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Ausgabe:

Mai/2024

Spalte:

400-402

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilk, Florian

Titel/Untertitel:

Der erste Brief an die Korinther.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023. X, 294 S. = Das Neue Testament Deutsch, 007,1. Geb. EUR 49,00. ISBN 9783525513880.

Rezensent:

Sabine Bieberstein

37 Jahre nach dem Erscheinen von Friedrich Langs Kommentar zum Ersten Korintherbrief (1Kor) in der Reihe »Das Neue Testament Deutsch« legt nun Florian Wilk, seit 2003 Professor für Neues Testament an der Georg-August-Universität Göttingen, eine Neukommentierung vor. Er kann dafür auf eine Reihe eigener Studien zu Paulus, den paulinischen Briefen und besonders der Korintherkorrespondenz sowie zur paulinischen Schriftrezeption zurückgreifen, wie dies auch ein eigens ausgewiesener Abschnitt der Bibliographie eindrücklich vor Augen führt. Der Band enthält nach Inhaltsverzeichnis und kurzem Vorwort eine kompakte Einleitung (1–11), die fortlaufende Kommentierung des 1Kor (13–245), den auf einer Seite zusammengefassten »Grundgedanken« des 1Kor (247), eine sortierte Auswahlbibliographie (249–252), ein Glossar häufig wiederkehrender Begriffe (253–255), ein Namens- und Begriffsregister (257–266) sowie ein umfangreiches Stellenregister (267–294).

Die Einleitung ist entsprechend dem allgemeinverständlichen Charakter der Kommentarreihe übersichtlich und knapp gehalten und verzichtet auf eine Diskussion unterschiedlicher Forschungspositionen. Den vier Abschnitten der Einleitung sind die vier Teile des Satzes »Paulus […] sandte der Gemeinde zu Korinth […] im Frühjahr 54 oder 55 von Ephesus aus […] den ersten Korintherbrief« jeweils als Überschrift vorangestellt. Entsprechend dieser Überschriften werden – zum Teil in mehreren Unterkapiteln – Informationen zum Leben und Wirken des Paulus, zur Stadt und zur christusgläubigen Gemeinde von Korinth, zur Entstehungssituation sowie zu Eigenart, Aufbau und Wirkung des Briefes geboten. Ein eigener Abschnitt zum Charakter und Vorgehen der vorliegenden Kommentierung schließt die Einleitung ab.

Als »charakteristisch« für den 1Kor identifiziert W. »das Programm, die mehrheitlich paganen Adressaten in einen sachgerechten Umgang mit den Heiligen Schriften einzuweisen (s. 1Kor 4,6 u. ö.): Sie sollen lernen, ihr Dasein ›in Christus Jesus‹ (1,30) gemäß den Maßstäben zu gestalten, die mit jenen Schriften gegeben sind, und es eben deshalb eschatologisch zu verstehen (s. 10,11 u. ö.).« (8) Mit diesem »biblischen Bildungsprogramm« fördere Paulus »zugleich die Einheit zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gemeindegliedern (s. 1,24 u. ö.).« (9)

W. geht von der Einheitlichkeit des Briefes (inklusive 14,33b–35) aus und gliedert ihn aufgrund sprachlicher Signale, »mit denen Paulus sich den Adressaten ausdrücklich und in grundsätzlicher Weise als Apostel Christi zuwendet,« (7) in drei Hauptteile (I. Zur Gruppenbildung in der Gemeinde 1,10–4,15; II. Zu Sexualsünde und Götzendienst 4,16–11,1; III. Zu Gottesdienst und Endzeithoffnung 11,2–16,4), die von Briefeingang (mit Brieferöffnung 1,1–3 und Einleitung 1,4–9) und Briefausgang (mit Epilog 16,5–18 und Briefschluss 16,19–24) gerahmt werden. Die Auslegung erfolgt sodann nach Sinneinheiten, die aufgrund weiterer sprachlicher und inhaltlicher Kriterien ermittelt wurden, und umfasst jeweils bis zu fünf Arbeitsschritte: Nach einer kurzen Beschreibung von Form und Inhalt der Texteinheit (A) erfolgt die Vers-für-Vers-Kommentierung (B), die einen deutlichen Schwerpunkt auf die Einordnung in relevante literarische Kontexte legt. Anschließend werden in drei meist kürzeren Abschnitten historische Informationen (C), Umfang und Relevanz der Schriftbezüge (D) sowie wesentliche Sinnaspekte des Textabschnitts (E) erschlossen.

Programmatisch bezieht W. neben literarischen und theologischen Aspekten auch historische Kontexte sowie die konkrete Kommunikationssituation in die Kommentierung ein, wenngleich sich diese »weithin nur nachträglich aus dem Text des Briefes erschließen« lasse und daher »nicht vorschnell seiner Deutung zugrunde gelegt werden« solle (9).

Der Auslegung stellt W. eine eigene Übersetzung voran, die durch eine Gliederung in Sinnzeilen sowie mittels Einrückungen die Textstruktur anschaulich werden lässt. Dabei wird der griechische Wortbestand in Fettdruck wiedergegeben und als Verstehenshilfe durch Passagen in Dünndruck ergänzt.

Auf diese Weise ist ein fundierter Kommentar entstanden, mit dessen Hilfe sich Leserinnen und Leser verlässlich und in gebotener Kürze informieren können. Hervorzuheben ist die konsequente Einordnung der Texte in verschiedene literarische Kontexte, in »eine jüdisch geprägte Vorstellungswelt« (15 u. ö.) und letztlich »in ein Beziehungsgefüge, das wesentlich jüdisch geprägt ist« (17 u. ö.), wovon nicht zuletzt auch das konsequente Verständnis der ekklēsia als »Versammlung Gottes« – und weniger in der demokratischen Tradition der griechischen poleis – zeugt. Vielfältige literarische Bezüge innerhalb des 1Kor und zu den anderen paulinischen Briefen machen paulinisches Denken nachvollziehbar, die Herausarbeitung der zahlreichen Schriftbezüge zeigen die Verankerung im jüdischen Kontext, die Bezüge zu außerbiblischen Texten verorten den 1Kor im literarisch-historischen Kontext. Hilfreich ist die Einordnung der einzelnen Textpassagen in korinthische Gemeindesituationen und -diskussionen im Arbeitsschritt C, auch wenn dies meist nur in Form knapper Skizzen erfolgt. So wird beispielsweise Schritt für Schritt herausgearbeitet, dass Anlass für die Gruppenbildung in Korinth das Auftreten des Apollos war (26 f.), der von einigen Gemeindeangehörigen wegen seiner »weisheitlichen Beredsamkeit geschätzt« worden sei (28). Seinen Anhängern sollte ein »anderer Schriftgebrauch« nahegebracht werden, »der das Evangelium gerade in seiner skandalösen Dimension (s. Gal 5,11) als schriftgemäß zur Geltung bringt« (33). In diesem Bildungsprogramm sollten Paulus die wenigen »Weisen, Mächtigen, Edlen«, also die Gebildeten der Gemeinde unterstützen (ebd.). Oder es wird deutlich, dass das Verhalten von Frauen und Männern im Gottesdienst möglicherweise aus einem radikalisierten Weiterdenken der paulinischen These aus Gal 3,28 resultierte (152). Darüber hinaus sind die vertiefenden Betrachtungen zur Schriftrezeption im Arbeitsschritt D erhellend, und die Bezüge zur heutigen Gemeindepraxis, die fast konsequent im Arbeitsschritt E hergestellt werden, geben – meist knapp gehaltene – Denkanstöße und Handlungsimpulse für heute.

Wie bei jedem Kommentar geben manche exegetische Entscheidungen auch Anlass zu Nachfragen. So wird die Ungleichbehandlung ärmerer Gemeindemitglieder beim Herrenmahl auf die räumliche Trennung von Gruppen aufgrund der architektonischen Gliederung des Hauses zurückgeführt (160), eine durchaus plausible These; doch wäre vom griechischen Text her auch eine Ungleichbehandlung aufgrund eines zeitlichen Nacheinanders her denkbar. Auch die Zuordnung der Passage 14,33b–35 zum ursprünglich paulinischen Textbestand wäre zu diskutieren. Mit Blick auf die Übersetzung wäre zu fragen, ob die Wiedergabe von porneia als »Sexualsünde« oder von parthenoi als »keusche Mädchen« eine glückliche Wahl darstellt. Die Ergänzungen der Übersetzungen im Dünndruck helfen einerseits dem leichteren Verständnis des Textes, verengen jedoch bisweilen die Verstehensspielräume, die der Text lässt. Dagegen ist die konsequente Übersetzung von adelphoi als »Geschwister« erfreulich, wenngleich inklusive Sprache ansonsten im Kommentar eher selten zum Zug kommt. Grundsätzlicher zu fragen wäre, ob die Auslegung nicht an Anschaulichkeit gewonnen hätte, wenn sie noch konsequenter in sozialgeschichtliche Zusammenhänge eingebunden worden wäre und weniger stark von einer apostolischen Autorität des Paulus und stattdessen mehr von den Lebenszusammenhängen der kleinen und meist den unteren Bevölkerungsschichten angehörenden christusgläubigen Minderheit in der Großstadt Korinth her gedacht worden wäre. Dies alles tut aber der großen Leistung dieses Kommentars keinen Abbruch.