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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

568–569

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Strübind, Andrea, u. Klaas-Dieter Voß [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Märtyrerbücher und ihre Bedeutung für konfessionelle Identität und Spiritualität in der Frühen Neuzeit. Interkonfessionelle und interdisziplinäre Beiträge zur Erforschung einer Buchgattung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VI, 258 S. m. Abb. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 109. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-156538-0.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

Der mit der Reformation einsetzende Pluralisierungs- und Differenzierungsschub innerhalb des lateineuropäischen Christentums brachte die Konkurrenz sehr verschiedener Gestalten christlichen Glaubens, Lebens und Denkens mit sich. Denn gerade die exklusiven Wahrheitsansprüche in ihrem nach und nach rechtlich und konfessionell abgesicherten und auf Dauer gestellten Neben- und Gegeneinander konterkarierten vor dem Hintergrund kirchlich-institutioneller Geltungsansprüche und religionszentrierter Ordnungsvorstellungen jeden positiv-konstruktiven Umgang mit der faktisch vorfindlichen geschichtlichen Pluralität und entsprechend auch mit religiöser Differenz. Mit spezifischen Phänomenen dieser frühneuzeitlichen Pluralität ohne Pluralismus befasst sich nun der hier anzuzeigende Band, der eine Tagung von 2014 dokumentiert, nämlich mit glaubensbedingter Gewalt, ihrer medialen Aufbereitung und ihrer identitätsstiftenden Qualität.
Die mit 21 hochwertigen Abbildungen gespickte Dokumentation versammelt neben der Anliegen und Aufbau skizzierenden Einleitung des Herausgeberteams (1–11) zwölf Aufsätze, von denen sich einer, nämlich der letzte, nicht dem direkten Tagungszusammenhang verdankt, aber aufgrund seiner inhaltlich-thematischen Verwandtschaft hinzugenommen wurde (2). Der gewählte interdisziplinäre und interkonfessionelle Zugriff gewährt anhand verschiedener Beispiele und Perspektivierungen einen weiten, lehrreichen und anregenden Blick auf die Wahrnehmung, Verarbeitung und Darstellung gewaltsamer religiöser Verfolgung in der Frühen Neuzeit.
So beleuchtet Peter Burschel in seiner Studie »Cultures of Martyrdom in the Early Modern Age« (13–26) gleich drei Fälle unterschiedlicher Gattung des literarisch-dramatisierenden Umgangs mit Gewalt und Tod aufgrund religiöser Verfolgung und fragt aus kulturgeschichtlich und -anthropologisch interessierter Richtung nach dem Zusammenspiel von Gewalterfahrung und Identitätsstiftung religiöser Gruppen. Er geht dabei davon aus, »that the descriptions, or perhaps rather: the orchestration of violent death in the Early Modern Age must always be understood as a response to collective experiences of grief, fear and chaos« (14), und begibt sich entsprechend auf eine wichtige Spur des Prozesses der Ausbildung von Konfessionskulturen. Eine genauso grundsätzliche Annäherung – aus theologie- und begriffshistorischer Perspektive – unternimmt anschließend Martin Ohst (27–45), wenn er dem »Begriff des Martyriums im lutherischen Protestantismus« nachgeht und darüber exemplarisch »Transformationsversuche und ihre Grenzen« (27) untersucht. Gleich einleitend verweist Ohst darauf, dass der Ausdruck »Martyrium« als »normative (religiöse) Kategorie« (ebd.) nicht ohne spezifische Deutungsansprüche und Geltungsbehauptungen zu haben ist, die sich in ihrer geschichtlichen Ausformung ganz konkreten religiösen Vorstellungswelten sowie deren normat iv-institutionellen Aneignungen und Einhegungen verdanken. Als diese durch wesentliche Punkte reformatorischer Theologie infrage gestellt wurden, gelangte auch das überkommene Verständnis von Martyrien und Märtyrern auf den Prüfstand – mit dem Ergebnis seiner theologischen Entkernung. Daher ist im Falle der protestantischen Begriffsnutzung die Frage aufgeworfen, ob es nicht sinnvoll wäre, »den Märtyrerbegriff mit all seinen nun einmal gegebenen Konnotationen ein- für allemal den vor-, außer- und gegenreformatorischen Spielarten der christlichen Religion anheimzustellen« und ihn durch eine genuin evangelische Kategorie zu ersetzen, die »unbelastet wäre von leistungsorientierten Wertungsschematismen« (45).
Den grundsätzlichen Überlegungen von Burschel und Ohst mit ihren jeweiligen Anfragen und Anregungen schließen sich dann gleichsam als Erprobungsfälle vier Fallstudien an, die ausgewählte prominente Beispiele frühneuzeitlicher Märtyrerbücher vorstellen und aufgrund ihres Detailreichtums den direkten Vergleich unterschiedlicher konfessioneller Prägungen und Kulturen erlauben. Während Martin Treu die »Historie der Märtyrer« von Ludwig Rabus in den Blick nimmt (47–59), behandelt Jeremiah Martin Jean Crespins »Livre des Martyrs« (61–74), bevor Klaas-Dieter Voß sich ausführlich einmal Adriaen van Haemstede und seiner »Historie der Martelaren« und sodann dem anonym publizierten, höchstwahrscheinlich Emdener Kontexten zuzuordnenden Buch »Het Offer des Heeren« widmet (75–98). Das vierte und sicher wirkmächtigste Beispiel ist schließlich Gegenstand des Beitrags von Gabriele Müller-Oberhäuser: die »Acts and Monuments« von John Foxe (99–125). Alle vier luziden Fallstudien beschränken sich keineswegs auf die Aufbereitung bekannter Fakten, sondern geben zu weiterführendem Nachdenken reichlich Anlass.
Im Anschluss an die Vorstellung, Analyse und Kontextualisierung berühmter Märtyrerbücher treten in den folgenden sechs Aufsätzen bestimmte Gruppen in den Mittelpunkt, für deren Selbst- und/oder Fremdwahrnehmung der Martyriumsgedanke eine markante Rolle spielte: Susanne Lachenicht befasst sich mit der »Bedeutung des Martyriums für Hugenotten in Frankreich und im Refuge« (127–134), Albert de Lange mit den Waldensern besonders in Kalabrien (135–156) und Stephanie S. Dickey mit pietistischen An­eignungen über ausgewählte Bildprogramme (157–184). Nicole Grochowina fragt nach »Gleichheit im Tod, Unterschied in der Erinnerung? Märtyrerinnen im Täufertum« (185–201) und bietet damit einen gleichermaßen profunden wie differenzierten ge­schlechtergeschichtlichen Beitrag. Hatten bereits Burschel und Ohst dem katholischen Spektrum Beachtung geschenkt, rücken bei Raingard Esser katholische Märtyrerbücher vollends ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und zwar konkret am Beispiel ihrer Aufnahme und Wirkung unter niederländischen Katholiken während des Achtzigjährigen Krieges (203–221). Den Abschluss bildet Walter Schulz’ Studie »Emdens Märtyrer. Die Quäker im 17. Jahrhundert« (223–258), wodurch das konfessionelle Gesamtsetting eine den Band gewissermaßen abrundende Ergänzung erfährt.
Insgesamt liegt somit eine Reihe je für sich gehaltvoller Einzelbeiträge vor. Doch darin erschöpft sich der Wert des Bandes nicht: Er lässt aufgrund seines Zugriffs gerade die konfessionell-komparatistische Lektüre lohnenswert erscheinen, die in besonderer Weise dazu einlädt, die in den beiden ersten Studien erhobenen Anfragen und Angebote exemplarisch zur Anwendung zu bringen, um nicht zuletzt über die Potentiale der Untersuchung von Martyriumsdeutungen und -darstellungen für die konfessionskulturell interessierte Forschung weiter nachzudenken.