Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2021

Spalte:

226-228

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Oelke, Christian, u. Hans-Hermann Pompe [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Gemeinschaft der Glaubenden gestalten. Nähe und Distanz in neuen Sozialformen. Hgg. im Auftrag des Zentrums für Mission in der Region.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 216 S. = Kirche im Aufbruch, 27. Kart. EUR 15,00. ISBN 9783374062935.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Im Rahmen des Reformprozesses »Kirche im Aufbruch« wurde 2009 das Zentrum für Mission in der Region (ZMiR) gegründet. 2018 wurde die Tätigkeit in die neu gebildete Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) überführt. Auch im Reformprozess der EKD wurde anlässlich des Reformationsjubiläums durch die Einberufung des »Zukunftsteams« ebenfalls eine neue Phase eingeläutet. Der vorliegende Band dokumentiert die letzte Fachtagung des ZMiR, die im November 2018 durchgeführt wurde, und bildet damit eine Art literarisches Vermächtnis des ZMiR und gleichzeitig eine Scharnierstelle für die Fortsetzung des Reformprozesses. Es ist sicher nicht zufällig, dass das Thema von neuen Gemeinschaftsformen in die Mitte der Tagung gestellt wurde. Denn in allen mit dem Mitgliederrückgang zusammenhängenden »Rückbau«-Dynamiken sind diese neuen Formen der Gemeinschaft von Glaubenden die Hoffnungsträger par excellence. Sie sind Zukunftsboten für eine Existenz der Kirche, auch jenseits parochialer und pfarramtlich orientierter Strukturen. Sie sind lebendige Zeugen der Kraft des Evangeliums. Und ihnen wird daher auch ein hohes missionarisches Potential zugetraut, wie die Einführung der Herausgeber (11–20) deutlich macht.
Der Band enthält fünf längere Beiträge, unter anderem zu unterschiedlichen Sozialformen der Nähe (Christian Grethlein, 65–85), zu Motiven beim Finden einer Gemeinde (Ulrike Bittner, 87–111) und zur Chance von Kleingruppen (Hans-Hermann Pompe, 113–139). Ergänzend enthält der Band die Eröffnungspredigt von Anna-Chris-tina Schmidt (179–183) sowie drei kürzere Seminarbeiträge zu Hauskreisen (Martin Römer/Stephan Zeipelt, 185–194), zu digitalen Ge­meinschaften (Rolf Krüger, 195–202) und zum Fresh-X-Projekt RaumZeit (Sabine Ulrich, 203–208). Die beiden umfangmäßig ge­wichtigsten Beiträge sollen hier in knapper Form präsentiert werden, auch daher, weil diese den Charakter des Bandes wesentlich be­stimmen.
Ralph Kunz unternimmt eine erhellende theologische Relecture der soziologischen Klassiker (21–64). Im Spannungsfeld von Gemeinschaft und Gesellschaft (Ferdinand Tönnies), von Führung und Verführung (Max Weber) sowie von Institution und Bewegung (Ernst Troeltsch) erweist sich das »Ideal der gemeinschaftlichen Lebensform« als etwas, das die Kirche nicht erzwingen noch darauf verzichten kann (44). Gemeinschaft ist – im Anschluss an die Dekonstruktion Jean-Luc Nancys – etwas »grundlegend Unvollendbares« (49) und zeichnet sich daher nicht durch Einförmigkeit, sondern durch Offenheit für Differenz aus. Diese Offenheit lässt sich mit Hartmut Rosa als Resonanzraum beschreiben (50–54; übrigens ein Konzept, das auch von anderen Autoren des Bandes fruchtbar rezipiert wird, 84.134.171–173.194). Kunz unternimmt das lohnende Wagnis, diese Offenheit im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer christologisch zu füllen (54–57). Als Ertrag entsteht das Bild der Kirche als einer von Christus herkommenden und auf ihn zugehenden Weggemeinschaft von Pilgern. Es ist – und darin liegt die Pointe von Kunz’ Relecture – also die Offenheit für Gott, welche Gemeinschaft ermöglicht und gleichzeitig vor Abgeschlossenheit bewahrt.
Der Artikel von Thomas Zippert über »Teilhabe« (141–178) eröffnet zunächst theologische Perspektiven (Paulus, Luther, Schleiermacher) und widmet sich in einem zweiten Teil sozialrechtlichen Fragestellungen. Welche Teilhabemöglichkeiten sich in einer ausdifferenzierten Gesellschaft ergeben, illustriert Zippert anhand eines instruktiven Modells, welches schematisch passive und aktive Teilhabe an den unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen darstellt (175) und damit auch als »heuristische Landkarte« (174) dienen kann, um »blinde Flecken bzw. Felder fehlender Teilhabe« aufzuweisen (177). Zippert weist selbst darauf hin, dass Teilhabe im theologischen Sinn »Aspekte und Dimensionen« enthält, die weit über eine sozialrechtliche Fassung von Teilhabe hinausführen und »Lösungsansätze für gegenwärtige Problemlagen schwindenden Zusammenhalts enthalten« (177). Auch wenn der Beitrag selbst solche Ansätze nicht weiter ausführt, regt er doch an, in diese Richtung weiterzudenken.
Im Untertitel des Bandes ist die Rede von »Nähe und Distanz«. In diesem Spannungsfeld vermittelt der Band eine klar erkennbare Präferenz: Die Zukunft der Kirche besteht nicht in der Distanz, sondern in der Nähe. Auf die damit verbundenen Risiken der Selbstabschließung, Vereinnahmung und Vereinheitlichung wird nicht mit der Forderung nach Distanz reagiert, sondern mit der Forderung nach Offenheit, Selbstbestimmung und Teilhabe. Das so ge­zeichnete Hoffnungsbild vermittelt daher weniger eine Kirche, die als Dienstleisterin religiöse Angebote zur Verfügung stellt, sondern vielmehr eine Kirche als einer offenen Weggemeinschaft von Menschen, die mit Gott und miteinander unterwegs sind. In diesem Sinne ist der Band eine Einladung, das Risiko der Nähe zu wagen und entsprechende Sozialformen zu fördern und zu pflegen. Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass diese Vision in weiteren kirchlichen Reformprozessen aufgenommen und weiterentwickelt wird.