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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1382–1383

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Liessmann, Konrad Paul [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Über Gott und die Welt. Philosophieren in unruhiger Zeit.

Verlag:

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2017. 256 S. = Philosophicum Lech. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-552-05825-5.

Rezensent:

Martin Hailer

Seit nunmehr über 20 Jahren wird unter der Leitung des Herausgebers in Lech am Arlberg im Frühherbst ein philosophisches Symposion veranstaltet, das sich rasch eines breiten Zulaufs erfreute. Nach Ruhm/Tod/Unsterblichkeit (2003), Religion (2007) sowie Schuld und Sühne (2014) stand beim Symposion 2016 zum vierten Mal ein Thema mit theologischem Bezug zur Verhandlung an. Angesichts einiger philosophischer Arbeiten zur Gottesfrage aus jüngerer Zeit durfte man gespannt sein, was bei einer niveauvollen Publikumsveranstaltung diskutiert wurde.
Christoph Türcke thematisiert die Omnipräsenz des Geldes. Er negiert, dass Geld seinen Ursprung als Tauschmittel hat. Dieser findet sich vielmehr in Schuld: In der Ursituation der Hominiden entstand, so die Hypothese, das Lebensopfer als schreckmindernde Wiederholung traumatischer Ereignisse. Zahlungsmittel nun sind Substitutionen dieser archaischen Wiederholung und der Zins entstand, weil Geld, das aus dem Tempelschatz geliehen wurde, mit Gebühr zurückzuzahlen war. Türcke verfolgt diese Theologie der universalen Schuldverstrickten in groben Strichen bis zur Bankenkrise der Gegenwart. Den Ausweg fände, so heißt es kontrafaktisch, nur ein Gott, wer aber auf den Ursprung des Geldes verweise, trage zur »Humanisierung der Zahlungsverhältnisse« (49) bei. Hier liegt eine Variante von Geldtheorie vor, die von der Unausweichlichkeit des Geldes auf theologische Interpretationskriterien schließt. Leider kommt sie ohne jeden Bezug zu anderen Geldtheorien aus, auch zur theologisch so prominenten aus Walter Benjamins Fragment »Kapitalismus als Religion«, dessen These vom fortdauernden Schuldenkultus doch erkenntlich Pate gestanden haben muss.
Holm Tetens bietet eine Einführung in seine Überlegungen aus dem aufsehenerregenden Reclam-Bändchen »Gott denken« (2015). Seine Erwägungen haben zwei Schwerpunkte: Zum einen wird gezeigt, dass die Basisannahme des Naturalismus – es gibt nichts außer Materie und deren komplexen Strukturierungen – nicht naturwissenschaftlich, sondern den eigenen Annahmen entgegen metaphysisch ist. Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der Behauptung, dass es Erfahrungswelt gibt, und der, dass es nur Erfahrungswelt gibt. Letzteres ist eine Setzung (111). Zum anderen: Menschen wollen sich gern als endliche, jedoch vernünftige, selbstbestimmte und -verantwortliche Ich-Subjekte verstehen. Diese Annahme, zusammen mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Welterfahrung, ist theistisch besser deutbar als naturalistisch, weil im letzteren Fall Freiheit und Verantwortung als Illusion gelten müssten. Daraus ergibt sich mitnichten ein Gottesbeweis, wohl aber, dass die Hoffnung auf Gott »kein unvernünftiges irrationales Wunschdenken ist« (123). Auf die Weiterentwicklung dieser skrupulösen rationalen Theologie darf man gespannt sein.
Ein Gegenzug findet sich bei Markus Gabriel: Er skizziert sein Argument aus »Warum es die Welt nicht gibt« (2013), nachdem es keinen Standpunkt im Universum gibt, von dem aus man das ganze Universum sehen kann, woraus er folgert, dass eine solche Größe nicht existiert. Ineins mit Problemen aus der Theodizeefrage, die er für unlösbar hält, folgert Gabriel: »Wenn es keine Totalität der Tatsachen gibt, gibt es auch kein allwissendes Subjekt« (134). Die Rückfrage lautet, wie genau die mengentheoretische richtige Aussage, dass die Menge aller Elemente sich selbst nicht enthält, in Existenzaussagen zu überführen ist, und ferner, wie konsistent Gabriels Behauptung ist, die Existenz Gottes würde bestehende Tatsachen weder sinnvoller noch sinnloser machen (ebd.). »Sinn und Existenz« (2016) ist dann die nächstfällige Lektüre.
Peter Strasser wägt in seinem Beitrag Argumente, nach denen es unverzichtbar ist, die Existenz von Geist anzunehmen. Zwar gilt für jede naturwissenschaftliche Theorie, dass sie auch dann Geltung beansprucht, wenn keinerlei Denkwesen präsent ist. Dennoch ist die Tatsache von Selbsterleben unüberspringbar (175). Die idealistische Grundfigur, Welt ginge auf Geist zurück, ist deshalb nicht völlig unplausibel.
Eine islamische Perspektive ist mit dem Beitrag von Mouhanad Khorchide präsent. Er plädiert für eine Unterscheidung zwischen dem zeitlosen Koran bei Gott und seiner dialogischen Verzeitlichung im Offenbarungsvorgang. Dem korrespondiert die Vorstellung, dass Gott nicht der Kontrolleur seiner Geschöpfe sein will, sondern sich ihnen aus Freiheitsentschluss zuwendet und auf freie Antwort aus ist. Khorchide konstatiert dabei den Unterschied zwischen der Vorstellung wesenhafter Barmherzigkeit Gottes, die er im Christentum trinitarisch gefasst am Werke sieht, und willentlicher Barmherzigkeit, die er für den Koran reklamiert: Die »Hauptwesenseigenschaft [ist, M. H.] seine irāda (Willen) […]. Und genau das ist das Unveränderliche an Gott: sein Versprechen, barmherzig zu sein.« (197) – Die Parallelen zur Dekretenlehre reformierter Prägung könnten die komparative Theologie gelegentlich interessieren.
An den frühen Schleiermacher erinnern Argumente von Rüdiger Safranski. Er unterstellt dem westlichen Christentum, im We-sentlichen zu einer ›kalten Religion‹ auf lediglich zivilreligiöser Schwundstufe geworden zu sein. Zu rechnen aber hat man mit einem »wachsenden Willen zum Glauben, der sich vor allem bei der Moralbegründung und beim ästhetischen Erlebnis auswirkt.« (213) Letzteres versteht er als »Ehrfurcht vor der Unerklärlichkeit der Welt« (217), als »eine Art Ergriffenheit vom Ganzen« und als Ent-las­tung von dem Zwang, dass Menschen füreinander wechselseitig alles sein müssen. Diesen »Spielraum des Transzendierens« (220) empfiehlt er offenzuhalten.
Die Beiträge von Carlos Fraenkel über Philosophie als Diskussionstechnik, Käte Meyer-Drawe über Ursprungsmythen der Technik, Heinz Bude über die Logik von Stimmung und Atmosphäre, Lambert Wiesing über Luxus sowie von Herfried Münkler über die sogenannten neuen Kriege bieten jeweils Einblick in ihre jüngeren Arbeiten, haben aber wenig bis keinen Bezug zum Titelthema. Von der Dokumentation über den Essaypreis »Tractatus« (Laudatio Michael Krüger, Dankesrede Hartmut Rosa) muss man das nicht erwarten. Die theologischen Implikationen von Rosas »Resonanz« (2016), wofür ihm der Preis zugesprochen wurde, sind dann bei an­derer Gelegenheit zu diskutieren.
Diese Dokumentation einer Publikumsveranstaltung bietet zweierlei: Zum einen einstiegs- und auch seminartaugliche Kurzfassungen derzeit aktueller Projekte der Religionsphilosophie, einschließlich der religionskritischen, zum anderen Spiegelungen, wie Themen der Theologie in feuilletongängigen nichttheologischen Diskursen wahrgenommen werden. Den Blick in diesen Spiegel zu verweigern, kann kaum geraten sein.