzungen über die theologischen Gegenstände des Denkens nicht mehr weiter kam, begann man zu fragen, ob man sich am anthropologischen Ausgangspunkt der theologischen Kontroversen nicht eher einig werden könnte. Wenn sich keine gemeinsamen Antworten mehr geben lassen auf das, wonach man fragt, und man sich auf nichts einigen kann, wonach alle fragen sollten oder müssten, könnte man dann nicht versuchen, in der Frage nach dem Ort, von dem aus man fragt, zu gemeinsamen Antworten zu kommen? Probleme gibt es viele, aber es sind immer Menschen, die sich mit ihnen auseinandersetzen.

Das wurde der Anfang der Wende von Theologie und Philosophie zur Anthropologie. Auch wenn diese Wende zu keiner einheitlichen Antwort geführt hat, hat sie den Weg gebahnt zur Geburt der Religionsphilosophie – einem Zweig der Philosophie, der sich nicht primär mit Religion und Religionen, sondern mit dem Dasein von Menschen befasst, die nach ihrem Woher, Wohin und Wozu fragen. Eine solche Wende könnte uns gegenwärtig und auf neue Weise wieder bevorstehen. Wenn man wissen will, wie es mit der Religionsphilosophie weitergehen könnte, sollte man auf diesen Anfang blicken. Man wird dann – das ist meine These – der Religionsfrage weniger Gewicht zusprechen dürfen und dem Existenzproblem größere Bedeutung beimessen müssen.

II Religionsphilosophie und Selbsterkenntnis



Es gibt gute Gründe, dem Streit um das Religionsthema gegenüber eine entspanntere Haltung einzunehmen. Entgegen der landläufigen Meinung ist es nicht schwer, den Religionsbegriff zu definieren, also dem Ausdruck ›Religion‹ eine bestimmte Bedeutung zu geben.3 Es ist eher zu einfach, wie die endlose Anzahl von Definitionen beweist.4 Definitionen gibt es in Hülle und Fülle, und wie bei vielen wichtigen Begriffen ist es umstritten, welche der vielen Definitionen akzeptiert werden sollte. Natürlich sind Definitionen Werkzeuge und keine aristotelischen Wesensbestimmungen der Dinge. Sie definieren Begriffe und nicht Objekte, Sachverhalte oder Zustände. Und sie definieren Begriffe in einer Weise, die für eine bestimmte Aufgabe oder Untersuchung nützlich sein soll. Manchmal, wie z. B. in den Religionswissenschaften, müssen Arbeitsdefinitionen am Anfang stehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was man untersuchen will. In anderen Fällen, wie etwa in der Philosophie, stehen Definitionen (wenn überhaupt) am Ende, weil sie die Argumentationen und Unterscheidungen zusammenfassen, die im Hinblick auf ein bestimmtes Problem entwickelt wurden. Da es unterschiedliche Probleme, unterschiedliche Philosophen und unterschiedliche Gedankengänge gibt, ist nicht zu erwarten, dass wir alle auf dieselben Definitionen kommen. Es gibt auch keine apriorische Notwendigkeit, den Begriff »Religion« in den Religionswissenschaften, der Theologie, der Philosophie, der Rechtswissenschaft oder im Alltagsdiskurs in gleicher Weise zu verwenden. Vielmehr gibt es gute Gründe, die Bedeutung von ›Religion‹ in jeder dieser Disziplinen und Diskurse in einer Weise zu bestimmen, die für die dortigen Fragen und Aufgaben spezifisch ist. Wenn sie uns hilft, dort etwas zu sehen, was wir ohne sie vielleicht übersehen hätten, ist es eine gute Definition. Wenn sie das nicht tut, ist sie nicht gut. Was zählt, ist nicht die Identität der Bedeutung oder die Angemessenheit der Beschreibung in verschiedenen Disziplinen und Gebrauchsfeldern, sondern die Fähigkeit, Probleme zu erkennen. Und solange wir uns vor Augen halten, auf welche Art von Problem wir mit der Verwendung dieses Begriffs in einer bestimmten Disziplin reagieren, können wir mit verschiedenen Definitionen arbeiten, ohne Verwirrung zu stiften.

Außerdem sollten wir uns nicht auf den Begriff ›Religion‹ konzentrieren, sondern auf die Gegensätze und Unterscheidungen, die bei der Verwendung dieses Begriffs ins Spiel kommen: religiös/säkular; religiös/politisch; religiös/rational; religiös/theologisch; Religion/Glaube; Religion/Religion/Religiosität; Religion/Wissenschaft, und so weiter. In jedem Fall haben wir es nicht mit einem einzigen Begriff zu tun – einem Substantiv, das ein Phänomen bezeichnet, oder einem Attribut, das eine bestimmte Eigenschaft kennzeichnet –, sondern mit einem Gegensatz, der eine Unterscheidung markiert. Und was wir verstehen wollen, ist der Sinn der Unterscheidung, um die es geht, wenn wir den Begriff auf diese Weise verwenden.

Wir verwenden Unterscheidungen, um uns in unübersichtlichen Situationen zu orientieren. Wir verwenden sie nicht, um Phänomene zu erklären, sondern um uns auf Phänomene in einer Weise zu beziehen, die uns hilft, die Fragen zu beantworten, die wir verfolgen. Die Verwendung des Kontrastbegriffs ›Religion‹ sagt uns nicht nur etwas über eine Reihe von Phänomenen, die wir zu untersuchen versuchen, sondern auch – und das ist noch wichtiger – etwas über die Frage, die verfolgt wird, und das Interesse derer, die diese Frage verfolgen. Er weist auf eine bestimmte Sichtweise hin und nicht nur auf eine Reihe von Phänomenen, die wir sehen.

Die Verwendung des Begriffs hat also immer einen konstruktiven Aspekt, eine Agenda, die kritische Aufmerksamkeit verdient, eine Deutung des Phänomens ›Religion‹, die Projektion einer Sichtweise auf das, was als Religion untersucht werden soll. Wenn wir etwas ›Religion‹ nennen, haben wir schon begonnen, dem nachfolgenden Diskurs einen bestimmten Rahmen zu geben, also alles, was wir sagen, in den Horizont bestimmter mit dem Religionsbegriff verbundener Erwartungen zu stellen. Wir projizieren eine bestimmte Sichtweise von Religion auf die Phänomene, die wir ›religiös‹ nennen, und wir konstruieren unser Verständnis von Religion anhand dessen, was die so konstituierten Phänomene zu erkennen geben. Diese Zirkularität ist nicht zu vermeiden. Aber manchmal sehen wir in den Phänomenen mehr oder weniger, als sie sehen lassen, und dann werden unsere Projektionen zu Verzerrungen und bedürfen der Korrektur.

So verwendet, ist der Begriff ›Religion‹ kein Beschreibungsbegriff, sondern fungiert normativ als Orientierungsbegriff. Es kommt darauf an, wovon er unterschieden oder abgegrenzt wird (religiös/säkular; religiös/politisch; religiös/theologisch; Religion/Glaube usw.), nicht darauf, was er bezeichnet oder beschreibt. Es handelt sich immer um einen Gegensatz, nicht um einen bloßen Begriff, der etwas bezeichnet. Er bezeichnet nicht ein bestimmtes Phänomen oder eine Reihe von Phänomenen, sondern eine Unterscheidung, mit der wir uns auf Phänomene beziehen. Und die Frage ist, wie der Gegensatz, den er markiert, denjenigen, die den Begriff verwenden, hilft, sich auf die Phänomene ihres Untersuchungsfeldes so zu beziehen, dass sie etwas von Bedeutung für sich selbst oder für andere erkennen können.5

Aus diesem Grund sagen uns Negationen (Ablehnung, Kritik, Verleugnung, Ablehnung, Verweigerung usw.) von Religion oft mehr darüber, was in einem konkreten Fall auf dem Spiel steht, als Versuche einer positiven Definition. Was man als Religion ablehnt und warum man es ablehnt, sagt uns etwas über das, was wir verstehen wollen, wenn wir uns mit Fragen der Religion und der Religionen beschäftigen. Wenn Konfuzianer in China oder Korea leugnen, dass sie eine Religion praktizieren, dann sagt uns das etwas darüber, was sie unter Religion verstehen; und wenn westliche Wissenschaftler diese Leugnung zurückweisen und das, was Konfuzianer praktizieren, als Religion bezeichnen, dann sagt uns das auch etwas über ihr Verständnis des Begriffs. Wenn Neurowissenschaftler, die katholisch aufgewachsen sind, den Katholizismus ablehnen, aber vom Buddhismus fasziniert sind, weil sie in ihren Scannern die Gehirnaktivitäten meditierender Mönche beobachten können, dann sagt uns das etwas über ihr Verständnis von Religion. Wenn Psychologen ihr Interesse an Spiritualität bekunden und sich gleichzeitig von allem Kirchlichen distanzieren, dann sagt das etwas über ihre Auffassung von Religion aus. Was sie leugnen oder kritisieren oder wovon sie sich abwenden, nennen sie ›Religion‹, und was sie praktizieren (Konfuzianismus) oder erforschen (Buddhismus) oder loben (Spiritualität), zählen sie nicht zu dem, was sie »Religion« nennen. Was wir auf diese Weise lernen, führt nicht unbedingt zu einem kohärenten Begriff von Religion. Aber wir sehen, was tatsächlich auf dem Spiel steht, wenn Menschen auf diese Weise für oder gegen Religion sprechen, weil wir erfahren, welche Art von Kontrast sie anwenden, wenn sie den Begriff positiv oder negativ, bejahend oder kritisch verwenden. Nicht nur was wir anerkennen und uns aneignen, sondern auch was wir ablehnen, sagt etwas über uns aus.

So verstanden ist die Rolle des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie nicht die positive die Bestimmung des Aufgabenfelds ihres Nachdenkens, sondern der kritische Hinweis darauf, dass es Menschen sind, die religiös oder nichtreligiös leben (in welchem Sinn auch immer), und dass es Menschen sind, die das untersuchen und verstehen wollen. Es geht in religionsphilosophischer Reflexion nicht primär um Religion, sondern um uns, nicht um Religionserkenntnis, sondern um Selbsterkenntnis und Selbstdenken, nicht um Sachurteile, sondern Urteilskraft. Religiöse Phänomene geben dafür nur einen möglichen, aber keineswegs den einzig möglichen Anstoß. Sie lenken den Blick auf Aspekte menschlichen Lebens, die man beachten sollte, wenn man sich selbst verstehen, eigenständig urteilen und verantwortlich handeln will – in welchem Gebiet auch immer. Kritische Philosophie zielt immer auf die Befähigung zum Selbstdenken, Selbsturteilen und Selbsthandeln, auch als Religionsphilosophie.

Das bringt mich zur zweiten Frage: Worum geht es in der Tradition, in der Religionsphilosophie in Deutschland als eigene philosophische Disziplin entstanden ist?6

III Theologie als Anthropologie und umgekehrt



Zwischen dem frühen 18. und dem frühen 19. Jahrhundert kam es in der philosophischen Debatte über den Menschen zu zwei bedeutsamen Umorientierungen: der Wende von der Theologie zur Anthropologie und der Wende von der Anthropologie zur Existenz. Während die erste als explizite Gegenposition zu einer theologischen Behandlung der Frage nach dem Menschen auftrat, betonte die zweite nachdrücklich den engen Zusammenhang zwischen der Frage nach der menschlichen Existenz und der Frage nach Gott. Dies bildete den Bezugsrahmen für eine philosophische und theologische Debatte, die trotz der großen Fortschritte in der empirischen Erforschung des menschlichen Lebens in den letzten zwei Jahrhunderten bis heute andauert.

In seinem Essay on Man von 1733–34 fasste Alexander Pope den wissenschaftlichen Aufbruch und die neue philosophische Ausrichtung des Zeitalters der Aufklärung in der bekannten Maxime zusammen:

Know then thy self, presume not God to scan;

The proper study of mankind is Man.7

Hundert Jahre später kommentierte Coleridge dieses Projekt in seinem Gedicht Self-Knowledge (1832):

Γνῶθι σεαυτόν!–and is this the prime

And heaven-sprung adage of the olden time!–

Say, canst thou make thyself?–Learn first that trade;–

Haply thou mayst know what thyself had made.

What hast thou, Man, that thou dar'st call thine own?–

What is there in thee, Man, that can be known?–

Dark fluxion, all unfixable by thought,

A phantom dim of past and future wrought,

Vain sister of the worm, – life, death, soul, clod –

Ignore thyself, and strive to know thy God!8

Um herauszufinden, wer und was wir sind, genügt es nicht, sich mit sich selbst zu befassen. Wir bleiben im Netz unserer eigenen Vorstellungen und Phantasien gefangen, wenn wir nicht lernen, uns von uns selbst zu distanzieren und aus anderer Sicht zu betrachten, und zwar nicht von irgendeiner Fremdsicht her, sondern von dem Ort aus, von dem her alle in gleicher Weise in den Blick kommen: dem Ort des Schöpfers. Dieser Ort aber ist keinem erschwinglich, damit auch nicht die positive Einsicht, dass man Geschöpf ist, sondern nur die negative Einsicht, dass man sich nicht selbst geschaffen hat. Muss man bei dieser negativen Einsicht stehen bleiben oder kann man über sie hinauskommen? Calvin hat es versucht, indem er Selbsterkenntnis mit der Gotteserkenntnis verknüpfte. Um sich selbst so zu erkennen, wie man wirklich ist, muss man mit Gott beginnen, nicht mit sich selbst. Sonst wird die negative Einsicht alles sein, was man erreichen kann. Es »steht fest, daß der Mensch niemals eine reine Selbsterkenntnis gewinnen kann, wenn er nicht zuerst dem Herrn ins Angesicht schaut, um von dort aus den Blick auf sich selbst zurückzulenken.«9 Wahre Selbsterkenntnis besteht darin, sich selbst so zu erkennen, wie Gott einen kennt. Dazu gehört immer, zu erkennen, dass man sich selbst nicht so kennt wie Gott, und dass man von sich aus sich auch nicht so kennen kann und will. Man will selbst Gott sein und erträgt es nicht, dass ein anderer Gott ist, wie es von Luther bis Nietzsche und darüber hinaus immer wieder heißt. Sich von Gott sagen zu lassen, wer und was man in Wahrheit ist, wird als Depotenzierung der eigenen Macht und Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis erlebt. Doch Gottes Urteil depotenziert nicht, weil man diese Potenz gar nicht besitzt, sondern sie sich nur anmaßt. Diese Anmaßung wird aufgedeckt, wenn die normative Ausrichtung auf sich selbst als Maßstab der Beurteilung seiner selbst unterbrochen wird, indem man auf Gottes Urteil ausgerichtet wird. Man wird dadurch nicht depotenziert, sondern im Gegenteil befähigt, sich nicht nur so zu sehen, wie man sich selbst beurteilt, sondern so, wie man von Gott beurteilt wird.

Gottes Urteil ist aber nicht nur ein anderes Urteil, das neben das eigene tritt. Es sagt nicht nur, dass Gott einen so sieht, sondern dass man so ist, wie Gott einen sieht. Das eigene Urteil über sich und das göttliche Urteil über einen treten damit so in Spannung, dass man einen stabilen Identitätsort verliert und in eine existenzielle Werdens- und Entdeckungsbewegung von seinem faktischen Selbst (wie man sich selbst sieht und beurteilt) zu seinem wahren Selbst (wie man sich sehen und beurteilen sollte und könnte, wenn man nicht in Selbsttäuschungen verfangen wäre) versetzt wird: Man ist nicht mehr nur auf sein eigenes Urteil und das Urteil anderer bezogen, sondern auf Gottes Urteil, und weil Gottes Urteil nicht nur feststellt, was ist, sondern schafft, was es feststellt, wird man dadurch zu einem anderen, als man meinte zu sein. Man wird, wer man von Gott aus ist, aber von sich aus nicht werden wollte und konnte, indem sich Gottes Urteil durch Gottes Geist in das Leben eines Menschen einzeichnet und dieses nach Gottes Urteil umgestaltet. Das wird immer Stückwerk bleiben, aber nur, wenn man so disloziert und von sich selbst unterschieden wird, kann man zu sich selbst kommen. Wer sich nicht verliert, der kann sich nicht gewinnen. Ohne diese Dislozierung bleibt man in seiner Selbstbezogenheit gefangen und kennt sich immer nur so, wie man sich und andere sieht und sehen will, aber nicht so, wie man coram deo, also nach Gottes Urteil, in Wahrheit ist.

Calvins Gedankengang ist schnörkellos: Ohne Gott zu kennen, können wir uns nicht wirklich kennen. Gott zu kennen, heißt aber nichts anderes, als zu wissen, wie Gott uns beurteilt. Das weiß man, wenn man Gott ins Angesicht blickt und sieht, was er von einem hält. Und der einzige Ort, an dem man sicher sein kann, dass man nicht einem Trugbild, sondern Gott ins Angesicht blickt, ist Jesus Christus. Ohne Rekurs auf ihn gibt es für Calvin daher keine Gotteserkenntnis und keine Selbsterkenntnis. Jesus Christus erschließt Gottes Urteil über uns, weil er Gottes Angesicht enthüllt und zeigt, wie freundlich Gott uns ansieht. Wer Gottes Angesicht in Christus sieht, der sieht, wie Gott ihn anblickt. Unter diesem Blick Gottes bricht die Selbstgerechtigkeit der Menschen zusammen. Sie sehen, wie sehr sie sich über sich selbst getäuscht haben, wie sehr sie ihre Schwächen überspielt und ihre Stärken überschätzt haben. Sie hielten sich für groß und bedeutsam, aber unter Gottes Blick merken sie, wie klein und nichts sie sind. Und doch blickt Gott sie in Christus freundlich an. Das erschließt sein Urteil über sie. Nicht nur sie sind anders, als sie gemeint hatten, sondern auch Gott. Gott urteilt freundlich über sie, die nichts Erfreuliches vorzuweisen haben. Gottes Urteil widerspricht damit ihrem Selbsturteil. Aber es sagt nicht nur anderes über sie als sie selbst, sondern was es sagt, ist wahr, weil es sie zu dem macht, was es sagt. Damit disloziert Gottes Urteil sie von ihrem eigenen Urteil und setzt ihr Leben in Bewegung, die zu werden, die sie durch Gott sind.

Ohne diese Dislozierung gibt es keine wahre Selbsterkenntnis. Menschliches Streben nach Selbsterkenntnis führt nicht von sich aus zur Gotteserkenntnis, sondern wiederholt die Unklarheiten über sich selbst im Urteilen über Gott. Wahre Selbsterkenntnis hat deshalb immer kontrafaktischen Charakter. Sie ist keine Fortsetzung der menschlichen Bemühung um Selbsterkenntnis, sondern deren Korrektur. Diese Korrektur zielt aber nicht primär auf die Erkenntnis, die man von sich hat, sondern auf das Selbst, das man ist. Nicht dass man sich anders beurteilt, ist entscheidend, sondern dass man anders wird.

Das ist es, was Calvin mit der Verknüpfung von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis im Blick hat. Gotteserkenntnis wird zur Selbsterkenntnis, wo man sich als Ort der Gegenwart des Schöpfers und damit als Geschöpf versteht, weil man das ist. Und Selbsterkenntnis wird zur Gotteserkenntnis, wo man sich selbst als Gottes Geschöpf und Gott als seinen Schöpfer versteht, weil das so ist. Erst dadurch erschließt sich die negative Einsicht, sich nicht selbst gemacht zu haben, als Rückseite der positiven Einsicht, sich und sein Dasein Gott zu verdanken – nicht als Schluss von der negativen Einsicht auf die positive Erkenntnis, sondern umgekehrt als existenzerhellender Sinngewinn durch die Einbettung dieser negativen Einsicht in den Lebenshorizont dieser positiven Erkenntnis.

IV Anthropologie als Existenzphilosophie



Nicht alle waren von solchen Argumenten überzeugt. Viele sahen in ihnen zu viel Theologie am Werk. Alles hängt hier an dem, was Gott tut. Aber wenn die Gewissheit fehlt, dass Christus erschließt, wer Gott ist und was Gott tut, verlieren diese auf Lebensänderung zielenden Überlegungen ihre Überzeugungskraft. Die Kraft des Bildes, vor Gottes Antlitz zu stehen, lebt von seinen christologischen, soteriologischen und ekklesiologischen Konkretionen. Sieht man von ihnen ab, wird es schnell zu einem bloßen Bild, das nichts mehr über Gott sagt und damit auch die conditio humana nicht mehr erhellt. Man verzichtet dann auf die Unterscheidung zwischen faktischer und wahrer Selbsterkenntnis und sieht nur noch verschiedene Hinsichten auf sich selbst, mit denen man umgehen muss. Oder man setzt dem jeweils faktischen Selbst ein normatives Selbst entgegen, das nicht sagt, was ein Mensch ist, sondern was er sein soll. Das erste führt in die Problemstellungen der Psychologie und die Herausforderungen des Aufbaus einer dynamischen Ich-Identität im Umgang mit den Differenzen zwischen dem, wie man sich selbst sieht, und dem, wie man von anderen gesehen wird. Das andere führt in die philosophische Anthropologie und Ethik, die anders als die Wissenschaften vom Menschen nicht nur beschreiben, was Menschen faktisch sind, sondern das Menschsein daran messen, wie es sein kann und soll. Auch hier wird Menschsein zu einer Aufgabe, an der man scheitern kann. Aber man scheitert dann nicht mehr an Gottes Urteil, sondern an sich selbst.

Diese Umstellung von der theologischen Unterscheidung zwischen faktischem und wahrem Menschsein (eigenem Urteil und Gottes Urteil) zur philosophischen Unterscheidung zwischen faktischem und normativem Menschsein (Sein und Sollen), lässt sich gut bei Kant beobachten. Keiner hat im 18. Jahrhundert Pope’s Maxime philosophisch so konsequent umgesetzt wie Kant, der die gesamte Philosophie als Anthropologie neu konzipiert. Das gesamte Feld der Philosophie im kosmopolitischen Sinne fasst er in seiner Logikvorlesung in vier Fragen zusammen:

»1) Was kann ich wissen?

2) Was soll ich thun?

3) Was darf ich hoffen?

4) Was ist der Mensch?

Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.«10

Was ist mit diesem »beziehen« gemeint? Kant ist offensichtlich der Meinung, dass die vierte Frage die anderen drei in gewissem Sinne einschließt oder aufnimmt. Sie sind die Unterfragen, die beantwortet werden müssen, um die vierte Frage zu beantworten. Doch damit ist die Pointe seiner Auffassung noch nicht erfasst. Wenn wir ihn nur auf diese Weise verstehen, werden zwei wichtige Aspekte vernachlässigt: Der grammatikalische Wechsel von Modalfragen (kann, soll, darf) zu einer Indikativfrage (ist), und der rhetorische Wechsel von der Sprache der ersten Person in den ersten drei Fragen zur Sprache der dritten Person in der letzten Frage.

Für Kant war klar: Wenn man verstehen will, was der Mensch ist, wie es Alexander Pope als Aufgabe aufgeklärter Erkenntnis und Forschung gefordert hatte, dann reicht es nicht aus, sich der Empirie zuzuwenden, Daten zu sammeln, Hypothesen zu formulieren, Modelle zu bilden und Theorien zu entwerfen. All das ist interessant und wichtig und wird von den Wissenschaften seit über zwei Jahrhunderten auch mit beachtlichen Erfolgen getan. Wir wissen heute mehr über den Menschen als je zuvor. Wenn das Verständnis des Menschen und die Erkenntnisse über die Menschen aber praktische Relevanz für die Lebensorientierung haben sollen, dann muss man auch bedenken, was der Mensch nicht ist, nicht weiß, nicht kann, nicht soll, nicht darf. Nicht nur seine Fähigkeiten, sondern auch seine Unfähigkeiten müssen dann erforscht werden.

Das ist für Kant die Aufgabe der Philosophie. Die Erforschung der Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins in der Philosophie – in Metaphysik, Ethik und Religion – hat für ihn ihren Platz neben der Erforschung der Wirklichkeit des Menschen in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Wissenschaftliche Forschung zielt auf Erkenntnisse über den Menschen (Menschen sind die Objekte dieser Erkenntnis), philosophisches Nachdenken zielt auf existenzielle Einsichten, die jeder Mensch an seinem Ort machen kann (Menschen sind die Subjekte dieser Einsichten).

Kant legt die indikative Frage in der dritten Person »Was ist der Mensch?« deshalb durch drei modale Fragen in der ersten Person aus, die alle Grenzen thematisieren, auf die jeder nachdenkende Mensch stößt: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Alle drei Fragen gehen davon aus, dass Menschen als selbstbestimmungsfähige Handlungswesen nach Wissen streben, handeln wollen und hoffen. Aber gerade weil sie das in der einen oder anderen Weise immer schon tun, fragt Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit, dem Recht und den Grenzen unseres Wissens, Handelns und Hoffens. Er will aufdecken, wo wir unsere Grenzen überschreiten, wenn wir etwas wissen, tun oder hoffen wollen, was wir nicht wissen können, nicht tun sollen und kein Recht haben zu hoffen. Diese Überschreitungen sind Quellen der Unmenschlichkeit. Aus ihnen entspringen metaphysische Illusionen und antiwissenschaftliche Besserwisserei, moralische Arroganz und relativistische Verantwortungslosigkeit, religiöser Fanatismus und ideologischer Traditionalismus. Sie müssen vermieden werden, wenn die Menschen auf humane Weise zusammenleben wollen.

Deshalb entwickelt Kant keine Erkenntnistheorie (wie oft gemeint wird11, sondern eine kritische Metaphysik des Wissbaren in Abgrenzung zum Nichtwissbaren, keinen philosophischen Moralkodex, sondern eine kritische Metaphysik des Sollens in Abgrenzung des moralischen vom nichtmoralischem Wollen und Handeln, und keine philosophische Theorie Gottes, sondern eine kritische Metaphysik des religiösen Lebens und einer vernünftigen religiösen Praxis in Abgrenzung zu unvernünftigem religiösen Enthusiasmus, Traditionalismus und Fanatismus.

Um menschlich zusammenleben zu können, müssen Menschen ihr Wissen, Handeln und Hoffen kritisch prüfen. Wir brauchen Wissen, um handeln zu können, und wir können nicht handeln, ohne zu hoffen. So wie das Handeln keine Form des Wissens ist, so ist auch das Hoffen keine Defizitform menschlichen Tätigseins nach dem Motto: Wo wir nicht mehr handeln können, bleibt uns nur noch zu hoffen, sondern im Gegenteil das Sich-Öffnen für das Zufallen, das Sich-Ereignen, die Gabe des Guten. Wer hofft, tut nichts, sondern setzt darauf, dass sich Gutes ereignet, dass ihm Gutes widerfährt. Er ist kein Täter, sondern ein Empfänger. Wenn wir handeln, wollen wir etwas verwirklichen, was nicht schon wirklich ist (sonst bräuchten wir es nicht zu tun), das aber auch nicht unmöglich für uns ist (sonst könnten wir es nicht tun) und das wirklich sein soll, weil es gut für uns ist (sonst würden wir es nicht tun wollen). Aber nicht alles, was möglich ist, ist für uns möglich, nicht alles, was für uns möglich ist, ist jederzeit möglich, und nicht alles, was für uns unter einer Beschreibung gut ist, ist es auch unter einer anderen.

Das ist eine Quelle permanenter ethischer Konflikte. Was gut für eine wissenschaftliche Karriere ist, ist schlecht für eine Familie. Was für die Eindämmung einer Pandemie gut wäre, wird für berufstätige Eltern mit drei kleinen Kindern zu einer unerträglichen Belastung. Und vieles von dem, was für uns möglich und wünschenswert ist, ist nicht nur hier und jetzt nicht wirklich, sondern wird für uns niemals wirklich sein. Deshalb müssen wir uns immer wieder neu Klarheit darüber verschaffen, wer und was wir sind und sein wollen, was wir tun können und was nicht, was für uns unter welcher Beschreibung gut ist, was wir privilegieren wollen, worauf wir uns verlassen können und müssen, womit wir rechnen können und müssen, und worauf wir hoffen bzw. nicht hoffen können und dürfen.

Die erste Frage bezieht sich deshalb auf das, was wir wissen können und müssen, um an der Wirklichkeit nicht zu scheitern. Die zweite Frage bezieht sich darauf, was wir über unser Handeln wissen sollten, um wirklich menschlich zusammenzuleben. Die dritte Frage bezieht sich auf die erste, insofern sie nicht nur unser Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern zur Möglichkeit thematisiert; und sie bezieht sich auf die zweite Frage, insofern es ihr nicht nur um das Gute, sondern die Möglichkeit des Guten geht. Die drei Modalfragen gehen also vom Wirklichen zum Möglichen und vom Guten zur Möglichkeit des Guten. Nur wenn man dieser Bewegung folgt, kann die Frage »Was ist der Mensch?« beantwortet werden. Deren innere Triebkraft ist die Frage, was für uns eigentlich gut ist. Dieser Frage sind alle anderen Fragen zugeordnet.

V Die Lücke der Identität



Hier aber stoßen wir auf ein prinzipielles Problem. Wir scheinen nicht wirklich wissen zu können, was gut für uns ist. Im Kern unserer Identität besteht eine Lücke, die weder wir noch andere schließen können. Wir wissen vieles über uns, aber wir wissen nicht alles, und deshalb wissen wir nicht, wer wir in Wahrheit sind und was wirklich gut für uns ist. Und auch wenn wir nicht alles über uns wissen müssen, um Wahres von uns zu wissen, können wir doch nicht entscheiden, was gut für uns ist, wenn wir nicht wissen, ob das, im Hinblick worauf wir etwas für gut oder schlecht für uns halten, wirklich zu dem gehört, was wir in Wahrheit sind. Denn nur das gehört zu dem, was wir in Wahrheit sind, was zusammen mit allem anderen, was dazu gehört, darüber zu entscheiden erlaubt, was für uns gut ist. Aber wenn wir nicht alles kennen, das Ganze unserer Wahrheit uns also nicht zugänglich ist, und wenn wir dieses Ganze auch dadurch nicht erreichen können, dass wir uns – wie Hegel es versuchte – auf einen dynamischen Weg zur Überwindung der Lücke unserer Identität machen, dann können wir nicht wissen, sondern immer nur vermuten, dass das, was wir für gut für uns halten, wirklich gut für uns ist, weil es im Prozess des Werdens zu dem, der wir sind, nicht ausgeschieden und überwunden, sondern einbezogen, aufgehoben und erhalten wird. Wir stehen, mit anderen Worten, vor einem Problem, das weder wir selbst noch irgendwelche anderen für uns lösen können, das wir aber lösen müssen, wenn wir entscheiden wollen, was wirklich gut für uns ist.

Man kann sich das Problem am Unterschied zwischen der Biographie und der Autobiographie eines Lebens klarmachen. In autobiographischer Sicht wissen wir vieles, was andere nicht wissen, wissen können oder zu wissen brauchen. Umgekehrt können diese in ihrer biographischen Sicht auf unser Leben Dinge wissen, die uns prinzipiell verschlossen sind: Wir kennen selbst weder den Anfang noch das Ende unseres Lebens, andere können das wissen. Sie wissen damit einiges, was wir nicht wissen können, und wir wissen einiges, was sie nicht wissen können. Wir können ihr Wissen und unser eigenes Wissen aber auch nicht einfach addieren, weil es niemanden gibt, der diese doppelte Sicht auf unser Leben haben könnte – er müsste uns ja gleichzeitig autobiographisch (aus unserer Selbstsicht) und biographisch (aus einer Fremdsicht) kennen, und das ist unmöglich.

Diese Lücke im Kern unserer Identität ist der Grund dafür, dass wir uns nie vollständig kennen. Was für uns gut, wahr und richtig ist, ist deshalb nie endgültig zu sagen, und was es heißt, als Mensch auf gute, und das heißt: auf menschliche Weise, zu leben, auch nicht. Diese Fragen sind auch nicht durch bessere wissenschaftliche Forschung zu beantworten, sondern verlangen nach einer Entscheidung, wie wir als Menschen leben wollen.

Dieser anthropologischen Grundentscheidung kann sich niemand entziehen. Menschen exekutieren nicht nur ein biologisches Programm, um unter widrigen Umständen zu überleben. Wollen wir als Menschen überleben, dann stehen wir vor der Aufgabe, im Rahmen unserer biologischen, sozialen, politischen und ökonomischen Möglichkeiten auf menschliche und nicht auf unmenschliche Weise zu leben. Dafür genügt es nicht, sich an der biologischen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier (menschlichem/nichtmenschlichem Leben) zu orientieren, man muss vielmehr auf die anthropologische Unterscheidung achten zwischen einer menschlichen Weise, als Mensch zu leben, und einer unmenschlichen. Aber während sich die biologische Unterscheidung (Mensch/Tier) evolutionär herausgebildet hat und wissenschaftlich erforschen lässt, ist die anthropologische Unterscheidung (menschlich/unmenschlich) kein Resultat biologischer Evolution, sondern Ausdruck der Art und Weise, in der Menschen ihr Menschsein faktisch leben, leben wollen und – sich selbst verpflichtend – meinen leben zu sollen. Sie ist, mit anderen Worten, keine Frage des Wissens, sondern der Entscheidung. Die aber kann sehr unterschiedlich ausfallen. Was ein gutes menschliches Leben ist, hängt davon ab, wer wir sein wollen, und nicht alle wollen dasselbe sein. Vielfalt und Verschiedenheit gehören wesentlich zum Menschsein. Das Recht, anders zu sein, ist ein Menschenrecht.

VI Die Bedeutung der ersten Person



Damit können wir zu Kants Leitfragen der Philosophie zurückkehren und einen letzten Punkt hervorheben. Was geschieht mit dem ›ich‹, das in den ersten drei Fragen so prominent ist, wenn man sie als Teilfragen der Frage nach dem Menschen betrachtet? Es gibt mindestens zwei mögliche Antworten. Die erste ist, dass der Wechsel von der ersten zur dritten Person in der vierten Frage darauf hinweist, dass das ›ich‹ in den ersten drei Fragen nicht Kants private Stimme ist, sondern ein rhetorischer Platzhalter für alle Menschen. Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen, schrieb Aristoteles zu Beginn der Metaphysik. Alle Menschen wollen sich vergewissern, dass sie wirklich Wahres wissen, Gutes wollen, Vernünftiges erhoffen und sich nicht in Illusionen verlieren, so reformuliert Kant diese Tradition. Hier spricht Kant nicht nur für sich, sondern für jeden Menschen.

Doch die rhetorische Änderung von der ersten zur dritten Person zwischen den ersten drei Fragen und der vierten Frage hat noch einen anderen Aspekt. Zweifellos sind Wissen, Handeln und Hoffen wesentliche Tätigkeiten des menschlichen Lebens. Wir alle wissen, handeln und hoffen, und wir alle sind gut beraten, zu prüfen, ob das, was wir zu wissen glauben, zu tun wünschen und hoffen möchten, berechtigt ist. Doch was ist das Ich (oder Wir), dem all diese Aktivitäten zugeschrieben werden? In der anthropologischen Frage »Was ist der Mensch?« ist das ›ich‹ der drei Teilfragen verschwunden und scheint durch ›der Mensch‹ ersetzt worden zu sein.

Der rhetorische Wechsel von der ersten zur dritten Person hat zwar keinen Einfluss auf den Wahrheitswert einer Aussage (›Ich habe Hunger‹ kann, wenn es von mir verwendet wird, salva veritate durch ›Dalferth hat Hunger‹ ersetzt werden), aber er verschleiert einen wichtigen Unterschied zwischen der Verwendung von Namen und Indexausdrücken. Der Gebrauch von Indexausdrücken verankert Aussagen in konkreten Situationen, der Gebrauch von Namen befreit Aussagen von der Bindung an bestimmte Situationen. Und wie bei Aussagen, so auch bei Fragen. Die Frage, ob die Sonne scheint, kann ich nur beantworten, wenn ich sie auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit beziehe, also verstehe: ›Scheint die Sonne hier und jetzt?‹ Wenn ich das ignoriere, kann ich zwar über den Sinn oder die Bedeutung der Frage diskutieren, aber ich kann sie nicht beantworten.

Die Unterdrückung der Verankerungskraft des indexikalischen ›ich‹ in der vierten Frage verdeckt somit einen zentralen Aspekt von Kants philosophischem Projekt: Es geht nicht oder nicht nur darum, einen tragfähigen Begriff des Menschen oder der Menschlichkeit zu entwickeln. Wenn die Frage »Was ist der Mensch?« nur eine begriffliche Frage wäre, könnte sie nicht das Integral der anderen drei Fragen sein. Diese stellen keine begrifflichen Fragen, sondern werfen substantielle normative Probleme auf: Wann können wir mit Recht behaupten, etwas zu wissen oder wirklich etwas Gutes zu wollen oder uns in dem, was wir erhoffen, nichts vorzumachen? Dies sind keine rein begrifflichen Fragen. Die Verwendung des indexikalischen ›ich‹ macht das deutlich. Sie verankert diese Fragen im realen Leben konkreter Menschen. Nur jemand, der tatsächlich existiert, kann sie stellen. Und keine Antwort auf sie ist ausreichend, wenn sie nicht die Existenz derjenigen berücksichtigt, die auf diese Weise nach dem Recht, der Gültigkeit und der Legitimität ihres Wissens, ihrer Handlungen und ihrer Hoffnungen fragen.

Diese Verankerung in der Realität darf nicht vergessen werden, wenn man die vierte Frage richtig verstehen will. Es geht um reale Menschen – Wesen wie diejenigen, die diese Frage stellen. Kants anthropologische Neuausrichtung der Philosophie hat ihre Pointe nicht darin, dass sie nach dem Menschsein fragt, sondern dass sie die ins Auge fasst, die danach fragen. Die Frage »Was ist der Mensch?« bezieht sich auf diejenigen, die sie stellen, und sie könnten sie nicht stellen, wenn es sie nicht gäbe. Es geht Kant nicht nur um den Begriff des Menschen, sondern um unsere Existenz – diejenigen also, die als Menschen in der wirklichen Welt existieren.

Das aber heißt: Wenn wir fragen, wer und was wir sind, geht es immer um zwei Fragen: die Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein, und die Frage nach unserer eigenen Existenz. Die erste Frage lässt sich nur im Verhältnis zu anderen Menschen beantworten, indem wir vergleichen, was wir gemeinsam haben und worin wir uns unterscheiden. Sie ist eine empirische, wissenschaftliche oder historische Frage, die Antworten darauf können immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich sein, und sie werden immer von den Interessen bestimmt, die diejenigen leiten, die diese Frage stellen und sie beantworten. Die zweite Frage dagegen ist existenziell. Sie fragt nicht nach dem, was für uns als Menschen gilt, sondern was für uns als Existierende gilt, will also nicht wissen, was es heißt, ein Mensch zu sein, sondern was es heißt, da zu sein. Keine Antwort auf die erste Frage beantwortet auch diese zweite Frage. Selbst wenn es keine Menschen gäbe, könnte eine transhumane Mensch-Maschine das Menschsein in bestimmter Weise definieren und festlegen, dass wenn es Menschen gäbe, dann würden sie so sein, wie definiert. Aber damit existieren noch keine Menschen. Um von der Möglichkeit zur Wirklichkeit von Menschen zu kommen, muss das, wovon man spricht, in der Wirklichkeit da sein, zu der alles gehört, was existiert, in der also nicht nur gilt ›x ist ein Mensch‹, sondern ›Ich bin ein Mensch‹. ›Ich‹ kann nur sagen, wer existiert, und es zu sagen, fügt der Bestimmung des Menschseins keinen weiteren Aspekt hinzu, sondern lokalisiert oder verankert den, der spricht, mit allem, was er als Mensch ist und sein kann, in der Wirklichkeit.

Eben deshalb sind die ersten drei Fragen Kants nicht in der dritten, sondern in der ersten Person formuliert. Sie fragen nicht nach Aspekten einer Definition des Menschen (Was ist der Mensch?), sondern danach, was es heißt, als Mensch da zu sein, also zu existieren. Nur wer als Mensch da ist, kann und muss sich fragen, was er wissen bzw. nicht wissen kann. Nur wer als Mensch da ist, kann und muss sich fragen, was er tun oder lassen soll. Nur wer als Mensch da ist, kann und muss sich fragen, was er hoffen darf oder nicht hoffen kann. Niemand kann sich diese Fragen von anderen beantworten lassen, sondern jeder muss sie selbst beantworten, weil sie jeder auch nur selbst stellen kann. Sie müssen in der ersten Person Singular oder Plural gestellt werden, denn ich oder wir kann nur sagen, wer da ist, also existiert. Um das zu markieren, formuliert Kant die ersten drei Fragen in der ersten Person. Es geht um Existenzfragen von Existierenden, nicht nur um Definitionsfragen von Philosophen. Es geht um Fragen der eigenen Existenz, nicht nur um das Menschsein oder Menschlichsein, das man mit anderen teilt oder teilen kann. Die eigene Existenz teilt man mit niemandem, weil sie keine Eigenschaft ist, die man haben oder nicht haben kann, möglicherweise haben kann oder notwendigerweise haben muss, mehr oder weniger haben kann, wie bestimmte Eigenschaften, sondern die Existenz markiert das Da-Sein, das man nie sich selbst zuschreiben kann und damit auch von dem, was man ist oder sein kann, nicht ableiten kann, sondern das einen mit allem, was man ist und sein kann, im Hier und Jetzt des wirklichen Lebens lokalisiert und verankert.

Existieren zu können, ist daher etwas anderes, als sehen zu können. Ich kann nichts sehen, wenn ich keine Fähigkeit habe zu sehen. Aber ich brauche keine Fähigkeit zu existieren, um existieren zu können. Dass es möglich ist zu existieren, zeigt sich daran, dass ich existiere. Aber diese Möglichkeit folgt der Wirklichkeit meiner Existenz nach und geht ihr nicht voraus. Wer existiert, kann existieren, aber das heißt nicht, dass er die Fähigkeit hat zu existieren, sondern nur, dass es möglich ist, dass er existiert. ›Es ist möglich, dass ƒ‹ und ›Es ist für mich möglich, dass ƒ‹ sind daher nicht zu verwechseln. Das erste ist ein Satz über eine Möglichkeit (›Es ist möglich, ...‹), das zweite ein Satz über eine Wirklichkeit (›Es ist für mich möglich, ...‹). Möglichkeitssätze in der ersten Person beziehen sich immer auf die Möglichkeit einer Wirklichkeit, nicht nur auf eine Möglichkeit.

Existenz ist keine Eigenschaft, die man haben kann, auch wenn man nicht oder nur möglicherweise existiert. Dass es Einhörner geben kann, heißt nicht, dass sie die Eigenschaft möglicher Existenz haben, die aber nicht realisiert ist. Es heißt vielmehr, dass Einhörner keine widersprüchlich bestimmten möglichen Wesen sind, die wirklich sein könnten, wenn sie existieren würden. Existieren zu können und als etwas existieren zu können, ist aber nie das gleiche. Zwar existiert alles, was existiert, als etwas, aber dass es existiert, folgt nicht aus dem, als was es existiert. Existenz ist kein eigenständiges Phänomen, sondern tritt immer nur mit anderem zusammen als Lokalisierung von Möglichem im Wirklichen auf. Man kann nie nur die Existenz, sondern immer nur die Existenz von etwas untersuchen. Ein möglicher Gegenstand, der nicht existiert, ist kein mögliches Phänomen, das man untersuchen könnte, sondern kein Phänomen, das man untersuchen könnte. Die Frage »Was ist der Mensch?« und die Frage ›Lebe ich menschlich?‹ sind nicht zu verwechseln. Zur Debatte steht nicht unsere Definitionskompetenz, sondern unsere Urteilskraft.

Dass es ihm darum geht, macht Kant klar, indem er die drei Fragen, die sich auf die Frage »Was ist der Mensch?« beziehen, in der ersten Person formuliert. Es geht nicht um Teilfragen des Menschseins, sondern um Herausforderungen der Urteilskraft derer, die als Menschen existieren. Was Menschen sind, kann man allgemein beantworten. Man kann auch allgemein sagen, dass jeder, der als Mensch existiert und über sich nachdenkt, auf Fragen stoßen wird wie die, was er als Mensch wissen kann, tun soll und hoffen darf. Aber mit der Beantwortung dieser Fragen ist noch nicht beantwortet, was es heißt, als Mensch menschlich zu existieren.

Die Möglichkeit der Existenz eines Menschen ist nicht schon damit geklärt, dass der Begriff des Menschen widerspruchsfrei bestimmt wird. Und die Frage, ob man menschlich existiert, ist nicht schon damit beantwortet, dass man darlegt, was man unter Menschlichkeit versteht. Man muss nicht nur von empirischen Forschungen über die Menschen zu philosophischen Fragen einer kritischen Metaphysik des Wissbaren, des moralisch Gebotenen und des religiös Vernünftigen weitergehen, sondern man muss von diesen Fragen weitergehen zu Fragen der Existenz. Und man kann sich nicht damit begnügen, die Ideale der Menschlichkeit in der Menschheitsgeschichte Revue passieren zu lassen, sondern man muss auf die Entscheidung achten, die im konkreten Fall einen Menschen dazu bringt, so zu existieren, wie er existiert, und nicht anders. Es geht um Existenz, Entscheidung und Urteilskraft, nicht nur um empirisches Wissen und ideengeschichtliche Gelehrsamkeit. Wer diesen Schritt nicht macht, denkt nicht über sein Menschsein nach, sondern bleibt beim Nachdenken über das Menschsein bei den wissenschaftlichen Erkenntnissen und kulturellen Verständnissen des Menschseins seiner Zeit stehen. Es geht dann um Wissensbestände und Kulturphänomene, aber nicht um ein religionsphilosophisches Problem im Sinne Kants.

VII Der philosophische Gottesgedanke



Damit ist freilich noch nicht entschieden, wie diese Existenzfragen zu beantworten sind. Kant geht hier andere Wege als Coleridge oder Kierkegaard. Nach diesen kann man Existenzfragen nicht beantworten, ohne von philosophischen Fragen des Menschseins und der menschlichen Existenz zu theologischen Fragen des Geschöpfseins weiterzugehen und zu untersuchen, wie man sich angesichts der Kontingenz, Endlichkeit und Tiefenpassivität der eigenen Existenz im Hinblick auf die Gegenwart des Schöpfers positioniert. Für Kant dagegen ist die Alternative zwischen einer ›säkularen‹ und einer ›religiösen‹ Religionsphilosophie damit nicht ausgeschlossen, sondern gerade aufgeworfen. Wie soll man die Faktizität, Kontingenz und Endlichkeit unserer Existenz verstehen? Wir sind da. Aber wir haben uns nicht selbst ins Dasein gebracht. Wir sind als Menschen da, aber wir haben uns nicht selbst dafür entschieden, so da zu sein. Als Menschen haben wir die Möglichkeit und die Pflicht, menschlich und nicht unmenschlich zu leben. Doch was das heißt, ist nie endgültig zu sagen, solange die Evolutionsgeschichte der Menschen nicht abgeschlossen und die Suche nach dem, was Menschen sein wollen, nicht zu Ende ist. Diese Geschichte und Suche aber gibt es nur, solange es Menschen gibt, und dass es sie gibt, geht jeder Antwort und allem Fragen nach einem menschlichen Leben voraus. All unsere Aktivitäten und Passivitäten, alles Wissen- und Tunkönnen und alles Erfahren- und Erleidenkönnen gründen in einer vorausgehenden Tiefenpassivität, denen sich ihr Möglichsein verdankt. Nur weil wir existieren, können wir so sein. Aber wir existieren nicht, weil wir so sind. Hier tut sich eine Lücke auf, mit der man verschieden umgehen kann.

Der philosophische Gottesgedanke ist bedingt durch diese Lücke. Er ist das Korrelat der Asymmetrie unserer Existenz. Er steht für das, ohne das wir nicht wären und niemand sein könnte. Aber er erklärt nicht, warum es so ist. Er sagt nur, dass philosophisch der ›Gott‹ genannt wird, zu dem sich alle allein dadurch verhalten, dass sie da sind. Oder präziser: Jeder, der derjenige ist, ohne den niemand existieren würde, ist der, der philosophisch ›Gott‹ genannt wird.

Dieser Gottesgedanke erklärt nichts, sondern eröffnet einen Denk- und Diskursraum, in dem man über Existenzfragen streiten kann. Jeder kann seine Existenz auf anderes Existierendes zurückführen. Aber dass es Existierendes gibt, ist so nicht zu erklären. Es könnte auch nicht so sein. Die Faktizität der Existenz lässt immer mehr erkennen als das, was man im Rekurs auf sie erklären kann. Mit der Einführung des Gottesgedankens wird das nicht besser. Er erklärt nicht das, was man anders nicht erklären kann. Er steht vielmehr dafür, dass man es nicht erklären kann, aber auch nicht muss, wenn man existiert. Eine existenzphilosophisch entworfene Religionsphilosophie verwendet den Gottesgedanken nicht als Erklärungsbegriff, sondern als Grenzmarkierung – als Hinweis auf die Grenze aller Erklärungsbemühungen. Wer erklärt, nimmt das in Anspruch, und wer es ablehnt, auch. Nur wer existiert, kann das anerkennen oder ablehnen. Aber wer existiert, verdankt das nicht sich oder einem anderen wie uns, sondern einer Wirklichkeit, der sich wir und er verdanken. Die faktische Asymmetrie der Existenz (wir könnten auch nicht sein und haben uns nicht selbst gemacht) lässt sich argumentativ nie in eine positive Erklärung von Existenz (wir sind durch Gott gemacht) überführen. Alles Nachdenken, Denken und Erklären kommt hier immer zu spät. Diese prinzipielle Verspätung markiert der philosophische Gottesgedanke. Er zeigt an, was nicht geht. Aber er erklärt nicht, was geht.

Wir verdanken unsere Existenz nicht uns selbst oder jemand anderem wie uns. Das bedeutet nicht, dass wir sie Gott verdanken, jedenfalls nicht so, wie sich kontingente Phänomene anderen kontingenten Phänomenen verdanken. Man kann nicht aus dem Fehlen einer besseren Antwort auf Gottes Existenz als Erklärung unserer Existenz schließen. Aber man kann sagen, dass mit ›Gott‹ die in der Asymmetrie der Tiefenpassivität unserer Existenz mitgesetzte ursprüngliche Aktivität gemeint ist, auch wenn wir diese nicht positiv entfalten können, sondern immer nur negativ als Korrelat der existenziellen Grunderfahrung ›Wir haben uns nicht selbst gemacht‹. Und man kann sagen, dass man nicht positiv von Gott sprechen kann, ohne auf diese existenzielle Grunderfahrung Bezug zu nehmen. Der Hinweis, unsere Existenz sei eben eine bloße Tatsache, ist keine andere Antwort auf die Frage, sondern die Weigerung, sie zu stellen. Dass Gott derjenige ist, dem wir unsere Existenz verdanken, ist keine Entdeckung, sondern folgt aus der Grammatik des Gottesgedankens. Darum geht es, wenn Gott religiös Schöpfer genannt wird oder man auf andere Weise von dem spricht, dem man zusammen mit allen anderen sein Dasein verdankt.

Philosophisch ist der Gottesgedanke also nicht deshalb relevant, weil er aus der religiösen Rede und Praxis in bestimmten Religionstraditionen übernommen ist und deshalb vor dem Hintergrund anderer Religionen und religiösen Traditionen anders gefasst werden müsste, sondern weil er an der Asymmetrie kontingenter Existenz gewonnen wird und für die Entscheidung, wie man sein Leben versteht und als Mensch leben will, prinzipielle Existenzalternativen markiert: Versteht man sein Leben als Gottes Gabe und sucht entsprechend zu leben, oder tut man das nicht und lebt anders. Darum geht es bei der Gretchen-Frage, nicht um die Aufzählung aller Religionen, die man kennt und gerne noch kennenlernen würde. Es geht nicht um Religion, sondern um das Verständnis der eigenen Existenz.

Das führt nicht unmittelbar weiter zur positiven Entfaltung des Gottesgedankens in einer philosophischen Theologie. Religionsphilosophisch kann der Gottesgedanke auch als Grenzgedanke festgehalten werden, der nichts markiert, was erfahren werden könnte, sondern auf etwas verweist, ohne das man nichts erfahren könnte, auch wenn man es selbst nicht erfahren kann. Auch der negative Gebrauch des Gottesgedankens hat sein gutes Recht. Und schon er eröffnet Möglichkeiten, im derzeitigen Streit über die Umstellung religionsphilosophischer Arbeit von der Beschäftigung mit Religion zur Beschäftigung mit Religionen nicht auf eine falsche Spur zu geraten.

Nicht die Steigerung der Zahl der Religionsphänomene und Religionstraditionen, mit denen man sich auseinandersetzt, ist der Weg aus der Krise der Religionsphilosophie, sondern der existenzphilosophische Rückgang auf die Erklärungslücke der Existenz der Menschen, die religiös oder nichtreligiös leben, ist Grund, sich philosophisch mit Religion zu befassen. Die asymmetrische Tiefenpassivität menschlicher Existenz und die existenzielle Unvermeidlichkeit der Frage nach dem, was für uns als Menschen gut ist, nötigen zur Religionsphilosophie. Ohne deren Frage nach unserer Existenz stehen alle anderen Fragen der philosophischen Anthropologie nach dem, was wir wissen können, tun sollen oder hoffen dürfen in Gefahr, sich mit der Erkundung von Möglichkeiten zu begnügen und nichts zur Klärung der Herausforderungen im wirklichen Leben beizutragen. Wir leben in dieser Welt, nicht nur in irgendeiner möglichen Welt. In dieser Welt existieren wir, auch wenn es keinen für uns erkennbaren Grund dafür gibt. Und das weckt philosophisch die Frage nach Gott, die nie nur auf etwas Mögliches zielt, aber auch nicht auf etwas, was zur Erklärung von manchem Wirklichen im Unterschied zu anderem Wirklichen taugen würde, sondern immer ganz und gar auf dasjenige Wirkliche, ohne das nichts anderes möglich oder wirklich sein könnte.

Abstract



Philosophy of religion, as is often demanded today, must change from a philosophy of religion to a philosophy of religions, otherwise it has no academic future in a pluralistic world. It must deal with concrete religions and no longer with a theistic construct of religion, and it should look at religions worldwide in all their diversity. Some of these points of criticism are correct. However, the alternatives suggested do not offer a solution, but only multiply the problems. I therefore want to make a different suggestion. In German-speaking countries, the beginnings of philosophy of religion are closely linked to Kant's philosophy. From Kant we can learn that it is not questions of religion but existential problems that are at the center of philosophy of religion.

It is not primarily about knowledge of religion or religions, but about self-knowledge. Critical philosophy always aims to empower self-thinking, self-judgment and self-action, also as a philosophy of religion.

Fussnoten:

1) Horst Dreier zum 70. Geburtstag am 7. September 2024.
2) Vgl. Michael Ch. Rodgers/Richard Amesbury, Philosophy of Religion after »Religion«, Tübingen: Mohr Siebeck, 2023. Ich teile die Diagnose der Lage der Religionsphilosophie in der Gegenwart. Meine Überlegungen zur Neuausrichtung der Religionsphilosophie zielen aber in eine andere Richtung als die dort gemachten Vorschläge.
3) Definiert wird immer ein Wort, das semantische Resultat ist ein Begriff. Ich werde im Folgenden in dieser lockeren Weise vom Begriff ›Religion‹ oder vom Religionsbegriff sprechen. Ich verwende die Anführungszeichen » und « bei Zitaten, die Zeichen › und ‹ bei Wörtern, Begriffen und Beispielsätzen.
4) Es gibt Hunderte von Religionsdefinitionen, aber keine, die alle befriedigt. Vgl. James Henry Leuba, A Psychological Study of Religion, its Origin, Function, and Future, New York: AMS Press, 1969 (Nachdruck von 1912), 339–361; Richard Pauli. Das Wesen der Religion, München: Paul Müller 1947, 103–138; Josef Franz Thiel. Religionsethnologie: Grundbegriffe der Religionen schriftloser Völker, Dietrich Reimer: Berlin, 1984, 13; Thomas Schirrmacher, Zum Problem der vielfältigen Religionsdefinitionen, in: IRF Bulletin 1, 6 (2012): 3–20; Ludmilla Peters, Religion als diskursive Formation. Zur Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld: transcript 2021, bes. 23–27.
5) Was auch immer wir mit »Religion« meinen, wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die anthropologischen, sozialen und kulturellen Phänomene, an denen wir uns mit diesem Kontrastbegriff orientieren wollen, immer und überall dieselben sind. Der Sinn von »religiös«, »Religion« oder »Religiosität« ist nicht nur kontrovers und vielfältig, er verändert sich auch im Laufe der Zeit. Die Evolution von Kulturphänomenen ist aber kein Phänomen der Vergangenheit. Unterscheidungen zwischen Religion und X haben nicht nur eine Herkunftsgeschichte, die oft im Dunkeln verblasst, sondern möglicherweise auch eine Zukunft, die noch bevorsteht. Religionen (in welchem Sinn auch immer) sind nicht nur in der Vergangenheit entstanden. Sie entstehen auch heute und dürften das auch in Zukunft tun. Insofern liegt die Geschichte der Religion nicht nur hinter uns, sondern auch vor uns, wie vor allem John Schellenberg seit längerem argumentiert. Vgl. John L. Schellenberg, Prolegomena to a Philosophy of Religion, Ithaca: Cornell University Press 2005; The Wisdom to Doubt: A Justification of Religious Skepticism, Ithaca: Cornell University Press 2007, bes. 93f; The Will to Imagine: A Justification of Skeptical Religion, Ithaca: Cornell University Press 2009; Evolutionary Religion, Oxford: Oxford University Press 2013; Progressive Atheism: How Moral Evolution Changes the God Debate, Bloomsbury Publishing 2019; Religion After Science, Cambridge: Cambridge University Press 2019.
6) Vgl. Walter Jaeschke, Art. Religionsphilosophie, in: HWPh 8, 748f; zum Folgenden Ingolf U. Dalferth, The Passion of Possibility: Studies on Kierkegaard's Post-Metaphysical Theology, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2023, Part 1; Mehr als nur denkbar und anders als alles andere. Der Gottesgedanke bei Kant und bei Schleiermacher, in: Klaus Viertbauer/Stefan Lang (Hrsg.), Gott nach Kant?, Hamburg: Felix Meiner 2022, 230–253.
7) Alexander Pope, An Essay On Man: Being the First Book of Ethic Epistles. To Henry St. John, L. Bolingbroke, London: John Wright 1734, Epistle II, 1–2 (https://www.eighteenthcenturypoetry.org/works/o3676-w0010.shtml) (2/25/2022).
8) Samuel T. Coleridge, Poems, hrsg. von John Beer, London/New York: Everyman Library 1974, 337.
9) Jean Calvin, Institutio, I,1,2: »Rursum, hominem in puram sui notitiam nunquam pervenire constat nisi prius Dei faciem sit contemplatus, atque ex illius intuitu ad seipsum inspiciendum descendat.« Was Calvin hier vom Antlitz Gottes sagt, sagt Levinas vom Antlitz des anderen: Es macht den, der vor ihm steht und seinem Blick begegnet, zu einem anderen. Während bei Levinas aber das Antlitz des Anderen mich anfleht »Töte mich nicht!«, ruft bei Calvin das Antlitz Gottes einem zu »Fürchte dich nicht, ich töte dich nicht«. Das Antlitz des Anderen zwingt mich, mich meiner moralischen Verantwortung zu stellen, das Antlitz Gottes setzt mich frei von der Last der meiner Geschichte. Es wäre falsch, beides gegeneinander auszuspielen. Vgl. Emmanuel Levinas, Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe. Ein Gespräch, in: Concordia 4 (1983): 49 f.; Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Meiner 1989, 136; Schwierige Freiheit. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1996, 18; Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Alber 2002, 103.383; Frieden und Nähe, in: Verletzlichkeit und Frieden, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, 145 f.
10) Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen (hrsg. von Gottlob Benjamin Jäsche, 1800), Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Band IX, 25 (zitiert als AA mit Bandnummer und Seitenzahl). Kant nennt die drei modalen Fragen schon in »Kritik der reinen Vernunft«, A 805/B 833 (AA III, 522–532) und führt alle vier Fragen in seinem Brief vom 4. Mai 1793 an Carl Friedrich Stäudlin in Göttingen an (Briefwechsel, Band II: 1789–1794, AA XI, 429). Vgl. Robert B. Louden, Kant’s Human Being. Essays on his Theory of Human Nature, Oxford: Oxford University Press 2011; Patrick R. Frierson, Kant's Questions: What is the Human Being? New York: Routledge 2013.
11) Man notiert zwar, dass Kant die erste Frage der Metaphysik zuordnet, setzt dann aber unmittelbar hinzu, dass wir heute die Frage »weniger der Metaphysik, als vielmehr der Erkenntnistheorie zuordnen, als Teil der theoretischen Philosophie« (David Johann Lensing, Kants vier Grundfragen [https://dajolens.de/blog/kants-vier-fragen]). Dass es um etwas anderes gehen könnte, wird nicht erwogen.