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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

235–237

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schofield, Paul

Titel/Untertitel:

Duty to Self. Moral, Political, and Legal Self-Relation.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2021. 240 S.Geb. US$ 74,00. ISBN 9780190941758.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Pflichten gegen sich selbst fristen in unseren Tagen ein Schattendasein. Vor allem in der Aufklärung galten Pflichten gegen sich selbst manchem Philosophen als selbstverständlich. In der neuesten Zeit hingegen versiegt das Interesse daran, die Existenz von Pflichten gegen sich selbst überhaupt zu bestreiten oder zu verteidigen, nahezu vollständig. Zu den wenigen Autoren, die sich in der Gegenwart mit der Frage nach der Denkmöglichkeit und der möglichen Relevanz von Pflichten gegen sich selbst beschäftigen, zählt der Philosoph Paul Schofield (Bates College, Maine).
In seiner Publikation diskutiert S. die Vorbehalte, die gegen die Annahme, es gäbe Pflichten gegen sich selbst und es wäre mithin möglich und auch sinnvoll, Pflichten gegen sich selbst geltend zu machen, vorgebracht werden (7 f.). Entsprechend der Diskurslage ist das Buch defensiv aufgebaut: Im Anschluss an einleitende Be­merkungen zu den Pflichten gegen sich selbst (Kapitel 1), in denen deutlich wird, dass die Vorstellung von Pflichten gegen sich selbst alltagskulturell durchaus eine gewisse Plausibilität genießt (vor allem 1–3), greift S. die Schwierigkeiten ( troubles) auf, denen sich das Nachdenken über Pflichten gegen sich selbst auf einer konzeptionellen Ebene ausgesetzt sieht (Kapitel 2).
Im Mittelpunkt stehen der »Erlassbarkeits-Einwand« (waivability objection): Pflichten sind typischerweise Pflichten zwischen Personen, und es scheint zur Pflicht zu gehören, dass sie nur durch die Begünstigte der Pflicht und nicht durch die Adressatin der Pflicht aufgehoben werden können, Letzteres scheint aber bei Pflichten gegen sich selbst der Fall zu sein (vor allem 48). Es folgt eine Apologie in zwei Teilen, i. e. eine Apologie der Pflichten gegen sich selbst als zeitbezogener Pflichten (across time) und eine Apologie von Pflichten gegen sich selbst als je im gegenwärtigen Augenblick (at the moment) geltend zu machender Pflichten (Kapitel 3 und 4). Pflichten across time (Kapitel 3) haben darin ihren Kern, dass auf zeitbezogene Aspekte der jeweiligen Konstellation bezo-gene Konflikte (cross-temporal conflicts) zwischen verschiedenen Interessen ein und derselben Person es ermöglichen, die Entstehung innerpersonaler Pflichten in einer Art und Weise zu beschreiben, die Parallelen zur Struktur interpersonaler Pflichten aufweist (67).
Ein Beispiel könnte die Pflicht sein, das eigene spätere Selbst den Gefährdungen nicht auszusetzen, die mit regelmäßigem Rauchen einhergehen (vor allem 66 mit Verweis auf David Velleman). Pflichten gegen sich selbst als je im gegenwärtigen Augenblick (at the moment) geltende Pflichten (Kapitel 4) haben in der Vorstellung ihr Zentrum, dass Menschen verschiedene praktische Identitäten haben können. Dies motiviert den u. a. von Sharon Street inspirierten Gedanken, dass der Mensch sich etwas qua seiner Identität, genauer: der nicht-kontingenten, konstitutiven Elemente der eigenen Identität schuldet: So hat z. B. eine Künstlerin gegen sich als Künstlerin bestimmte Pflichten (120 f.).
Eine zweite Gruppe von Abschnitten wendet sich den Pflichten gegen sich selbst im politischen Zusammenhang zu. In den entsprechenden Überlegungen steht der häufig gegen Pflichten gegen sich selbst vorgebrachte Vorbehalt im Vordergrund, Pflichten ge­gen sich selbst könnten paternalistische Eingriffe in Selbstbestimmungsrechte motivieren (Kapitel 5). Paternalistische Eingriffe in Selbstbestimmungsrechte durch den Staat beziehen sich auf Versuche, Personen durch Gesetze vor ihren eigenen Entscheidungen (bzw. den Folgen derselben) zu schützen (16). In seiner Apologie der Pflichten gegen sich selbst gegen diesen Einwand spricht S. sich für einen liberalen Paternalismus aus (Kapitel 6). Seine Studie schließt mit grundsätzlichen Überlegungen zur Bedeutung der Pflichten gegen sich selbst für die Praktische Philosophie (Kapitel 7).
Ein leitendes Motiv der Studie ist der Gedanke einer Multiplizität im Selbst. Dieser verweist nicht auf eine »metaphysische« Spaltung der Person, sondern darauf, dass eine Person verschiedene praktische Identitäten und verschiedene Standpunkte in der Zeit einnehmen kann, so dass ein Subjekt zu sich selbst in ein Verpflichtungsverhältnis treten kann, das intersubjektiven Verpflichtungsverhältnissen grundsätzlich vergleichbar ist und mithin eben tatsächlich als Verpflichtungsverhältnis gelten darf (36.80.92. 98.107 f.124.127.183.195).
Fragt man, wie der facettenreiche Beitrag S.s, der gewiss aus der zukünftigen Diskussion über Pflichten gegen sich selbst nicht mehr wegzudenken sein wird, sich im Feld des neueren Nachdenkens über Pflichten gegen sich selbst positioniert, so fällt auf, wie vehement S. sich an entscheidenden Stellen von Kant abgrenzt, während er gleichzeitig ein intensives Gespräch mit kantianischen Positionen führt und hervorhebt, dass der Gedanke, es gebe Pflichten des Menschen in Bezug auf sich selbst, insbesondere durch Kantianerinnen und Kantianer vertreten wird (11).
Es erscheint sinnvoll, das in der hier gebotenen Kürze nicht anders als schlaglichtartig zu führende Gespräch mit S.s reichhaltiger Studie an dieser Stelle zu eröffnen. Kant reagiert auf die genannte waivability objection, indem er eine Unterscheidung in­nerhalb der Person geltend macht, die das für Verpflichtungsverhältnisse typische Gegenüber von Verpflichtetem und Verpflichtenden innerhalb der Person abbildet, nämlich die Unterscheidung zwischen einem homo noumenon und einem homo phaenomenon; dieser, so Kant, steht gegenüber jenem in der Pflicht (vgl. 56 f.). Die für die Kantsche und für jede kantianische Rechenschaft über Pflichten gegen sich selbst maßgebliche Unterscheidung zwischen einem homo noumenon und einem homo phaenomenon bezeichnet S. als obskur; seiner Auffassung nach leuchtet diese Unterscheidung niemandem ein, der nicht ›Kantianer durch und durch‹ (»thoroughgoing Kantian[s]« ist (58 f.). Aus diesem Grund will S. seine Überlegungen nicht auf Kants Theorie der Pflichten gegen sich selbst gründen. Die Frage wäre allerdings, ob sich nicht im kritischen Gespräch mit Kant Anknüpfungspunkte für S.s Überlegungen finden ließen. In diesem Zusammenhang wäre zu fragen, ob die Bezugnahme auf den homo noumenon denn tatsächlich eine ob­skure Spekulation ist, wie S. unterstellt, oder ob sich die Rede vom homo noumenon nicht auch als Explikation der Freiheit erschlie-ßen lässt, ob also der Kern der Kantschen Rede von Pflichten gegen sich selbst nicht darin liegt, dass der Mensch Pflichten gegen seine eigene Freiheit hat. In der Kantforschung ließen sich entsprechende Ansätze finden.
Auf diesem Wege ließe sich zeigen, dass S.s Vorschlag, die Pflichten des Menschen ausgehend von Perspektiven (138: multiple distinct perspectives) bzw. praktischen Identitäten (127: multiple practical identities) oder zeitlichen Standpunkten (195: multiple temporal standpoints) des Selbst zu denken, sich produktiv mit Kants Anthropologie verbinden ließe – die gewichtigen Überlegungen, die S. vorträgt, könnten auf einem solchen Wege noch weiter an Überzeugungskraft gewinnen.