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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

356-357

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kraemer, Charles, u. Beat Näf

Titel/Untertitel:

Eremit im frühen Mittelalter. Amatus von Grenoble, Saint Maurice d’Agaune, Luxeuil und Remiremont (ca. 570 – ca. 629).

Verlag:

Regensburg: Verlag Schnell & Steiner 2021. 160 S. m. 40 Abb. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783795437091.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Gegen Ende des 7. Jh.s entstand in dem austrasischen Doppelklos-ter Remiremont eine Vitentrilogie über die ersten drei Äbte des Klosters, Amatus, Romaricus und Adelphius. Diese Trilogie ist ein wichtiger Mosaikstein für die historische und theologiegeschichtliche Rekonstruktion der aus iroschottischer Tradition stammenden Mönchsbewegung, die im frühen, vorkarolingischen Mittelalter das Frankenreich prägte, und sie ist – methodische Umsicht vorausgesetzt – ein hervorragendes Übungsfeld für den Umgang mit hagiographischen Texten.

Beat Näf, emeritierter Althistoriker an der Universität Zürich, und Charles Kraemer, archäologischer Leiter der Ausgrabungen auf dem Saint-Mont bei Remiremont, haben es unternommen, den ersten Teil dieser Trilogie, die Vita Amati, in einer neuen, zweisprachigen, mit ausführlicher Einleitung versehenen Fassung herauszugeben. Amatus war fast drei Jahrzehnte Mönch im Klos-ter St.-Maurice d’Agaune gewesen, neigte aber schon dort der eremitischen Lebensweise zu, weshalb er sich in den nahegelegenen Bergen in eine Klause zurückzog. Als er später in das einst von Columban gegründete Kloster Luxeuil berufen wurde, gründete er von dort aus mit Hilfe des Adeligen Romaricus ein Doppelklos-ter in der Einsamkeit der Vogesen, Remiremont. Aus St.-Maurice brachte er die liturgische Form des ununterbrochenen Gotteslobes durch Psalmengesang (laus perennis) mit und führte diese in Remiremont ein.

Der vorliegende Band arbeitet nach einer Einführung über die Gestalt des Amatus (= »der Geliebte«), die besonders auf seine charismatische Wirksamkeit abhebt (17–24), den Forschungsstand zur Vita unter historisch-archäologischen und editionsgeschichtlichen Aspekten auf (25–32). Überaus instruktiv ist der Vorgang des literarischen Zusammenwachsens der Vita »unseres« Eremiten Amatus mit der Vita eines Bischofs Amatus von Sitten bzw. Sion, der dann überdies als Bischof Amatus von Sens in die Quellen einging (33–35): Solche Verwechslungs- und Wachstumsprozesse zeigen, dass eine biographische Entwicklung vom Eremiten zum Bischof, wie sie gelegentlich tatsächlich vorkam, lange Zeit für typisch und für vollkommen plausibel gehalten wurde. In einem Abschnitt über Hauptanliegen und Umfeld der Amatusvita zeichnen die Autoren den Text in den Zusammenhang der Vitenliteratur der Columbanbewegung ein (37–43). Ein Kapitel über die Wertschätzung asketischer Lebensweise (der Eremit als confessor) lässt verstehen, wieso die frühmittelalterlichen Eremiten immer wieder in priesterlich-seelsorgerlicher, aber auch in klostergründender und -leitender Funktion anzutreffen waren (45–52). Von hohem Wert für die Liturgiegeschichte sind die Ausführungen über die laus perennis als Spezifikum von St.-Maurice und später eben auch von Remiremont (59–72). Im umfangreichsten Teil der Einleitung werden Amatus und die Vita Amati in den geschichtlichen und theologiegeschichtlichen Kontext des frühen Mittelalters eingezeichnet (73–115). Den Abschluss der Einleitung bilden schließlich erhellende Ausführungen über mentalitäts- und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte der Vita (117–124) sowie eine hilfreiche Auswahlbibliographie zu Quellen und Sekundärliteratur.

Das eigentliche Herzstück des Buches ist natürlich die Vita des Amatus selbst. Dargeboten wird eine zweisprachige Fassung (138–159). Der lateinische Text beruht – bei gelegentlichen leichten Abweichungen – auf der über 100 Jahre alten Ausgabe von Bresson; eine kritische Neuedition erschien nicht erforderlich, weil in den Manuskripten die Unterschiede in den Lesarten nur geringfügig und ohne inhaltliche Signifikanz sind. Die deutsche Übersetzung ist durchweg zuverlässig. Hilfreich ist die über den Fußnotenapparat vorgenommene Kommentierung ausgewählter Stellen, durch die Anspielungen identifiziert und aufgehellt werden, die für den modernen Leser schwer aufzuspüren sind (z. B. 154 f. no. 19).

Insgesamt handelt es sich um ein verdienstvolles Werk, das eine bisher wenig beachtete Quelle aus der frühmittelalterlichen Vitenliteratur einem breiteren Kreis von Interessenten zugänglich macht – nicht nur durch die deutsche Übersetzung des Textes, sondern auch durch die perspektivenreiche Einleitung, die den historischen, literarischen und kirchen- und theologiegeschichtlichen Kontext bereitstellt. Die ansprechende Gestaltung und die reiche Bebilderung des Bandes mit Fotografien von Ortslagen und Reliquien sowie aussagekräftigem Kartenmaterial sorgen zudem dafür, dass es ein »schönes« Buch geworden ist, das man gern zur Hand nimmt.