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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

78-80

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Becker, Eve-Marie, u. Christina Hoegen-Rohls [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Exegese als theologische Streitkultur. Willi Marxsen zum 100. Geburtstag.

Verlag:

Münster: Aschendorff Buchverlag 2020. 160 S. Geb. EUR 32,00. ISBN 9783402247389.

Rezensent:

Felix John

Wie dem hilfreichen, von Hans-Christian Kuschnerus zusammengestellten Überblick über Leben und Wirken Willi Marxsens zu entnehmen ist, kam der Geehrte im Jahr nach dem Matrosenaufstand in Kiel zur Welt. Nach der ebendort vollzogenen Promotion mit einer Arbeit zu den Einsetzungsberichten zum Abendmahl führte ihn der Weg über eine Professur an der Kirchlichen Hochschule Bethel nach Münster. Besonders beeindruckt die Produktivität des dortigen Schaffens. Schwerpunkte legte Marxsen auf Themen wie Christologie, Auferstehung, Redaktionsgeschichte des Markus-evangeliums, historisch-kritische Methodik, Exegese und Predigt. Daneben verfasste er auch eine Einleitung, eine Ethik sowie Kommentare zu den beiden Thessalonicherbriefen. Marxsen starb 1993 in Münster. Dort fand anlässlich seines 100. Geburtstags im Jahr 2019 ein Symposium statt. Eve-Marie Becker und Christina Hoegen-Rohls haben die dort gehaltenen Vorträge sowie zwei eigens für die Publikation verfasste Beiträge herausgegeben.

Die beiden Herausgeberinnen verstehen ihr Buch als Beitrag zu einer Erinnerungskultur, die sich zwischen Lebens-, Geistes-, Theo-logie- und Zeitgeschichte bewegt. In ihrer Einführung suchen sie nach Spuren Marxsens auf ihren eigenen Wegen, die jene des Jubilars nie gekreuzt haben. So erinnert sich Becker an die Zeit des Streits zwischen der Bewegung »Kein anderes Evangelium« und unter anderen Marxsen. Hoegen-Rohls verknüpft die ›Gründung‹ der Redaktionsgeschichte sowie das Interesse an Auferstehungskonzepten mit Marxsen; Themen, die in den Beiträgen des Bandes aufgegriffen werden.

Den biographisch-autobiographischen Ansatz greift der erste Beitrag auf. Er stammt von Susanne Heine, bis 2010 Praktische Theologin in Wien. Sie erzählt von ihrer ungleichen, aber treuen Brieffreundschaft mit Marxsen. Den etablierten akademischen Lehrer hatte sie während ihrer Assistentinnenzeit anlässlich eines Gastvortrags kennengelernt. Marxsen war von ihren Überlegungen zur damals beliebten Fachdidaktik angetan. Er teilte die Hoffnung, durch sachte hochschulkonzeptionelle Neuerungen Teile der Studentenbewegung von ihrer Militanz abzubringen. Die Briefpassagen werfen Schlaglichter auf Marxsens intellektuellen und persönlichen Kosmos, der mit den Zeitgeschehnissen verwoben ist. Zitiert sei der Bericht über eine ›historisch-kritische Weihnachtsfeier‹ im Jahr 1976. Während draußen eine Demonstration stattfand, stellten Marxsens Hörer Kerzen auf die Bänke: »Nachdem wir […] die Kindheitsgeschichten ›auseinandergenommen‹ hatten, hätte manches fromme Gemüt sicher seine Kerze am liebsten ausgeblasen. Ich merkte das und verwandte nun besondere Mühe auf die ›Lehre‹: Wir wollen nun einmal nicht tote Texte betrachten, sondern nach denen fragen, die sie formuliert haben […] Diese Lehre gelang; und dann wurde eine Weihnachtsfeier ›erarbeitet‹, die einigen sichtbar die Sprache verschlug« (21 f.). Die Korrespondenz Heine-Marxsen spiegelt auch positionelle Differenzen wider. Kritisch blickt Heine auf (u. a.) Marxsens Gedanken, man müsse sich von der Sache Jesu betreffen lassen – woraufhin er es als seine – oft fruchtlos bleibende – Mission angesehen habe, das Sich-Betreffen-Lassen seiner Hörer zu provozieren. Marxsen wiederum anerkennt das Anliegen Feministischer Theologie, bestreitet aber ihr Recht, auf historischer Ebene zu arbeiten. Abschließend charakterisiert Heine Marxsen als »einen im besten Sinne des Wortes frommen Menschen, der nicht aufgehört hat, auf das sichtbare Hereinbrechen der Gottesherrschaft zu warten« (68) – und der versucht habe, seine Vorstellung von einer eschatologischen Existenz in Jesu Sinne zu verwirklichen.

Paul-Gerhard Klumbies porträtiert Marxsen im Kontext der damaligen theologischen Großwetterlage. Bewusst habe er zwischen den Stühlen operiert, etwa mit dem Anliegen einer predigtnahen Exegese oder seiner »Parteinahme« für Petrus im Antiochenischen Streit. Weder mit Bultmanns Osterzäsur noch mit der als solche empfundenen Beschränkung auf historische Rekonstruktion bei den Liberalen habe er mitgehen können. Marxsens nichtsoteriologische Interpretation des Todes Jesu sowie die Betonung eines Christus praesens hätten als Gesprächsansätze mit Liberalen bzw. mit Frommen dienen können; zustande sei das aber nicht gekommen. Anekdotisch berichtet Klumbies von einem bisweilen kasernenhofartigen Ton des früheren Weltkriegsoffiziers einerseits, von der Seminararbeit andererseits: »Wir saßen im Karree, auf den blanken Tischen ließ Marxsen Aschenbecher platzieren, Bücher und Papier waren zunächst nicht vonnöten. Stattfinden sollte ein rein akademisches Gespräch zu Marxsens theologischen Gedanken« (87). Retrospektiv betrachtet, habe Marxsen nach der Dominanz christologischer Fragestellungen dem Gottesthema in der neutestamentlichen Wissenschaft den Weg geebnet.

Dem geistes- und theologiegeschichtlichen Woher der Marx-sen’schen Auferstehungsthesen geht der Beitrag von Jan Rohls nach. Letztere werden zunächst in ihrem Argumentationszusammenhang vorgestellt, sodann in den zeitgenössischen Vergleich mit den Positionen Bultmanns (Auferstehung ins Kerygma), Barths (Tat Gottes) und Pannenbergs (Auferstehung in einem spezifischen Sinn als historisches Ereignis) gebracht. Der Durchgang durch die Vorgeschichte setzt bei der altprotestantischen Orthodoxie ein. Mit ihrer Tendenz zur Harmonisierung von zudem wortwörtlich verstandenen Texten setzten sich die englischen Deisten, dann die französischen Aufklärer kritisch auseinander. Die über Reimarus, Lessing, Schleiermacher bis Baur gezogene Linie zeigt, wie eng moderne Positionen mit ihren Vorläufern verknüpft sind.

Der letzte Beitrag stammt von Jörg Breitschwerdt, Pfarrer der württembergischen Landeskirche. Er lenkt den Blick in die frühen Jahre des akademischen Lehrers Marxsen. Als erster nicht konservativer Dozent lehrte er an der damals um den Fakultätsstatus bemühten Theologischen Schule Bethel. Mit der selbstverständlich auch von ihm vertretenen Trennung von Gotteswort und Heiliger Schrift stieß er auf vehemente Ablehnung in Kreisen der kirchlichen Jugendarbeit. Seine Bestellung als Prüfer führte zur Formierung der Bekenntnisbewegung, die nicht nur auf EKD-Ebene, sondern auch in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregte. In den Textauszügen begegnen nicht nur kirchen(macht-)politische, sondern auch kleinteilige sachliche Auseinandersetzungen etwa um Fragen zum Selbstverständnis Jesu von Nazareth – eben Exegese als Streitkultur, wie sie der vorliegende Band vorführt. Zu einer wirklichen Verständigung hatte sie seinerzeit allerdings nicht geführt. Das vorliegende Buch zeigt paradigmatisch, wie ein Beitrag zur innertheologischen Erinnerungskultur gelingen kann. Zudem regt es zur Selbstbefragung danach an, wie es um die heutige (kirchlich-)theologische Streit- und Verständigungskultur bestellt ist.