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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Seeliger, Hans Reinhard, u. Wolfgang Wischmeyer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Märtyrerliteratur. Herausgegeben, übersetzt, kommentiert und eingeleitet.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XIV, 556 S. = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 172. Geb. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-032153-1.

Rezensent:

Peter Gemeinhardt

Der Titel des Bandes enthält bereits die These: Texte, die man als historische Zeugnisse für Verfolgungen und Hinrichtungen von Christen in der römischen Kaiserzeit zu lesen pflegte, sollen »als religiöse Literatur stärker vor dem Hintergrund der gesamten Bandbreite der antiken Literatur betrachtet werden« (4). Damit wird nicht bestritten, dass die Akten und Passionen der Märtyrer und Märtyrerinnen als Geschichtsquellen gelesen werden können, doch »muss der rezeptionsgeschichtliche Gesichtspunkt zur Genese, Entwicklung und Tradierung der Märtyrerliteratur deutlich stärker als bisher betont werden« (ebd.). Das ist in der jüngeren Forschung vor allem angloamerikanischer Provenienz schon öfters gefordert und auch praktiziert worden, z. B. von Candida Moss (The Other Christs. Imitating Jesus in Ancient Christian Ideologies of Martyrdom, Oxford 2010) oder unter dem programmatischen Titel »Making Martyrs in Late Antiquity« von Lucy Grig (London 2004), wogegen Timothy Barnes (Early Christian Hagiography and Roman History, Tübingen 2010) die Relevanz der Historizität der Märtyrertexte unterstrichen und harsche Kritik an späterer hagiographischer »fiction« geübt hat.
Hans Reinhard Seeliger und Wolfgang Wischmeyer greifen diese Debatte auf, bieten aber nicht nur einen theoretischen An­satz, sondern gleich auch die Durchführung anhand einer kommentierten zweisprachigen Ausgabe von 13 Texten zu Martyrien aus dem 2. bis 4. Jh. n. Chr. Eine solche Ausgabe mit verlässlichen Originaltexten und fundierter Kommentierung war im deutschsprachigen Raum bisher ein Desiderat, und es ist den Herausgebern zu danken, dass sie sich dieser Mühe unterzogen haben – in ökumenischer Zusammenarbeit, was im Blick auf die von Papst Johannes Paul II. proklamierte »Ökumene der Märtyrer« ein schönes Zeichen ist.
Die Texte sind grob nach ihrem mutmaßlichen Entstehungszeitraum – nicht nach dem Datum des jeweils geschilderten Martyriums – angeordnet, beginnend mit den Märtyrern von Lyon und Vienne (177 n. Chr.) und im nordafrikanischen Scilli (180) und en­dend mit dem um 200 verstorbenen Bischof Aberkios von Hierapolis, für den eine Vita aus dem hagiographischen Corpus des Simeon Metaphrastes (10. Jh.) abgedruckt wird. Behandelt werden weiterhin folgende Individuen und Gruppen: Justin und seine Schüler (Rom, ca. 165), Pionios (Smyrna, 250), Cyprian (Karthago, 258), Fructuosus und seine beiden Diakone (Tarragona, 259), Phileas (Alexandrien, 305), Acacius (Phrygien, ca. 251), Testament der Vierzig Märtyrer von Sebaste (ca. 320), Dativus, Saturninus und andere Christen aus Abitinae (Nordafrika, 303/305), Areadne (Prymnessos/Phrygien, 138) und Maximilianus (Tebessa, 295). Der Vergleich mit anderen Sammlungen von Märtyrerakten (Gebhardt, Knopf/Krüger/Ruhbach, Lazzati, Musurillo) zeigt, dass bei Seeliger/Wischmeyer Texte fehlen, die sonst überall vertreten sind, wie die Martyrien von Carpus, Papylus und Agathonike, von Apollonius oder von Montanus und Lucius. Hingegen findet man die Acta disputationis Acacii, die nicht mit der Hinrichtung, sondern mit dem Freispruch des Bekenners enden (288), und die Vita Abercii, die eher den »romanhaften apokryphen Apostelakten« (465) verwandt ist und aus der Aberkios-Inschrift des frühen 3. Jh.s (464 f.) Leben und Reisen des »apostelgleichen Mannes« (456,11) entwickelt. Dennoch sind auch in diesen Texten martyrologische Topoi zu finden, weshalb sie zur »Märtyrerliteratur« zählen – die nicht eine eigene Gattung darstellt, sondern ein Konglomerat von »Fließtexten« (13), die unterschiedliche literarische Formen in Anspruch nehmen und insgesamt »eine spezielle Form von Ge­schichtsschreibung« bilden (17). Deren entscheidendes Kriterium war nicht historische Akkuratesse, sondern erfolgreiche Plausibilisierung, ja Vergegenwärtigung des Vergangenen, wobei fiktionale Elemente ihren unverzichtbaren Dienst leisteten (19); fragwürdige Historizität ist daher einprogrammiert. Es müssen also nicht nur deutlich literarisch stilisierte Texte wie das Martyrium Pionii oder der Brief der Gemeinden von Lyon und Vienne auf ihre rhetorische Gestaltung hin analysiert werden, sondern auch scheinbar so nüchterne Gerichtsprotokolle wie die Passio Scillitanorum oder so unverhohlen polemische Traktate wie die donatistischen Abitinensium martyrum confessiones et actus (die in keiner der oben erwähnten Sammlungen auftauchen). So ist den Herausgebern zuzustimmen, dass diese Literatur als »Teil des komplexen Phänomens der Märtyrerverehrung« aufgefasst werden muss; sie war »zugleich Produkt und Initiator« dieser Verehrung (45). Umso unverständlicher ist allerdings, dass das Martyrium Polycarpi und die Passio Perpetuae et Felicitatis fehlen. Dass hierfür »nicht nur moderne Einzelausgaben, sondern auch eine abundante Sekundärliteratur vorliegen« (VII), stimmt zwar, aber für das Konzept der Märtyrerliteratur sind gerade solche Texte von größter Relevanz (es wird sogar ein Exkurs zu Polykarp geboten, 28 f.).
Die einzelnen Abschnitte sind analog aufgebaut: Auf die Darstellung der handschriftlichen Bezeugung und der Editionsgeschichte (A) folgen eine Inhaltsskizze (B), der griechische oder lateinische Originaltext mit Übersetzung sowie textkritischem Apparat und kommentierenden Fußnoten (C) und eine summarische Behandlung »historische[r] und literarische[r] Aspekte« (D), die durch eine Liste von »Spezialliteratur« (E) abgeschlossen wird; daraus wird manches, aber nicht alles in der umfangreichen Gesamtbibliographie (469–534) wiederholt. Die Originaltexte folgen in der Regel der besten verfügbaren Ausgabe. Eine Besonderheit ist die Apologia Phileae, die in zwei griechischen Papyri aus dem 4. Jh. überliefert ist, die »die ältes­ten Originaldokumente der Märtyrerliteratur« (223) enthält, welche allerdings nur fragmentarisch erhalten sind, weshalb hier der Text synoptisch aus beiden Papyri, einer lateinischen und einer äthiopischen Fassung zusammengestellt wird (228–267). Das ist nicht eben leicht zu lesen, macht aber an einem Fall die Überlieferungsdynamik deutlich, die auch bei anderen Texten zu beobachten ist. Die unterschiedlich ausführliche Kommentierung geht auf philologische und theologische, aber auch auf rechts- und sozialgeschichtliche und auf archäologische Fragen ein – hier zeigen die beiden Herausgeber ihr methodisches Können und reiches Wissen um die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Kaiserzeit, die den Texten erst ihre Tiefenschärfe verleihen, was gelegentliche Anachronismen freilich nicht ausschließt. Die Übersetzungen schließen sich eng an das Original an und bilden dieses, soweit das möglich ist, in seinem literarischen Gepräge nach.
Der Band bereichert die Literatur über die Märtyrer der Alten Kirche definitiv: Er bietet zentrale und einige randständige Quellen mit kritischem Text, nützlicher Übersetzung und erhellender Kommentierung. – Vor allem aber präsentiert er ein einleuchtendes Konzept dieser Texte als Literatur. Es steht zu hoffen, dass analoge Untersuchungen zu den hier nicht behandelten Märtyrertexten in gleicher Qualität folgen.