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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1121–1123

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stahl, Andreas

Titel/Untertitel:

Traumasensible Seelsorge. Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 389 S. m. 4 Tab. = Praktische Theologie heute, 163. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-037456-0.

Rezensent:

Kristina Augst

Die Promotionsschrift von Andreas Stahl wird in ihrem Titel ihrem Anspruch gerecht und ist ein wichtiger Schritt hin zu traumasensiblem kirchlichen Handeln. Die Dissertation wurde an der Evangelischen Fakultät in Münster angenommen und von Traugott Roser betreut. S. ist Traumafachberater (DeGPT) und gehört zum Team »GottesSuche«, einer christlichen Initiative, die sich an Betroffene sexualisierter Gewalt richtet.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind in Deutschland eine Reihe von Untersuchungen und Schriften zum Themenkomplex »Trauma, Gewalt, Kirche und Theologie« entstanden, auf die S.s Werk direkt und indirekt Bezug nimmt. In diesem Feld nimmt er eine spezifische Akzentsetzung vor, die durch sein Forschungsinteresse bedingt ist. Er formuliert ein dreifaches Anliegen: Aufnahme der empirischen Forschung zum Verhältnis von Trauma und Religiosität/Spiritualität, Bezugnahme besonders auf die englischsprachige Literatur und Debatte zur Thematik und Entwicklung von konkreten Leitlinien für die seelsorgliche Praxis. Dabei konzentriert S. sich auf Traumata, die im sozialen Nahbereich entstehen und auftreten, und schließt z. B. Traumatisierung durch Na­turkatastrophen oder Krieg aus.
Das Werk besteht aus drei großen Teilen, die S. selbst als Dreischritt von Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung beschreibt. Im ersten großen Teil (Wahrnehmung) werden zuerst die beiden zentralen Begriffe »Gewalt im sozialen Nahraum« und »Trauma« ausführlich erläutert. Zu diesem Schritt gehört auch die Darstellung und Analyse quantitativer und qualitativer Studien zum Verhältnis von Traumata und Religiosität. Der ganz überwiegende Teil dieser Arbeiten stammt aus den USA bzw. dem englischsprachigen Raum. Hier wird eine große Leerstelle in der deutschen Forschung sichtbar und das Anliegen S.s, diese Studien in seine Untersuchung mit einzubeziehen, plausibel. Drei Erkenntnisse scheinen mir für die weitere Forschung elementar:
1. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Traumatisierungen und deren Bearbeitung auf der einen Seite und der Entwicklung und Ausgestaltung von Religiosität und Spiritualität auf der anderen Seite. So deuten einige Studien auf eine Reduktion von depressiver Symptomatik hin.
2. Die Dynamik von Trauma und Religion lässt sich aber nicht einfach als Zunahme oder Abnahme von Religiosität beschreiben. Oftmals erweist sich der Begriff der Transformation als angemessener. Die Religiosität von Gewaltbetroffenen verändert sich so­wohl durch das Trauma wie auch durch die Bearbeitung. Vielfach handelt es sich um hochkomplexe Prozesse. Faktoren sind dabei das Alter bei der Traumatisierung, Schwere der Taten, das religiöse Umfeld der Ursprungsfamilie und spätere religiöse Einbindungen.
3. Religion kann positive wie negative Folgen zeigen. Religiosität und Spiritualität können die Bearbeitung einer Traumatisierung behindern oder erleichtern.
Letztgenannter Aspekt macht eine genauere Analyse religiöser Inhalte unabdingbar. So folgt im zweiten Schritt (Reflexion) ein Kapitel zu »Perspektiven für eine traumasensible Theologie«. Hier blickt S. zuerst auf problematische überlieferte Traditionsbestände wie z. B. biblische »Gewalttexte« oder die Rolle der Frauen in Theologie und Kirche. In einem zweiten Teil werden »zentrale Topoi einer traumasensiblen Theologie« aufgeführt. Dabei geht es um die Begriffe Sünde; Schuld, Schuldgefühle und Scham; Vergebung; Leiden; Theodizee; Gottesbilder; Kreuz, Auferstehung und Karsamstag. Die Reflexion und Bearbeitung folgt mehreren Leitgedanken: So kann traumasensible Theologie nicht ohne die Erfahrungen und Stimmen der Betroffenen entwickelt werden. Traumasensibles theologisches Denken und Reden ist vorläufig und provisorisch. Dies bedeutet aber nicht die Aufgabe theologischer Konsistenz. In dieses Kapitel spielt S. erneut zahlreiche Studien und theologische Überlegungen aus dem englischen Sprachraum ein. Damit werden die weitaus intensiveren theologischen Diskurse jenseits des Atlantiks auch für hiesige Leserinnen und Leser zugänglich und Perspektiven für traumasensible Theologie erkennbar und fruchtbar gemacht.
Der dritte Teil des Buches (Gestaltung) widmet sich den »Grundlinien einer traumasensiblen Seelsorge«. Seelsorge versteht S. im Anschluss an Dietrich Rössler als eine Dimension diakonischen Handelns. Sie wird damit der Diakonie und nicht der Verkündigung zugeordnet. So verstandene Seelsorge bestimmt – zugespitzt formuliert – als ihr Ziel die Linderung von Not und nicht den Zuwachs an christlichem Glauben. »Traumasensible Seelsorge wendet sich dem Verwundet-Sein des betroffenen Menschen zu und fragt, was diesen stärkt.« (267) S. definiert: »Heilung bzw. Integration hat sich je stärker dann eingestellt, je stärker das Verwundet-Sein als primäres Existenzerleben zurücktritt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sich der Mensch in seinen Beziehungsgefügen zu Selbst, Welt und Gott als gestärkt erlebt.« (22)
Dieser Teil hat drei Schwerpunkte: traumasensible Seelsorgende, traumasensible Kirche und traumasensible christliche Spiritualität. In jedem Abschnitt beleuchtet S. die spezifischen Herausforderungen und deutet erste Schritte an. S. verdeutlicht eindringlich die Notwendigkeit der Kirche, ihre eigene (Missbrauchs-)Geschichte aufzuarbeiten. Sonst kann sie keine glaubwürdige Gesprächspartnerin oder gar Beheimatungsort für Gewaltbetroffene sein. Doch er zieht ein ernüchterndes Fazit: »Insgesamt wecken die [kirchlichen KA] Publikationen den Eindruck, als seien sie nicht das Ergebnis eines authentischen Gesprächswegs mit Betroffenen, sondern die Produkte politischer Absicherungsprozesse.« (302) Zu guter Letzt gibt S. Hinweise für eine traumasensible Spiritualität. Bei allen individuellen Unterschieden zeigen sich dennoch Muster und Charakteristika, die zu beachten sind.
S. legt eine insgesamt sehr interessante Studie vor, die viele bisherige Forschungsleerstellen ausleuchtet und wichtige Hinweise für die wissenschaftliche und kirchliche Weiterarbeit bietet. Allerdings wäre bedauerlich, wenn sich diese Arbeit auf die individuellen Auswirkungen von Traumatisierungen und seelsorgliche Konsequenzen verengt. Die Kirche ist in ihrem Reden und Handeln herausgefordert, die strukturelle Dimension von Gewalttaten stärker zu thematisieren.
Mit der erneut herausgearbeiteten Er­kenntnis, dass Religiosität sowohl förderlich als auch hinderlich im Heilungsprozess sein kann, ist ein wichtiger Forschungs- und Arbeitsauftrag für Seelsorge und Theologie formuliert, der über die Traumathematik hinausweist.