Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1150–1151

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Eckrich, Felicitas, u. Klaus Tanner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Forschung und Verantwortung im Konflikt? Ethische, rechtliche und ökonomische Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms.

Verlag:

Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2014. 131 S. m. Abb. u. Tab. = Nova Acta Leopoldina. Neue Folge, 117/396. Kart. EUR 20,95. ISBN 978-3-8047-3241-4.

Rezensent:

Thomas Wabel

Technologischer Fortschritt und methodische Perfektionierung haben die Sequenzaufklärung des individuellen Genoms für die Analyse auf genetische Defekte mit begrenztem Aufwand möglich gemacht. Daraus resultieren ein großer Zuwachs an diagnostischen Möglichkeiten, aber auch neue ethische Probleme, etwa hinsichtlich des Datenschutzes und des Umgangs mit Zusatzbefunden. Die Heidelberger EURAT-Gruppe (Ethische und Rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms) hat 2013 einen Kodex für an der Ganzgenomsequenzierung beteiligte Forscher vorgestellt (2., aktualisierte Auflage 2015). Beiträge eines Symposiums von 2012, die den Horizont für diese Stellungnahme umreißen, vereinigt der vorliegende Band.
Wie der Molekularbiologe Jens G. Reich in einem auch für den biomedizinischen Laien instruktiven Beitrag beschreibt, sind die aus einer Ganzgenomsequenzierung erhobenen Befunde und die daraus entstehenden Fragen zwar nicht neu. Die schiere Massierung von Daten auch über eine konkrete medizinische Indikation hinaus ist aber für den Einzelnen mit schwer absehbaren Folgen verbunden. Die Ausübung informationeller Selbstbestimmung, möglicher Datenmissbrauch, Diskriminierung etwa beim Versicherungsabschluss, aber auch der schwer in die Lebensführung zu integrierende Umgang mit einer Risikoaussage stellen sowohl für den »mündigen Patienten« als auch für die Gesetzgebung eine große Herausforderung dar.
Wie die rechtliche Regulierung von Biobanken, die eine zentrale Voraussetzung für die biomedizinische Grundlagenforschung darstellen, dieser Herausforderung begegnet, schildern die beiden Mediziner Michaela T. Mayrhofer und Kurt Zatloukai. Die Juristin Silja Vöneky zeichnet nach, wie für die Genomsequenzierung internationale und nationale Rechtsvorschriften auf komplexe Weise ineinandergreifen. Hier ist auch damit zu rechnen, dass die jeweiligen Schutzstandards auseinanderfallen. In einer Literaturrecherche zu gesundheitsökonomischen Aspekten der Totalsequenzierung zeigen J.-Matthias Graf von der Schulenburg, Anne Prenzler und Martin Frank, dass nicht nur der Patientennutzen, der aus einer Sequenzierung des Genoms resultiert, schwer zu beziffern ist. Auch für eine valide Kostenanalyse liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine hinreichenden Daten vor.
Die von Reich genannten Gefahren adressiert auch Thomas Lemke in seiner Analyse der soziokulturellen Bedingungen im Umgang mit prädiktiver genetischer Diagnostik. Wichtig ist sein Hinweis auf neue Teildisziplinen wie Epigenetik oder Systembiologie, die der Komplexität des Zusammenspiels von Genom und Umwelt Rechnung tragen. Obwohl sich damit, wie Lemke selbst feststellt, ein vermeintlicher »genetischer Determinismus« als obsolet er­weist, scheint seine harsche Kritik an einem »Genfetischismus« (125) ebendiesem veralteten Feindbild verhaftet.
Die konfligierenden Prinzipien der Autonomie und der Fürsorge möchte die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Grit M. Schwarzkopf in einem »Prinzip des Miteinanderhandelns« vereinigt sehen, das dem Zusammenwirken ärztlichen Handelns, klinischer Institutionen, internationaler Forschung und Patienteninteressen, wie es die translationale Medizin kennzeichnet, Rechnung trägt. Schwarzkopf stellt selbst die kritische Rückfrage, wie sich in einem so verzweigten Handlungsfeld ein Bewusstsein dieses Miteinanders herstellen lässt, kann aber auf den erwähnten Kodex der EURAT-Gruppe als ein konkretes Beispiel hierfür verweisen.
Dass das Ineinandergreifen lebenswissenschaftlicher Forschung und lebensweltlicher Entscheidungen etwa am Ort des Arzt-Patienten-Gesprächs eine Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Wissenskulturen markiert, beleuchtet der Philosoph Dirk Lanzerath. Die heikle Frage, ob im Umgang mit prädiktiver genetischer Diagnostik nicht auch das Nicht-wissen-wollen ein Ausdruck von Autonomie sein kann, erfordert hermeneutische Kompetenz auf Seiten des Arztes. Vor dem Hintergrund einer subtil analysierten Rückwirkung biologiebezogener Metaphorik (»genetischer Code«, »molekulares Selbst«) auf das menschliche Selbstverständnis beschreibt Lanzerath dies als ein Grundproblem der Konzeptualisierung genetischen Wissens.
Zwar bringt, wie es Schwarzkopf formuliert, »[d]ie Genomsequenzierung […] keine neuen Probleme hervor, sie potenziert aber bereits bestehende Probleme translationaler und hochtechnologisierter Medizin« (10). Der vorliegende Band dokumentiert, dass sich diese Potenzierung für die ethische Reflexion des so gewonnenen Wissens als ungemein fruchtbar erweist.
Auch wenn ein Beitrag zur theologischen Ethik leider fehlt, sei die Lektüre für einen fundierten Einblick in die Debatten um die Sequenzierung des menschlichen Genoms unbedingt emp-fohlen.