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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

929–930

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Pelz, Birge-Dorothea

Titel/Untertitel:

Revolution auf der Kanzel. Politischer Gehalt und theologische Geschichtsdeutung in evangelischen Predigten während der deutschen Vereinigung 1989/90.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 406 S. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-535-55793-8.

Rezensent:

Christian Grethlein

Der im Oktober 2015 von der Münchener Evangelisch-Theologischen Fakultät angenommenen Dissertation von Birge-Dorothea Pelz (Betreuer: Harry Oelke) ist ein kurzes Geleitwort von Joachim Gauck vorangestellt. Es verdankt sich zum einen wohl der Tatsache, dass der Altbundespräsident als Rostocker Pfarrer eine aktive Rolle in dem thematisierten Augenblick (nord)ostdeutscher Kirchengeschichte spielte. Zum anderen macht es auf die Aktualität der Themenstellung aufmerksam – neben der grundlegenden Be­deutung für die jüngere deutsche Geschichte auch die bevorstehenden 30-Jahrfeiern im Zusammenhang des Zusammenbruchs der DDR und der Vereinigung Deutschlands. Theologisch steht dabei die These vom Handeln Gottes in der Geschichte auf dem Prüfstand.
Der Band gliedert sich in drei Hauptteile und »Schlussbetrachtungen«: Eine – ausführliche, über achtzig Seiten umfassende – Einleitung bildet der »Historische Teil«. Er führt in die politische Ge­schichte der Nordbezirke der DDR (ab 1952) – Rostock, Schwerin und Neubrandenburg – ein, unter besonderer Berücksichtigung der hier ansässigen evangelischen Landeskirchen (Mecklenburg und Greifswald bzw. Vorpommern). Dabei kommen auch außerhalb dieser Region wohl kaum mehr präsente Ereignisse zur Sprache. Ausführlich werden z. B. Vorgeschichte und Wirkungen der umstrittenen Einweihung des Greifswalder Doms erörtert, an der auf Einladung des später zurückgetretenen Bischofs Gienke auch Erich Honecker teilnahm (82–91). Insgesamt entwirft die Vfn. hier ein differenziertes Bild, das einerseits unterschiedliche Beziehungen der beiden Kirchen zum DDR-Staat herausarbeitet, zugleich aber auch ge­meinsame Problemstellungen benennt. Dabei wird auch verschiedentlich auf Dissens in der historischen Forschung hingewiesen.
Den Hauptteil der Studie, »Die Predigten«, bildet die Analyse von 346 Sonntagspredigten und 48 Kanzelreden in Friedensgottesdiensten, die 1989/90 in dem genannten nördlichen Teil der DDR gehalten wurden. Dabei konnten nur die noch vorhandenen, der Vfn. zugänglich gemachten – meist unveröffentlichten – Manuskripte berücksichtigt werden. Der wünschenswerte Blick auf die Rezeption, der erst nach dem heutigen homiletischen Stand be­rechtigt, von »Predigt« zu sprechen, war aus naheliegenden Gründen nicht möglich. Dies gilt auch für Predigten, die frei bzw. nur nach Stichworten gehalten wurden. Insgesamt stammen die ausgewerteten Predigtmanuskripte von 35 Pastoren (darunter nur eine Frau!), wobei hier in unterschiedlicher Menge Texte zur Verfügung gestellt wurden (bei einem Pfarrer waren es 77 Predigten). Deren Analyse leiteten drei zentrale Fragen: »Was wurde politisch gepredigt? Wie wurden die Ereignisse theologisch gedeutet? Wie kirchlich war die friedliche Revolution im Norden der DDR?« (21)
Als wichtigster Faktor, der eine Unterscheidung zwischen den Manuskripten ermöglicht, erweist sich das Alter der Predigenden, genauer: ob sie unter oder über 50 Jahre alt waren: »Je älter ein Pastor, desto stärker lehnt er in der Regel DDR und Sozialismus ab und desto schneller plädiert er für eine baldige deutsche Einheit […] Je jünger ein Pastor, desto länger hält er an der Idee vom ›verbesserlichen Sozialismus‹ und ›Dritten Weg‹ fest.« (181) Dazu stellt die Vfn. hinsichtlich der Wirkung und Erinnerung der Predigten fest: »Je größer der Zeit- und Erfahrungsabstand, desto vereinfachter die Sicht, desto heilsgeschichtlicher die Deutungen.« (314)
Thematisch arbeitet die Vfn. vor allem die geschichtstheologischen Problemstellungen heraus. In einem exkursartigen Rückgriff, dem dritten Teil der Untersuchung, »Gott – Geschichte – Predigt«, vertieft sie diese Thematik durch Auswertung von Untersuchungen zu den bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückreichenden Deutungsmustern. Dabei ergibt sich: »Grundsätzlich gilt in Predigten bis 1918 die Annahme, Geschichte sei gleichzusetzen mit göttlicher Heilsgeschichte.« (262) In gewisser Hinsicht lassen sich auch die untersuchten Manuskripte von 1989/90 in dieses Konzept einzeichnen: »Das traditionell alttestamentliche Modell, in dem Geschichte Ort des göttlichen Wirkens ist, kommt grundsätzlich auch 1989/ 90 zum Tragen. Segen und Strafe sind dabei die Reaktionen auf menschliches (Fehl-)Verhalten gemäß einem Tun-Ergehens-Zu­sammenhang.« (264)
Schließlich wirft die Vfn. noch einen Blick auf die Erinnerungen an die Friedliche Revolution in Bischofspredigten, Predigten von Gemeindepastoren sowie Radioandachten und Beiträgen in mecklenburgischen und pommerschen Kirchenzeitungen. Dabei zeigt sich ein – gegenüber den analysierten Texten von 1989/90 – »er­staunlich einheitlich[es]« (308) Geschichtsbild: »Damit zeigt sich die binnenkirchliche Erinnerung an 1989 in Verkündigung und kirchlicher Presse weithin immun gegen zeitgeschichtliche, die Rolle der Kirchen in den weltweiten Kontext einordnende Forschungen.« (310)
Insgesamt liegt mit diesem Buch eine hervorragende Studie zur Friedlichen Revolution vor, die in mehrfacher Weise innovativ ist. Zeitgeschichtlich stehen nicht wie sonst meist Leipzig, Berlin und vielleicht noch Wittenberg im Zentrum, sondern die drei nördlichen DDR-Bezirke. Dazu werden die Ereignisse aus der Perspektive der (predigenden) Pastoren wahrgenommen. Praktisch-theologisch verdient die klar herausgearbeitete Bedeutung der Generationenzugehörigkeit für die Inhalte der Predigt über die Arbeit hinausreichende Beachtung.
Neben diversen Registern rundet ein umfangreicher Dokumentenanhang die Arbeit ab. Er enthält neben 24 Predigtmanuskripten auch den Fragebogen, den die Prediger für die Vfn. als Interpretationshilfe ausfüllten.