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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

626-628

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bondolfi, Alberto

Titel/Untertitel:

Handeln in einer mehrdeutigen Welt. Theologische Ethik. M. e. Beitrag v. Th. Wallimann-Sasaki zu Kriterien, Methode und Themen angewandter christlicher Ethik. Hrsg. v. theologiekurse.ch.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich (Edition NZN bei TVZ) 2020. 337 S. = Studiengang Theologie, VIII. Kart. EUR 35,90. ISBN 9783290201142.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Es handelt sich um den abschließenden Band einer Reihe von Einführungen in die Themenbereiche des theologischen Fächerkanons, die von einer schweizerischen Einrichtung der katholischen Erwachsenenbildung verantwortet wird. Es sollen Laien befähigt werden, sich mit Hilfe des Bandes im Selbststudium Inhalte der Ethik anzueignen (6, Geleitwort der Herausgeber der Reihe). Der Hauptverfasser des Bandes, der katholische Ethiker Alberto Bondolfi legt dabei den Schwerpunkt auf die allgemeine im Gegensatz zur angewandten Ethik und fragt nach den Grundlagen des Faches, die er in historischer und systematischer Hinsicht problemorientiert erläutert. Nach einem ausführlichen Teil über die Geschichte der theologischen Ethik (29–94) werden eine Reihe von Grundthemen aufgegriffen: das Verhältnis von angewandter und allgemeiner Ethik (111 ff.), die biblische Begründung der Ethik (127 ff.), das Verhältnis der Ethik zum Recht (137 ff.), die Frage nach ›autonomer Moral‹ (157 ff.) bis hin zu Sünde (235 ff.) und der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium (251 ff.), ein ausgesprochen evangelisches Thema. Im Anschluss folgt ein Beitrag von Thomas Wallimann-Sasaki, der sich mit Grundfragen angewandter Ethik (261–306) beschäftigt.

B. ist sich der Schwierigkeit einer theologischen Ethik in der Gegenwart durchaus bewusst. Deswegen will er argumentativen Kontakt zu Philosophie, Recht und Sozialwissenschaften halten. Seine ethischen Reflexionen sollen ökumenisch offengehalten sein, obwohl er eine »Vertrautheit mit der katholischen Kirche« voraussetzt (18) und darum – wie die Lektüre zeigt – die Vertrautheit mit katholischer Ethik und ihrer Geschichte den Text zu großen Teilen bestimmt. Auf dieser Grundlage konstatiert B. ein komplexes Verhältnis zwischen philosophischer und theologischer Ethik (20 f.), dass er in seinen vielfältigen Facetten ernst nimmt. Theologische Ethik darf nicht etwa auf die Entfaltung von Geboten Gottes oder auf zeitlos gültige prinzipienethische Setzungen reduziert werden.

Das lange Kapitel über die Geschichte der Ethik enthält ausführliche Zitate und orientiert sich an den klassischen Positionen: Augustin, Thomas, Duns Scotus etc.. Ausdrücklich bemüht sich B., keine katholische Sicht der Neubestimmung des Ethischen in der Reformation vorzulegen (62). Knapp referiert werden in diesem Kapitel Rechtfertigungslehre, sein Verständnis von Gesetz und Evangelium sowie die Zweireichelehre. Und die reformierten (Zwingli, Calvin), schweizerischen Positionen der Reformation werden ebenfalls berücksichtigt (69 f.).

Im folgenden systematischen Teil trifft B. eine dreifache Unterscheidung. Er postuliert Moral als Alltagsethik und -orientierung; Ethik versteht er als Reflexion der Moral bzw. als systematische Moralphilosophie. Metaethik schließlich beschreibe als die »innere Analyse der Sprache der Moral« (98) die Vorgänge ethischer Urteilsbildung. Solche Metaethik dürfe nicht aus dem Diskurs ausgeblendet werden (109). Er selbst nimmt bei der Frage nach der Geltung von Normen eine mittlere Position (104) ein. Normen sind nicht so evident wie naturwissenschaftliche Sätze der Wahrnehmung. Normen sind aber auch nicht beliebig subjektiv.

In der Folge unterscheidet B. zwischen deontologischen und teleologischen Formen der Ethik (112 f.). Das führt er weiter als Unterscheidung zwischen »kantianischen« und »aristotelischen« Ethikmodellen (115 ff.).

Im Kapitel über die biblische Fundierung der Ethik lehnt B. alle Fundamentalismen und unmittelbaren Begründungen ethischer Prinzipien aus der Bibel ab. Stattdessen müsse gewährleistet sein, dass die Ethik letztlich »die narrative Logik der in den biblischen Texten enthaltenen moralischen Botschaft in argumentative Diskurse transformieren kann« (135).

Immer wieder verhandelt B. spezifisch katholische Probleme der Ethik, so die Theorie der »autonomen Moral«, die Normbegründung in der Kirche nach der Enzyklika »Veritatis splendor«, Kasuistik und Beichtpraxis. Evangelische Positionen werden manchmal ein wenig oberflächlich referiert (z. B. 189 f.)

Es ist die Stärke dieses Bandes, dass B. die Kapitel dieses Lehrbuchs für Nicht-Theologen eben nicht durch das Referieren von Lehrpositionen entfaltet. Er führt stets problemorientiert ein, zeigt unterschiedliche Positionen auf und spielt immer wieder eigene Stellungnahmen ein (z. B. 190 f.). Auch letzteres halte ich für eine Stärke seiner Ausführungen. Am Ende seiner Ausführungen spricht B. vieldeutig von Spagaten (259), die es in der theologischen Ethik auszuhalten gelte, im interdisziplinären Dialog mit der Philosophie, im Dialog mit Recht, Politik und Öffentlichkeit, im ökumenischen Dialog mit der evangelischen Theologie.

Merkwürdig wirkt angesichts der Reflexionen B.s der zusätzlich angehängte Beitrag von Thomas Wallimann-Sasaki über angewandte Ethik. Denn nun werden plötzlich nochmals grundlegende Begriffe definiert (266 f.), nun werden nochmals grundlegende Kriterien ethischer Entscheidungsfindung bedacht (268 ff.). In anderen Worten: Auch W.-S. reflektiert in grundsätzlicher Absicht über die Fragen angewandter Ethik. Es wird nicht recht ersichtlich, wie er darin über eine Verdoppelung des bereits Gesagten hinauskommt. Und es ist – Frage an die Herausgeber – nicht ersichtlich, welchen Mehrwert dieser Beitrag den Lesern gegenüber den Ausführungen B.s vermitteln soll. W.-S. reflektiert ein zweites Mal über die Kriterien ethischer Entscheidungsfindung, definiert ein lange bekanntes, ethisches Entscheidungsmodell (Sehen – Urteilen – Handeln; 284 ff.), das den differenzierten Reflexionen B.s gar nicht standhält. W.-S. hebt ab auf das christliche Menschenbild, das die christliche Ethik von anderen Ethiken unterscheide: »Das Leben ist ein Geschenk Gottes und der Mensch ein Abbild Gottes. Dies ist Dreh- und Angelpunkt für das biblisch-christliche Menschenbild.« (282) In dieser statischen, prinzipiellen Fassung und Richtigkeit ist der Satz eine schlichte Revision der feinfühligen, vorsichtig argumentierenden Interpretation B.s über die Begründung biblischer Aussagen in der christlichen Ethik. Außerdem wäre im Gefolge dieser These zur Gottebenbildlichkeit über Menschenwürde und -rechte einiges zu sagen, aber W.-S. bezieht sich ausschließlich auf ein eigenes Buch über Drogenpolitik.

Der Schlussabschnitt dieses Zusatzaufsatzes (305 f.) macht das Dilemma sehr deutlich. Es handelt sich – wie W.-S. selbst konzediert – weitgehend um Wiederholung und Umschreibung, die keine eigenen Akzente mehr setzt. Der Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln kann jedenfalls nicht das Neue gegenüber B. gewesen sein, auch nicht die Referenz auf das christliche Menschenbild. Es wäre nach meinem Urteil sinnvoller gewesen, in einem zusätzlichen Beitrag an einem einzigen aktuellen Beispiel (z. B. Schwangerschaftsabbruch, gewerbsmäßige Sterbehilfe) das komplexe Zusammenspiel von Urteilsbildung, Normen, Handeln und Einbringung christlicher Positionen in die öffentliche Diskussion zu zeigen.

Es überzeugt an B.s Reflexionen, dass Interdisziplinarität ganz ernst genommen wird. Die ökumenische Dimension der Ethik wird anerkannt, könnte aber noch weiter entfaltet werden. Es ist die Frage, ob Anfänger mit der ausführlichen historischen Darstellung am Anfang nicht überfordert sind. Es wäre zu diskutieren, ob dieser Abschnitt nicht hätte gestrichen werden können, zumal sich B. in seinem historischen Abriss an der Geschichte der katholischen Ethik orientiert. Es wäre sinnvoller gewesen, diese historischen Abrisse in die systematischen Kapitel einzufügen, so wie das ja auch mit den philosophischen Ethiken von Aristoteles und Kant geschieht. Denn B. konzediert ja gerade, dass es so etwas wie katholische Ethik nicht mehr geben kann und betont ihren interdisziplinären, kooperativen Charakter, der sich auch in einer anderen Wissenschaftsorganisation wird ausprägen müssen.