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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1408–1410

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Harvey, Richard

Titel/Untertitel:

Messianisch-jüdische Theologie verstehen. Erkundung und Darstellung einer Bewegung. Hrsg. v. B. Schwarz.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2016. XX, 348 S. = Edition Israelogie, 7. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-631-64166-8.

Rezensent:

Ernst Michael Dörrfuß

Die jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende – von Dan Cohn-Sherbok, Professor em. für Judaistik an der University of Wales und Rabbiner der Reformbewegung, betreute – Dissertation Richard Harveys erschien erstmals 2009 unter dem Titel »Mapping Mes-sianic Jewish Theology. A Constructive Approach«.
Ihr Autor, visiting lecturer am All Nations College, Ware, England, und Theologe der »Messianischen Gemeinde« Beit Nitzachon in London, will die gegenwärtig in den USA, Großbritannien und Israel greifbar werdenden Ansätze einer sogenannten »messianisch-jüdischen Theologie« kartieren: Sie werden dargestellt, diskutiert und im Blick auf mögliche Perspektiven hin befragt – wobei es darum geht, »die Natur der MJT zu erklären« sowie deren »Quellen, Normen, Methoden, Inhalte und Resultate zu identifizieren« (5).
Die Studie gliedert sich in neun Kapitel. In der Einleitung (1–14) werden Gegenstand und Methode bestimmt. »Messianische Theologie« entwickelt sich unter den konservativen Schätzungen zufolge weltweit ungefähr 150.000 an Christus glaubenden Juden, die den christlichen Glauben mit ihrer jüdischen Identität zu verbinden suchen, und entsteht vor dem Hintergrund der »protestantisch-evangelikalen« sowie »jüdischen« Prägung dieser Bewegung (4). Methodisch folgt H. den Kriterien von »Authentizität, Kohärenz, Gleichzeitigkeit (contemporaneity) und gemeindliche[r] Ak­zeptanz« (6) – und zitiert zustimmend Byron I. Sherwin: »Die Glaubensüberzeugung des jüdischen Theologen ist überaus wichtig für die Aufgabe, weil Theologie kein ›intellektuelles Spiel für den Salon ist, sondern die Artikulation eines eingegangenen Engagements‹« (7). H. selbst schreibt aus der Perspektive eines praktizierenden Juden, der an Jesus Christus glaubt. Er bezeichnet sich als »messianischen Juden« (zur Begriffsklärung vgl. 9–13) und verortet sich so in einer Bewegung, die im 19. Jh. ihren Ausgang nahm, als zum Christentum konvertierte Juden versuchten, auch nach ihrem Übertritt zum Christentum ihre jüdische Identität zu be­wahren. Stationen der Geschichte dieser Bewegung sind die Gründung der Hebrew Christian Alliance in Großbritannien (1866), der Hebrew Christian Alliance of America (1915) sowie der Internationalen Judenchristlichen Allianz (1925). Aus der Hebrew Christian Alliance of America heraus entwickelte sich in den USA der 1960er Jahre die charismatisch orientierte »Jesus-People«-Bewegung. Auch die »Jews for Jesus« wollten christliche Glaubensüberzeugung und jüdische Identität bleibend aufeinander beziehen. Die in Deutschland seit den 1990er Jahren aufgebrochene Debatte um ›Messianische Juden‹ ist im Übrigen nicht Gegenstand von H.s Arbeit.
Das zweite Kapitel (15–37) gibt einen Überblick über bisher er­schienene Studien aus anthropologischer, sozialpsychologischer sowie historisch-theologischer Perspektive, während das dritte Kapitel (39–54) von »Praktizierenden« vorgelegte theologische Un­tersuchungen vorstellt. H. beschränkt sich in seiner Monographie auf die Analyse englischsprachiger Publikationen, gelegentlich zitiert er aus Mails und Briefen. Genannt werden unter anderem die in Israel lebenden Ariel Berkowitz, Baruch Maoz, David Stern oder Joseph Shulam sowie die US-Amerikaner Arnold Fruchtenbaum, Barney Kasdan oder Mark Kinzer. Im vierten Kapitel (55–106) stellt H. verschiedene Entwürfe zur Gotteslehre vor, die seiner Meinung nach belegen, dass »einige grundlegende Arbeit bei der Darstellung des biblischen Materials bereits getan«, zugleich jedoch »mehr Reflexion und theologischer Tiefgang erforderlich« ist (105). Das fünfte Kapitel nimmt Ansätze messianisch-jüdischer Christologie in den Blick (107–153). H. identifiziert fünf christologische Ansätze, die ein Spektrum umfassen, das sich von der Reflexion »evangelisch-reformierter und evangelikaler Tradition« bis hin zu einer »adoptianistischen Christologie« erstreckt. Alle stehen vor der Herausforderung, »›christliche‹ Wahrheiten in ›jüdischen Begriffen‹ mit biblischer Integrität, theologischer Genauigkeit und interkultureller Sensibilität auszudrücken« (151). Im sechsten (155–202) und siebten Kapitel (203–244) wird die Stellung zur Tora untersuch t– und zwar zunächst im Blick auf die Interpretation der Gültigkeit des »Gesetzes« sowie der mündlichen Tora und dann hinsichtlich der von den unterschiedlichen Autoren vertretenen Haltung zur Frage der Toraobservanz bzw. halachischen Praxis.
Unter der Überschrift »Die Zukunft Israels« werden im achten Kapitel die – ganz überwiegend dispensionalistisch geprägten – Zu­kunftserwartungen der vorgestellten Autoren erläutert (245–287).
Das neunte Kapitel (Die Zukunft der messianisch-jüdischen Theologie, 289–315) fasst zusammen und benennt »acht große[n] Denkströmungen«, die ein Spektrum umfassen, das von einem christozentrisch geprägten jüdischen Christentum (Baruch Maoz) über das »Postmissionarische messianische Judentum« (Mark Kinzer) bis hin zur u. a. von Elazar (Larry) Brandt vertretenen »messianisch-rabbinischen Orthodoxie« reicht. Schließlich werden Perspektiven für die Weiterarbeit skizziert.
H.s Monographie unterscheidet sich von anderen in den letzten Jahren vorgelegten deutschsprachigen Studien zur Sache (vgl. z. B. Stefanie Pfister: Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung, Münster 2008, und Hanna Rucks, Messianische Juden in Israel. Geschichte und Theologie der Bewegung in Israel, Neukirchen-Vluyn 2014) nicht zuletzt dadurch, dass er aus einer Binnenperspektive heraus argumentiert.
Die Untersuchung zeigt, dass es weder das »messianische Judentum« noch eine »messianisch-jüdische Theologie« gibt (vgl. dazu schon 42 ff.). Sie macht deutlich, dass das Phänomen des ›messia-nischen Judentums‹ sich in seinen jeweiligen Kontexten – hier vor allem den USA und Israel – unterschiedlich darstellt und entfaltet.
Die Studie lässt sich als ein nach innen gerichteter Aufruf lesen, für die theologische Bildung der Gemeinden ebenso einzutreten wie für eine adäquate theologische Ausbildung ihrer Leiter. Sie kann zudem als ein Appell verstanden werden, die sich entwi-ckelnden Ansätze messianisch-jüdischer Theologie wahrzunehmen und die Auseinandersetzung mit ihnen zu suchen. Dabei wäre – auch vor dem Hintergrund der in Deutschland geführten Diskurse – nicht zuletzt nach dem auch bei H. anklingenden Anspruch »messianischer Juden« zu fragen, in unmittelbarer Kontinuität mit dem antiken Judenchristentum zu stehen und als dessen Erbe die Rolle eines Mittlers zwischen der (heiden)christlichen Kirche und dem Judentum wahrzunehmen. Berührt sind außerdem die – bei H. mehrfach erwähnte – Debatte um eine sachgemäße Hermeneutik der Schrift, die Frage nach der bleibenden Erwählung sowie »Rettung« des nicht an Jesus Christus glaubenden Israel – und die Frage nach der Berechtigung von Christen – seien sie »heiden-« oder »ju­denchristlich« –, Juden den Weg zu Gott und ihrem Heil zu weisen.
Die Lektüre der hier besprochenen deutschen Version wird durch zahlreiche, den Lesefluss erheblich beeinträchtigende, Übersetzungsfehler erschwert, die immer wieder dazu nötigen, einen Blick ins englische Original zu werfen. Schon die Verdeutschung des Titels ist problematisch – und auf S. XV nicht wirklich überzeugend begründet. Bedauerlich ist, dass die in der englischen Ausgabe vorhandenen hilfreichen Register fehlen.