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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

755-758

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Gerhard K., u. Wolfgang Maaser [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte der Diakonie in Quellen. Von den biblischen Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert. M. e. Vorwort v. U. Lilie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. XIV, 854 S. Geb. EUR 45,00. ISBN 9783525616291.

Rezensent:

Matthias Benad

Die Herausgeber dieses Bandes sind erfahrene Lehrer der Evange-lischen Hochschule Bochum. Für (Aus-)Bildungskontexte haben sie 105 Dokumente ausgewählt, um Entstehungszusammenhänge und grundlegende Entwicklungen der ›modernen‹ Diakonie in Deutschland zu erschließen. Die meisten Quellen stammen aus dem Protestantismus. Sie werden ergänzt um einige katholische Texte und um Verlautbarungen aus der Ökumene, damit »basale Gemeinsamkeiten«, »aber auch unterschiedliche Interpretationen biblischer Überlieferungen, differente Deutungen der Nöte […] und verschiedenartige organisatorische Ausprägungen […] in den Blick kommen« (3).
Es handelt sich um die dritte derartige Quellensammlung. 1912 gab Martin Hennig das Quellenbuch der Inneren Mission (IM) heraus. Dem Vorsteher des Rauhen Hauses und seiner Brüderschaft galt es als »gottgegebener Beruf der Inneren Mission, Kirche und Staat, die in sich leicht erstarren, durch Zuführung neuer Lebens- und Liebesgedanken […] zu neuen Aufgaben zu führen und der bürgerlichen Gesellschaft ein reiches Programm der sozialen Fürsorge zu stellen« (Quellenbuch VIII). Hennig folgte Wicherns Dreiteilung in »eine freie, eine kirchliche und eine bürgerliche« (d. h. kommunale, staatliche) Diakonie (Qu[elle] 19, [S.] 144 im besprochenen Band).
Einen ganz anderen Akzent setzte 50 Jahre später Herbert Krimm, der erste Leiter des Diakoniewissenschaftlichen Instituts in Heidelberg. Er fand, die »In-eins-Schau von Mission und Diakonie« könne »heute nur noch naiv wirken«. »Treffliche Männer« wie Wichern und Hennig hätten nach Menschen mit »brennenden Herzen« gesucht und sie »meist außerhalb der Kirche und ihres be­soldeten Apparates« gefunden. Krimm legte Wert auf die »grundsätzliche Unterscheidung des missionarischen und des diakonischen Motivs«, nahm »Quellen […] mit ausgesprochen missionarischer Zielsetzung« nicht in seine Sammlung auf, weil er darin eine Aufgabe der Kirche sah, und druckte bevorzugt ab, »was die Diakonie in den Ämtern und Ordnungen der Kirche verankert hat« ( Quellen zur Geschichte der Diakonie II, 10 f.).
Für den neuen Sammelband werden die Auswahlkriterien we­niger deutlich benannt. Die Hg. gehen davon aus, dass mit der Entwicklung der modernen Diakonie Differenzen untrennbar verbunden sind, weil Bruchlinien und Herausforderungen identifiziert, neue »Verberuflichungsprozesse« erfunden und historische Veränderungen theologisch kontrovers diskutiert wurden. Daraus folgt bis heute erhebliche Verunsicherung unter »mündigen Christen und Christinnen«, worauf gleich zu Beginn der Einleitung mit mehr als einem Dutzend Begriffen wie »Selbstvergewisserung« und »Identität« reagiert wird (3 f.). Einleitung, Quellenauswahl und einführende Kommentare zielen aber weniger auf das Binnenmilieu als auf eine Leserschaft, die an theologisch-religiösen, sozialen und politischen Diskursen interessiert ist. Historische Fehlentwicklungen (Qu 60; Qu 63) und Widersprüche werden doku-mentiert: »Was inhaltlich und in der Zielsetzung umfassender Christianisierung restaurative Züge trägt und als vormodern er­scheint, stellt sich in den strukturellen Differenzierungsleistungen als ausgesprochen modern und in strategischer Hinsicht ge­sellschaftlich funktional dar.« (5) Bis zum Ersten Weltkrieg iden-tifizieren die Hg. fünf Spannungsfelder (5–8), die weiter wirken:
1. Die Betonung des allgemeinen Priestertums der Getauften, bei gleichzeitiger beruflicher Spezialisierung sozialer Tätigkeiten, vorgeführt am Beispiel des Diakonissenberufes (Qu 12–14);
2. die starke Entfaltung der freien Diakonie, während die erhoffte diakonische Entwicklung in Gemeinden und Kirchen gering blieb;
3. die Übernahme von Impulsen der IM durch die verfasste Kirche (Qu 41) ohne Klärung des gegenseitigen Verhältnisses;
4. die Schwierigkeiten der IM – trotz hoffnungsvoller Ansätze im Kaiserreich (Qu 36) –, Anschluss an eine moderne Sozialpolitik zu finden;
5. der Mangel an einer theologisch fundierten und den gesellschaftlichen Realitäten angemessenen Gesamtkonzeption der IM. Stattdessen habe der missionarische Weltanschauungskampf um die »Volksseele« an Bedeutung gewonnen.
Daraus entstand 1933 eine große Nähe zur nationalsozialistischen Bewegung (Qu 64; Qu 72). Erst nach 1945 fanden Protestanten Zugang zu den Kräften des politischen und sozialen Katholizismus (Qu 75), wie sie sich in den Unionsparteien sammelten.
Eine grundlegende Entwicklungslinie, die sich in den präsentierten Quellen gut verfolgen lässt, beginnt damit, dass moderne Diakonie von Anfang an »kein integraler Bestandteil amtskirchlicher Strukturen« (5) war. IM entstand als loses Netzwerk freier evangelischer Initiativen, die Mängel in der kirchlichen Verkündigung beheben wollten und sich gleichzeitig um soziale Not kümmerten, worauf es in Theologenkreisen hieß, sie seien ein »Schlinggewächs«, das den Baum Kirche aussauge. (Der Vorwurf erscheint nicht im Original von 1849, sondern zwei Generationen später als Zitat. Dort ist von einem »Wasserreis« die Rede, was einer Erklärung bedurft hätte – Qu 53, 333.)
Während der Weimarer Republik entwickelte sich die IM zum evangelischen Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege (Qu 61). In der verfassten Kirche war stets der Wunsch lebendig, die Diakonie stärker zu binden. 1933 scheiterte der Versuch der Deutschen Christen, die IM als Teil der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) dem Führerprinzip zu unterwerfen. Im anschließenden Kirchenkampf folgten die freien Werke nicht den kirchlichen Frontlinien (Qu 65). Als der politische Druck zu stark wurde, suchte die IM 1940 den Schutz der Kirche. Die DEK-Kirchenkanzlei erklärte, dass »die diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerung der Kirche« seien. Die an Wichern erinnernde Formel ging 1948 in die Grundordnung der EKD ein (Qu 73), die bereits drei Jahre früher ein eigenes kirchliches Hilfswerk (HW) gegründet hatte (Qu 71), was manche als Distanzierung von der IM verstanden. Da in der sozialpolitischen Landschaft der Bundesrepublik nicht zwei evangelische Spitzenorganisationen nebeneinander agieren konnten, wurde 1957 die Zusammenführung von HW und IM beschlossen. Sie kam 1976 mit der Gründung des Diakonischen Werkes der EKD (DW) zum Abschluss (Qu 87), in dem auch evangelische Freikirchen mitwirkten. Schon 1970 waren IM und HW im Osten auf politischen Druck hin vom Westen abgetrennt worden, in engster An­lehnung an den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (Qu 83, Qu 84).
Wer die Entwürfe jener Jahre zu einer zeitgemäßen Ortsbestimmung der Diakonie hintereinander liest (Qu 76 bis 81, Qu 88), ahnt, warum die Hg. den Orientierungsbedarf in kirchlichen Kreisen so hoch veranschlagen. Nach 1980 trat die Ausdifferenzierung in verfasste Kirche und diakonische Zweitstruktur erneut stark hervor: Alfred Jäger sprach von »diakonischen Unternehmen« und entwi-ckelte eine »Management-Theologie« (Qu 89), es wurde ein eigener Unternehmerverband gegründet. Das weckte in kirchlichen Kreisen die Befürchtung, die organisierte evangelische Nächstenliebe werde den Kräften des freien Marktes geopfert. Die Herausgeber weisen darauf hin, dass im Hintergrund dieser Entwicklung die »Krise des Sozialstaats« und die politisch forcierte »Einführung der Sozialwirtschaft seit den 1990er Jahren« stand (15). Aber schon um 1970 gab es starke innerdiakonische Gründe für Transformationsprozesse von Organisationen der mittleren Ebene, wozu aber keine Quellen abgedruckt sind. Hier hätte sich z. B. Alex Funkes Schil-d erung des Umbruchs in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1968–1979 angeboten. Während im ersten Teil des Buches den »verschiedenartige[n] organisatorische[n] Ausprägungen« (3) der mittleren Ebene in den Gründerjahren die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt wird, finden sich auf den hinteren Seiten vor allem Zeugnisse aus Verbandsdiakonie und kirchlichen Gremien der Makro-Ebene. Auch personale Quellen der Mikro-Ebene (Be­richtsbücher, Tagebücher, Briefe, Aussagen von Mitarbeitern und Klienten etc.) fehlen, obwohl hier inzwischen eine Menge vorliegt.
Insgesamt ist es Wolfgang Maaser und Gerhard Schäfer gleichwohl gelungen, eine Quellensammlung vorzulegen, die die his-torische Entwicklung der Diakonie in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit einer breiteren Leserschaft zugänglich macht. Durch die Einleitung und die mit Querverweisen versehenen Einführungstexte, die in früheren Sammlungen ganz fehlten, werden Leserinnen und Leser zu weiterer Recherche und zu Entdeckungen animiert. Dokumente aus dem Band bewähren sich im Seminarbetrieb (obwohl den Texten eine Zeilenzählung fehlt). Wer damit zu tun hat, wird Quellen zu ergänzen wissen. Dass die insgesamt überlegte Auswahl von denen, die auf demselben Feld ackern, kritisiert werden wird, war zu erwarten. Dafür, dass die Hg. sich der Mühe unterzogen und nach 60 Jahren eine aktualisierte Quellensammlung mit Einführungen vorgelegt haben, sei ihnen ausdrücklich gedankt.