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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

350–352

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Walti, Christian

Titel/Untertitel:

Gottesdienst als Interaktionsritual. Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Ge­spräch mit der Mikrosoziologie und der Liturgischen Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 715 S. m. Abb. u. Tab. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 87. Kart. EUR 120,00. ISBN 978-3-525-62437-1.

Rezensent:

Ferenc Herzig

Was machen Pfarrerinnen und Pfarrer ganz konkret, wenn sie Gottesdienst feiern, mit wem und über wen sprechen sie tatsächlich, wie wirkt sich das auf die Gemeinde aus und was hat eigentlich Gott damit zu tun? Fragen wie diesen geht der mit dieser Studie promovierte Pfarrer und ehemalige Assistent bei David Plüss in Bern, Christian Walti, unter Rückgriff auf mikrosoziologische Me­thoden sowie liturgiewissenschaftliche und ritualtheoretische Dis­kurse nach. W. untersucht anhand von Videoaufnahmen den jeweiligen Eingangsteil der Gottesdienste von vier reformierten Gemeinden und zusätzlich zweier römisch-katholischer und zweier »Anbetungs«-Gottesdienste. Insgesamt liegt der Schwerpunkt zwar auf reformierten Gemeinden in der Deutschschweiz, die je­weiligen Ertragskapitel der Studie lassen sich aber durchaus auch stellvertretend für Gottesdienste anderer Konfessionen und De-nominationen lesen (wenngleich der spezifische Blick auf luthe-rische oder unierte Gemeinden in Deutschland aus W.s Perspek-tive sicherlich gewinnbringend zu lesen [gewesen] wäre).
Was diese Arbeit in Sonderheit auszeichnet, ist der elegante Wechsel, den W. zwischen den rein deskriptiven Teilen der Auswertung der Videosequenzen einerseits und deren liturgietheologischen Einordnungen andererseits durch die gesamte Studie hindurch vollzieht. Es ist so ein Buch entstanden, das sich auch unter genuin theologischen Gesichtspunkten durchgängig interessant liest und dessen Lektüre sich nicht schadlos darauf beschränken kann, allein das Einleitungs- und das Schlusskapitel unter Absehung des vermeintlich ›bloß‹ empirischen Mittelteils wahrzunehmen. Nicht zuletzt die Lektüre der Fußnoten in W.s Studie lohnt sich immer wieder (vgl. etwa zum Priming der Moderationen durch [reformierte] Pfarrpersonen [350, Anm. 17] oder auch unter inklusionsethischen Gesichtspunkten zur »Unsichtbarkeit von face« [398, Anm. 17]).
Die Studie ist untergliedert in vier Hauptteile, von denen nach einem Einleitungskapitel (21–38) zu Thesen und Fragestellung »Teil A: Voraussetzungen« (Kapitel 2 und 3; 39–117) die für die Un­tersuchung grundlegenden mikrosoziologischen und ritualtheoretischen Konzepte vorstellt. Tragend für die gesamte Studie ist dabei das Modell der fünf Charakterzüge von Ritualität des US-amerikanischen Soziologen Randall Collins (vgl. 47–71), das als hermeneutisches Analyseraster für die untersuchten Gottesdienstsequenzen Anwendung findet. Emile Durkheim (vgl. 44–47), dessen Hauptwerk »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« von 1912 die Grundlage wiederum für Collins’ Untersuchungen bildet, wird demgegenüber en passant gestreift, wie auch der Religionsbegriff von Martin Riesebrodt (vgl. 83–89), der allerdings im Fazit der Studie (vgl. 599) erneut an­deutungsweise reflektiert wird.
»Teil B: Empirische Rekonstruktion« (Kapitel 4 bis 9; 119–401), das Herzstück der Arbeit, stellt einzelne Sequenzen der Videoanalyse minutiös bzw. sekundengenau dar und diskutiert die theologischen und praktischen Implikationen der Beobachtungen, etwa hinsichtlich der Fokussierungen der Pfarrpersonen auf (Manu-) Skripte und deren Wirkung auf die Gemeinde. Die Überschriften der Kapitel dieses Teils bieten nicht nur Hinweise auf das zu Lesende, sondern zeigen überdies schon exemplarisch die Genauigkeit, mit der W. Feinheiten und Dialektiken aufspürt und ausdrückt, und machen Lust auf die Lektüre großenteils reiner Darstellungen mit Schwarz-weiß-Bildmaterial (vgl. die Kapitelüberschriften: 4. Un-Sichtbarkeiten – Auftritt liturgischer Protagonist-innen; 5. Nicht-Selbstverständlichkeiten – erste Sprecheinheiten im Gottesdienst; 6. Stilisierte Gespräche – Gebete; 7. Verständliche Fremdworte – Lesungen; 8. Zögerliche Efferveszenz – Höhepunkte des Gottesdienstes). Das diesen Teil beschließende Kapitel 9: Zwischenfazit (387–401) liest sich wie ein erster Abschluss der gesamten Studie, indem W. hier die Beobachtungen mit den Charakterzügen nach Collins (Körperliche Kopräsenz; Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit; Begrenzung nach außen; Geteilte Emotion; Symbolischer Effekt) abgleicht und auch hier wieder in den Zwischenüberschriften großes Geschick der verdichteten und dabei nicht ganz sug-gestionsfreien Erkenntnisführung beweist (vgl. nur die Begriffe »Zi­tationalität« [389], »Deiktizität« [390], »Hermeneutismus« [391] und »emotionale Mä[ß]igung« [395]).
»Teil C: Kontrastfelder« (Kapitel 10 und 11; 403–525) geht über diesen ersten Abschluss der Studie mit einer dem in Teil B Vorgeführten analogen Analyse zweier römisch-katholischer und zweier »Anbetungs«-Gottesdienste jeweils derselben Gemeinden hinaus und ermöglicht so den für den Schlussteil wichtigen interkonfessionellen Vergleich. So gewinnt hier etwa die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Orientierung (vgl. 72–75) an Präzision, wenn W. z. B. feststellt, dass insbesondere in römisch-katholischen Gottesdiensten die »Teilnehmenden […] den Kanon nicht als vorgelesenen Text, sondern als Verhaltensweise [zitieren]« (459), wohingegen das stark diskursive Grundmoment reformierter Gottesdienste mit »hermeneutistischer« Tendenz die Gottesdienstbesucher extrinsisch orientiert und sie sich so »durch eine deutlich angezeigte Distanz zwischen den an ihnen Teilnehmenden aus-[zeichnen]« (388). Der Vergleich mit Gottesdiensten aus dem freikirchlichen Spektrum mit ihrer erhöhten Intensität und stärkeren emotionalen Amplitude ist ebenso gewinnbringend zu lesen, nicht zuletzt, weil W. der Gefahr entgeht, in Darstellung und Beobachtung pauschal zu kritisieren oder zu würdigen.
»Teil D: Diskurse der Liturgik« (Kapitel 12 und 13; 527–600) beschließt den Materialteil der Studie mit Exkursen zur »Liturgischen Präsenz« (vor allem im kritischen Dialog mit Thomas Kabel) und »Gottesdienstlicher Partizipation«. Insbesondere dieses letzte Materialkapitel 13 hat dabei eine hilfreiche Scharnierfunktion zum abschließenden Kapitel 14: Fazit und Konkretionen (601–617), weil hier die theologisch entscheidende Frage nach Gott als Teilnehmer am und im Gottesdienst noch einmal gestellt wird (vgl. die eminent anregenden Seiten 597–599). Als eigentliches Fazit entwickelt W. so ein »Kombinationsprinzip«, das sich an Gordon Lathrops Prinzip der »juxtaposition« anlehnt und der Spannung einer vertikal und horizontal dreipoligen Kommunikation im Gottesdienst (vgl. auch 399) so gerecht werden will, dass »reformierte Gottesdienste partizipativer und präsenter in Bezug auf die Interaktion mit Gott selbst gefeiert werden können« (603). So mündet die Studie – vor dem umfangreichen Literaturverzeichnis (618–637), dem Anhang des Verzeichnisses der Videoaufnahmen (638–710) und einem Register (711–715) – in teils praktische und insgesamt im Niveau leider gerade hinter das in Kapitel 13 Geschlussfolgerte zurückfallende »Empfehlungen für agendenfreie Gottesdienste«, wie »Gottesdienst mit Risiko« (609 f.), »Gottesdienst mit Ordnung« (610 f.), »Gottesdienst mit Gefühl« (611 f.) und »Gottesdienst mit Zukunft« (615–617). Ob es diese Seiten gebraucht hätte, ist fraglich, lesen sich doch schon die jeweiligen Diskussions(unter-)kapitel nach den empirischen Darstellungen wie indirekt-distanzierte Handlungsanweisungen ex negativo. Sollte W. allerdings mit und über diese zwölf Seiten hinaus einmal ein eigenes Handbuch über »Dos and Don’ts« erstellen, wäre das hingegen sehr zu begrüßen.
Das Anliegen von W., theologia prima ausgehend von konkret gefeierten Gottesdiensten darzustellen (vgl. 31–33) und so Ordo zu (re-)konstruieren (vgl. zum Ordo-Begriff die knappen Ausführungen 28–31), ist als Plädoyer für die empirische im Gegenüber zur rein historisch verfahrenden Liturgiewissenschaft sachlich be­gründet und im Grunde auch vorbildlich durchgeführt. Das reiche genuin theologische Potential der theologia prima, das gerade in der gott-menschlichen Begegnung in der und als Interaktionsordnung im Gottesdienst angelegt ist, führt W. allerdings meist eher an als vor. Zum Ausbaupotential der genuin theologischen Implikationen mag beitragen, dass W. fast durchgängig sehr korrekt, dabei allerdings etwas technisch von Gott als dem »nonphänomenalen Gegenüber« schreibt. Der Vorwurf mag gerade angesichts einer so gründlichen und umfangreichen empirischen Studie etwas wohlfeil klingen, aber gerade zu Gott und seinem Verhalten im Gottesdienst hätte ich gerne mit Blick auf die theologia secunda noch mehr von W. gelesen als das, was auf den Seiten 589–606 mit zum Teil großer und großartiger thetischer Wucht gesagt ist.
Ich schließe also mit W.s Worten: »[…] dass die Teilnehmenden an einer In­teraktion mit Gott unter dieselbe Interaktionsordnung wie er gestellt sind, indem sie diese ko-konstruieren. […] Bereits im einfachen Ge­bet (gemeinsames Gespräch), deutlicher und ganzheitlicher noch im Abendmahl (gemeinsames Essen) unterstellt sich Gott als Teilnehmer einer Interaktionsordnung, um den restlichen Teilnehmenden so seine Kopräsenz zu sichern.« (597 f.)