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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

829–832

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Meister Eckhart

Titel/Untertitel:

Die Reden zur Orientierung im Denken. Die rede der unterscheidunge. Mittelhochdeutsch – Deutsch. Übers. u. m. e. Einleitung u. Anmerkungen hg. v. N. Fischer.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2020. LXXXVII, 128 S. = Philosophische Bibliothek, 741. Lw. EUR 36,90. ISBN 9783787338719.

Rezensent:

Markus Vinzent

Der Text, der sonst als Eckharts »Reden der Unterweisung« (so auch jüngst herausgegeben und übersetzt von Volker Leppin, Leipzig 2019) bekannt ist, wird hier in neuer hochdeutscher Übersetzung vorgelegt zusammen mit dem von J. Quint erstellten Text der kritischen Werkausgabe (DW V).
Zunächst verwundert die Wahl des neuen Titels, der nicht nur für die Publikation hier, sondern auch als Übersetzung des mittelhochdeutschen »Die rede der underscheidunge« gewählt wurde (1.3). Das wird vom Vf. auch näher begründet, indem er darauf verweist, dass diese »23 Reden […] zunächst allgemeine theoretische und praktische, nicht aber ordensspezifische Grundfragen des Lebens« betreffen, und »fortschreitend« im Text sogar immer stärker »Fragen der Zuhörer« aufgreifen, und zwar »teils aus deren faktischem Alltag«. Damit folgt der Vf. der jüngeren Forschung (Yo-shiki Koda) in der Bestimmung der Adressaten dieses Textes. Er verweist auch darauf, dass Eckhart bereits in der ersten Rede zum Gehorsam »mit einer originellen, allgemein philosophisch formulierten These« aufwartet, die weder den Ordensgehorsam aufgreift noch »diesem Kontext entspringt« (XX). Auch wenn man also zunächst bei der Übersetzung des Titels etwas staunt und unter der Behandlung des Titels der Schrift auch eine Diskussion der Handschriftenvarianten erwartet hätte, so zeigt die freie Übertragung des mittelhochdeutschen Titels doch die Perspektive, unter welcher der Vf. den vorliegenden Titel für die Reihe der »Philosophischen Bibliothek« übersetzt und auslegt. Und diese ist ihm so wichtig, dass er Text und Übertragung eine ausführliche Einleitung vorausschickt, in der er »ausgewählte Kernsätze« aus dem Text herausgreift und sie »mit knappen Hinweisen zur Interpretation« versieht (XXIV), immerhin 35 Druckseiten, also ähnlich umfangreich wie der Text selbst. In diesen Interpretationen geht es dem Vf. um »Vergegenwärtigung der vom Autor betonten Ab­sichten«, er »übergeht hingegen umstrittene Aspekte, die in der Kirchengeschichte (z. B. in den ›Prozessen‹ in Köln und Avignon) oder in der säkularen Politik (z. B. im ›Dritten Reich‹) eine Rolle gespielt haben« (XII).
Und tatsächlich setzen diese Interpretationen den Text sehr viel häufiger ins Gespräch u. a. mit Platons Sokrates, Plotin, Immanuel Kant, Rainer Maria Rilke, Gottfried Wilhelm Leibniz, Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Friedrich Nietzsche, also mit Personen, die Eckhart nicht gelesen hatte oder nicht hatte lesen können, als mit Thomas von Aquin oder mit Augustinus. Allein Kant ist häufiger vom Vf. zitiert als Augustinus. Dafür gibt es gute Gründe der geistigen Verwandtschaft zwischen Kant und Eckhart, auf die schon vielfach John Connolly hingewiesen hat, dessen Werke leider im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt werden.
Die Interpretationen – gerade in einer »Philosophischen Bibliothek« – sind anregend und unterstreichen die Bedeutung Eckharts für die Philosophie der Moderne, insbesondere für die Tugendlehre. Etwa wenn der Vf. heraushebt, dass »im Denken Kants« das Prinzip der »Autonomie« mit »Erfahrung« unterlegt wird, »auf die nur gehört werden kann«, folglich kein Gegensatz von Autonomie und Gehorsam bestehe (XXVII). Und mit Platon und Augustinus sieht er in Eckharts Gerechtigkeitsvorstellung und -forderung, die Dinge zu »durchbrechen«, keine »Weltverneinung«, sondern »die Hoffnung auf eine ›neue‹ Welt …, die vom freien Wirken der Geschöpfe mitbestimmt ist« (XXXI). Solches nennt der Vf. Anknüpfen an Augustinus und Kompatibilität mit Kant (XXXIX). Die rechte Orientierung des Menschen leitet er auch aus Eckharts Rat, Gott zu lassen, ab. Diese »Empfehlung ›Gott zu lassen‹, verknüpft Eckhart mit der Hoffnung auf ein ›Reich Gottes‹, in dem ›daz edel korn‹ nicht verworfen werde«, dies »hat nichts mit Gleichgültigkeit ge­genüber Gott zu tun, nichts mit Gottesleugnung, aber auch nichts mit Weltverachtung, sondern soll alle zu möglichst rechtschaffenem Leben in guter Beziehung zu ›Gott‹ ermuntern« (XLI). Die Vernetzung von platonisch-sokratischen, augustinischen und kantschen Ansätzen gelingt dem Vf. blendend und löst ein, was er selbst für eine Kunst Eckharts sieht: »Eckhart gerät mit seiner Haltung nicht in Distanz zur christlichen Tradition, sondern öffnet diese für einen Blick auf alle endlichen Vernunftwesen, der – wie man mit Kant sagen könnte – von ›moralischen‹ Kriterien be­stimmt wäre« (LVII).
Anregend wie innovativ und zum Teil texttreuer als die Ausgabe von Leppin liest sich auch die Übersetzung, auch wenn man gerade wegen der stärkeren Anlehnung an den Text an einer ganzen Reihe von Stellen beim Lesen ins Stolpern gerät. Ich nehme lediglich als Beispiel die zehnte Rede, die wegen des Schwerpunkts »Tugend« eine der zentralen für den Vf. darstellt. Bereits in der Überschrift (wie der wille alliu dinc vermac) versteht man nicht ganz, wie dies als »Wie der Wille alles wollen kann« und nicht »wie der Wille alles kann« übersetzt werden kann. Natürlich könnte man argumentieren, was anders als »wollen« soll der Wille denn vermögen? Warum schrieb Eckhart dann nicht gleich wie der wille alliu dinc ze wellen vermac? Im Text gibt der Vf. denn auch den parallelen Text In der wârheit, mit dem willen vermac ich alliu dinc wieder als »In der Tat: Mit dem Willen kann ich alles«, verzichtet hier also auf das »wollen«. Wenn Eckhart erläutert: Der mensche ensol sich sô sêre deheines dinges erschrecken, die wîle er sich vindet in einem guoten willen, noch ensol sich niht betrüeben, ob er des niht volbringen enmac mit den werken, lesen wir in der Übertragung: »Solange der Mensch sich in einem guten Willen befindet, soll ihn nichts erschrecken, noch soll ihn betrüben, wenn er etwas mit seinem Tun nicht vollbringen kann«. Quint übersetzt das »des niht volbringen enmac« korrekter: »Der Mensch soll über nichts groß erschrecken, solange er sich in einem guten Willen findet, noch soll er sich betrüben, wenn er ihn nicht in Werken zu vollbringen vermag«. Hier geht es also gerade um die Frage des Nichtvollbringens des Willens, nicht um die, ob der Wille Dinge tun kann oder nicht. Auch wenn der Vf. nur eine Nuancenverschiebung vornimmt, liest er doch einen gewissen Voluntarismus in den Text, der sich so nicht darin findet. Gleich im selben Abschnitt heißt es weiter: Aber, daz dû krefticlîche und mit allem willen wilt, daz hâst dû, und daz enmac dir got und alle crêatûren niht benemen, ob der wille anders ganz und ein rehte götlich wille ist und gegenwertic ist. Hier lautet die Übertragung: »Aber daß Du mit Kraft und ganzem Willen willst, das liegt an Dir; und das können Dir weder Gott noch Geschöpfe rauben, wenn nur der Wille ganz ist, ein wahrer göttlicher Wille, der gegenwärtig wirkt«. Erneut scheint mir Quint trefflicher zu übersetzen: »Vielmehr, was du kräftig und mit ganzem Willen willst, das hast du, und Gott und alle Kreaturen können dir das nicht wegnehmen, wenn anders der Wille ein ganzer und ein recht göttlicher Wille und auf die Gegenwart gerichtet ist.« Hier wird der Voluntarismus des Vf.s noch deutlicher. Während Eckhart – wie Quint richtig sieht – von einem Stand (»das hast du«) spricht, deutet der Vf. den Willensbesitz als Willensvermögen (»das liegt an Dir«), was den Sinn der Stelle verkehrt. Wenn man die Stelle bessern möchte, sollte man das gegen alle Handschriften von Quint vor gegenwertic ist ausgelassene got in den Text nehmen. Zwar hat Quint dieses got getilgt, weil der Nachfolgegedanke auf die Gegenwart ohne Bezug zu Gott zu sprechen kommt, doch solche Argumententwicklungen finden sich bei Eckhart häufig und sollte keinen guten Grund zu konjizieren darstellen, wenn der handschriftlich bezeugte Text einen guten, hier sogar einen besseren Sinn ergibt, der mit dem Vorausliegenden korrespondiert. Fraglich ist auch, ob man in derselben Rede ein reht wille wie der Vf. als »ein gerechter Wille« übertragen sollte, oder nicht doch, mit Quint, als »rechter Wille«. Der Vf. selbst übersetzt dann drei Zeilen weiter ie der wille rehter und wârer ist mit »desto besser und wahrer ist der Wille«, nimmt also Abstand von »gerecht« und nähert sich dem Quintschen »recht«.
Wie diese Feinheiten zeigen, lohnt es sich, die neuen Übertragungen dieser frühen und bereits komplexen Reden Eckharts mit der älteren von Quint, aber auch dem kritischen Apparat von dessen Ausgabe parallel zu lesen. Texterstellung wie Übersetzungen sind eine fortzuschreibende Aufgabe. Dankbar wird darum die Forschung wie auch das an philosophischen Fragen und Orientierung interessierte Publikum diese gediegene Einleitung mit Text und neuzeitlicher Übertragung entgegennehmen, die zu weiterer kritischer Auseinandersetzung mit Eckhart hinzuführen vermag.