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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

329–331

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Werner Schüßler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. VIII, 335 S. = Tillich Research, 15. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-056863-9.

Rezensent:

Gunther Wenz

Dämon ist ein Lehnwort aus dem Griechischen und bezeichnet im Deutschen gemäß Duden in der Regel einen bösen Geist, der als übermenschliche Schicksalsmacht Übles bewirkt und mit den von ihm Besessenen sein verhängnisvolles Unwesen treibt. Auch im griechisch-hellenistischen Sprachgebrauch von daimon finden sich vergleichbare Verwendungsweisen. Doch überwiegt ursprünglich ein positiver Sinn, der auch das altgriechische daimonion be­stimmt, welches beispielsweise bei Sokrates eine innere Stimme benennen kann, die – einem wohlwollenden Genius gleich – gute Ratschläge erteilt und den rechten Weg zur Wahrheit weist. Der neutestamentliche Sprachgebrauch ist – wie der deutsche – ein signifikant anderer: Dämonen sind ihm zufolge eindeutig unreine und böse Geister, die im Gegensatz zu den himmlischen Heerscharen im widergöttlichen Dienst des Teufels stehen und als satanische Mächte »für das Gericht bestimmt sind« (ThWNT II, 18,2), wie u. a. Mt 25,41 belegt. Mt 8,29 bezeugt zudem, dass die herrischen Knechte des Bösen dies auch wissen, ohne dadurch von ihrem diabolischen Tun und Lassen abgebracht zu werden, mit dem sie Gutes in Böses zu verkehren trachten. Es ist im Gegenteil so, dass das Bewusstsein des bevorstehenden Gottesgerichts sie immer tiefer in den höllischen Abgrund ihrer Selbstverfangenheit treibt, in den sie möglichst alle und alles zu reißen suchen. Es ist das Dämonische an den Dämonen, dass sie sich selbst zum Verhängnis und in ihrer Widerlichkeit selbst zuwider werden.
Weil sie Gott feind sind, sind die Dämonen nicht nur Feinde der Menschen und aller Kreatur, sondern sich selbst feind und zwanghaft darauf aus, mit Menschheit und Welt auch sich selbst zugrunde zu richten. In Paul Tillichs Lehre vom Dämonischen wird dieser selbstdestruktive Zug des in sich verkehrten Bösen nachdrücklich herausgestellt, wobei entgegen der Tendenz mancher traditioneller Dämonologien zur Vergegenständlichung das Unwesen bösen Geistwirkens im Innersten der Subjektivität und im Herzen der Person verortet wird, um es an dieser Stelle zu identifizieren und zu bannen. »Das Dämonische kommt zur Erfüllung im Geist. Nicht in › Geistern‹, also Wesen, die nur dadurch bestimmt wären, dass sie Dämonen sind. […] In der geistigen Persönlichkeit kommt das Dämonische zur Erfüllung, und darum ist die geistige Persönlichkeit das vornehmste Objekt der dämonischen Zerstörung.« So steht es zu lesen in dem Tillich-Text von 1926 »Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte«, näherhin in dem Abschnitt über den »Ort des Dämonischen« (vgl. P. Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. VI, Stuttgart 1963, 42–71, hier: 48; ferner Ders., Main Works/Hauptwerke, Vol./Bd. 5, Berlin/New York 1988, 99–123, hier: 104). Geschichtlich manifest werden die im Personzentrum des Subjekts wirksamen teuflischen Mächte der Verkehrung nach Tillich aktuell insbesondere in vier Erscheinungen, nämlich in den Dämonien eines Intellektualismus, der die Vernunft instrumentalisiert und dadurch um sich bringt, dass er sie zum zweckrationalen Verstand herabsetzt, in einem Ästhetizismus, der die Wirklichkeit in bloßen Schein verwandelt, sowie im Kapitalismus und im Nationalismus als dem vermeintlichen Gegenpol kapitalistischen Wirtschaftens, der in Wahrheit aber denselben dämonischen Ge­setzen unmittelbarer Selbstbestimmung und Selbstdurchsetzung folgt wie jener.
Ausgehend von dem zitierten »Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte« und dem ebenfalls im Jahr 1926 publizierten Aufsatz »Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die Sys-tematische Theologie« (vgl. Gesammelte Werke. Bd. VIII, 285–291), suchen die in dem Sammelband vereinten Vorträge, die auf der Jahrestagung 2016 der Paul-Tillich-Gesellschaft e. V. gehalten wurden, den Begriff des Dämonischen als eine grundlegende Kategorie der Tillichschen Religions- und Kulturphilosophie zu erweisen. Als menschlicher Bezug auf einen fundierenden Grund von Selbst und Welt ist die Religion ein exzentrisches Transzendierungsphänomen von hochgradiger Ambivalenz. Nur wenn religiöse Zweideutigkeit offenbarungstheologisch eindeutig identifiziert und behoben wird, lassen sich nach Tillich dämonische Verkehrungen mit fatalen Kulturfolgen vermeiden. Es gehört zu den Vorzügen der vorliegenden Studien, dass sie die Tillichsche Dämoniekonzeption nicht lediglich werkintern betrachten, sondern in den Zusammen hang einer – dämonologischen – Zeitdiagnostik seit 1900 stellen, um sie auf diese Weise systematisch zu profilieren und für die Lageanalyse fruchtbar zu machen. Nach einem debattengeschichtlichen Rekurs auf Schelling und Kierkegaard (P. Schwab) wird das Dämonische bei Rudolf Otto (P. Schüz), Thomas Mann (J. Rohls), Georg Simmel, Georg Lukas, Leo Löwenthal (C. Danz, F. Voigt), bei C. G. Jung (L. Müller) und bei dem US-amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Rollo May (W. Schüßler/Chr. Saal) the-matisiert. Durch diese Kontextualisierung (vgl. auch H. Westerink, M. Dumas) gewinnt Tillichs Dämoniebegriff schärfere Konturen als bei isolierter Betrachtung.
Interessante Perspektiven eröffnet ferner der Beitrag zum Dä­monischen in der Kunst (A. M. Opel) und nicht zuletzt F. Wittekinds umfangreicher Text über »Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik«, der den Blick auf die, so der Untertitel, theologie- und werkgeschichtlichen Hintergründe der schöpfungstheologischen Sündenlehre und ihrer Bezüge zur Kultur- und Geschichtsphilosophie fokussiert. Zu dogmatischen Grundsatzfragen gibt die Schlussthese des gehaltvollen Beitrags Anlass, wonach Tillichs Begriff des Dämonischen darauf angelegt sei, die Sündenlehre »zu einem integralen Moment der Schöpfungslehre« (122) werden zu lassen. Wird damit die protologische Denkbarkeit der Ursprungsgüte der Schöpfung geleugnet und eine unmittelbare Koinzidenz von kreatürlicher Existenz und Sündenfall behauptet? Dem wäre nachgerade aus Gründen der Christologie als dem christlichen Kriterium jeder Dämonologie entschieden zu widersprechen. Auch ein angelologischer Widerspruch wäre fällig; man muss kein Engel sein, um sich davon zu überzeugen.