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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

351-352

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rowlands, Anna

Titel/Untertitel:

Towards a Politics of Communion. Catholic Social Teaching in Dark Times.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2021. 336 S. Kart. £ 25,99. ISBN 9780567242730

Rezensent:

Marianne Heimbach-Steins

Anna Rowlands (Universität Durham, UK) gehört zu den renommiertesten Experten für kirchliche Sozialverkündigung und Politische Theologie in England; in diesem Band verknüpft sie beide Diskursstränge. Der auf H. Arendts Men in Dark Times (1970) anspielende Untertitel indiziert den (welt-)gesellschaftlichen Kontext und den Bezug auf die epochalen Krisen der Moderne, deren ethischer Bearbeitung die kirchliche Sozialverkündigung seit dem späten 19. Jh. verpflichtet ist (vgl. 2–5; XI–XIII: Vorwort von Kard. Czerny SJ,). R. zeichnet deren Dynamik von der ersten Sozialenzyk-lika Rerum novarum (1891), deren 130. Jubiläum den Anlass für das Buch gab, bis zur Enzyklika Fratelli tutti (2020) nach. Dass die thematischen Längsschnitte meist von Texten der pianischen Epoche her entwickelt werden, ist der Konzentration auf politisch-ethische Themen geschuldet. R. geht es weniger um historische Bestandsaufnahme als um das orientierende Potential der Tradition, das sie ideenpolitisch kontextualisiert. Dementsprechend fokussiert sie Zeichen der Zeit, die nach sozialethischen Antworten verlangen, wie die durch ökologische Verwüstung, wirtschaftliche und politische Krisen forcierte Migration (vgl. Kap. 3).

Den hermeneutischen Kompass der Untersuchung beschreibt die titelgebende Formel Politics of Communion. Der Gedankengang kreist um (theologisch-)ethische Grundlagen einer weltumspannenden politischen Gemeinschaft in der kirchlichen Sozialverkündigung. R. möchte deren Potential nicht nur für katholische »Insider« erschließen, sondern auch für Rezipienten und Rezipientinnen, die sich aus einer Außensicht dafür interessieren. Deshalb setzt sie ihre dezidiert christlich-theologische Perspektive philosophischen Einwänden und Anfragen aus; u. a. nimmt sie Bezug auf Hannah Arendt, Simone Weil und Primo Levi. In der Einleitung (8–10) greift sie Arendts Kritik an der christlichen Gemeinwohl-Tradition auf, eine religiöse Ethik, die vor allem von der personalen Perspektive aus denke, vermöge die genuin politische Ebene nicht angemessen zu konzeptualisieren. Gegen diese Warnung verteidigt R. ihre Entscheidung für die Semantik der Gemeinschaft (communion) mit dem Argument, das In-Beziehung-Sein, in der liturgischen Symbolsprache des Christentums sinnenfällig ausgedrückt im Teilen von Brot und Wein, bilde ein Remedium gegen die moderne Atomisierung des Zusammenlebens, gebe der Bindung des körperhaften Menschen an die materielle, geschaffene Lebensgrundlage Ausdruck und repräsentiere Selbstüberschreitung, Gabe und Austausch als Modi öffentlichen Umgangs (vgl. 9–11). Diese Argumente sind grundlegend für den gesamten Band.

Ihre historisch-systematische Rekonstruktion der päpstlichen Sozialverkündigung (Kap. 1) beginnt R. mit einer Momentaufnahme zu drei zeitlich und intentional eng verbundenen Schreiben Pius XI. aus dem Jahr 1937: Neben den Positionierungen gegen die in Europa vorherrschenden totalitären Ideologien (Mit brennender Sorge und Divini redemptoris) berücksichtigt sie den in Deutschland selten zitierten Brief (Nos es muy conocida) zur Situation der Unterdrückung und Verfolgung der mexikanischen Katholiken. Alle drei Texte demonstrieren die Bedeutung, die der Auseinandersetzung mit »säkularen politischen Theologien« (16) in der päpstlichen Soziallehre zukommt: Ideen-Politik sei nicht weniger relevant als die Auseinandersetzung mit politischen Praxen (17). Unter diesem Vorzeichen skizziert sie – mit Ausgriffen insb. in die mittelalterliche Scholastik – die Traditionsentwicklung in thematischen Strängen zum Verhältnis Kirche – Gesellschaft/Staat, zum Wandel der naturrechtlichen Denkform hin zu einer theologischen Aneignung menschenrechtlichen Denkens sowie zum Wandel der Haltung zu Krieg, Frieden und Gewaltfreiheit (samt der Lehrentwicklung zur Todesstrafe).

Die virtuose Systematisierung präludiert die folgende Diskus-sion normativer Potentiale der Sozialverkündigung: Sechs der insgesamt elf Kapitel sind den Topoi Menschenwürde (Kap. 2–4) und Gemeinwohl (Kap. 5–7) gewidmet. Die gründlichen Sondierungen zu beiden Themenkomplexen rekonstruieren jeweils Entwicklungslinien in der Sozialverkündigung, greifen Kontroversen auf und erproben die Argumentationsmuster in Bezug auf zeitgenössische Probleme politischer Ethik. So zeigt R. etwa, wie das Menschenwürde-Argument in der Auseinandersetzung mit (erzwungener) Migration das Plädoyer für grundsätzlich durchlässige Grenzen im Sinne einer prinzipiell universalen politischen Gemeinschaft und damit eine kosmopolitische Positionierung stützt. Und sie diskutiert die Kontroversen um »soziale« bzw. »strukturelle Sünde« zwischen theologisch innovativen Bewegungen (v. a. den Theologien der Befreiung) und dem römischen Lehramt mit Blick auf die Implikationen für den Gebrauch des Menschenwürde-Arguments. Die Erörterung zu Demokratie und politischer Gemeinschaft (Kap. 8) fokussiert die politisch-ethischen Umbrüche der Konzilszeit. Das vieldiskutierte Subsidiaritätsprinzip wird als »Prin- zip der Partizipation und der sozialen Steuerung« (215) im Hinblick auf die institutionellen Krisen und die notorischen Phänomene des Machtmissbrauchs in der Kirche problematisiert (Kap. 9). Das in der lehramtlichen Tradition komplementäre Solidaritätsprinzip entfaltet R. als ontologisches und ethisches Prinzip sowie – daraus resultierend – als strukturellen Anspruch an Institutionen (Kap. 10). Kapitel 11 beleuchtet den Grundsatz der Gemeinwidmung der Erdengüter (Kap. 11) im Sinne der jüngsten Sozialenzykliken als zentrale Orientierung für die Zielperspektive einer ganzheitlichen Ökologie und als Vorzeichen einer zeitgenössischen sozialethischen Eigentumstheorie. »Das Prinzip der universellen Bestimmung der Güter bildet die Grundlage, um über Menschenrechte und -pflichten sowie über eine ökologische Ethik nachzudenken. Es könnte viel dazu beitragen, aufbrechende Fragen nach angemessenen postkolonialen Antworten zu beantworten.« (281, eigene Übersetzung) Dass R. in Verbindung damit den Blick auf die theo-logische Würdigung der Arbeit in der kirchlichen Sozialverkündigung lenkt, ist der Sache nach plausibel, wirkt gleichwohl im Duktus der politisch-ethisch fokussierten Untersuchung etwas angehängt.

R. schöpft aus profunder Vertrautheit mit der päpstlichen Sozialverkündigung und erschließt Dynamik, Kontextualität und Intentionen dieser Tradition in sehr erhellender Weise. Über die politische und philosophische Kontextualisierung hinaus geht es ihr um eine genuin theologische Fundierung politisch-ethischer Argumentationen. Das Anliegen markiert, über die lehramtliche Tradition hinaus, eine theologische Position, die sich gegen eine Reduktion der christlichen Botschaft auf deren ethischen Anspruch stemmt (vgl. 9; 293–301). Diesen Ansatz im Kontext deutschsprachiger christlicher Sozialethik und politischer Theologie zu diskutieren, könnte wechselseitig inspirieren, ggf. auch provozieren. Umso bedauerlicher ist die auch an diesem lesenswerten Buch zu beobachtende Nichtrezeption deutschsprachiger Literatur in englischsprachigen Studien. Ein ausführliches Sachregister und eine Liste der lehramtlichen Quellen zur Sozialverkündigung unterstützen die Lektüre des materialreichen Bandes; leider fehlt ein Literaturverzeichnis.