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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1043–1045

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Könemann, Judith, Meuth, Anna-Maria, Frantz, Christiane, u. Max Schulte

Titel/Untertitel:

Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. 281 S. m. 22 Abb. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 4. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-77889-5.

Rezensent:

Jochen Bohn

Ein Autorenteam aus Theologen und Sozialwissenschaftlern führt im vorliegenden Buch Ergebnisse zweier Projekte zusammen, die im Exzellenzcluster »Religion und Politik« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster realisiert wurden. Die Fragestellung des Buches, wie »religiöse Interessen und Positionen in die Öffentlichkeit und in den politischen Raum vermittelt« werden (9), ist einerseits angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Überwindung und Wiederkehr von Religion und Kirche, andererseits im Kontext der Debatten zu Legitimität und Übersetzbarkeit religiöser Überzeugungen, die Jürgen Habermas 2001 mit seiner Friedenspreisrede angestoßen hat. Auf der Grundlage quantitativer und qualitativer Studien wird überprüft, ob und in welcher Weise die christliche Religion in Deutschland »öffentliche Theologie« betreibt. In theologischer, politikwissenschaftlicher, religions- und mediensoziologischer Perspektive beobachten die Autoren zunächst die Präsenz der christlichen Kirchen im öffentlichen Diskurs um gesellschaftspolitisch strittige Themen. Ausgewählt wurden die beiden Auseinandersetzungen um Schwangerschaftsabbruch und um Migration und Asyl in den Jahren 1970 bis 2004. Neben institutionalisierter Religion wird zudem der religiös motivierte Politiker als persongebundene Vermittlungsinstanz in den Blick genommen, dies insbesondere auf kommunaler Ebene.
Das Buch bietet weitgehend Mengentext, der wissenschaftliche Apparat ist schmal gehalten. Einige Grafiken und Tabellen veranschaulichen die wichtigsten Ergebnisse. Beigefügt ist ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis, ein Register fehlt dagegen. Kapitel 2 (17–63) skizziert die Transformation der Rahmenbedingungen religiöser Interessenvertretung in Deutschland und die entsprechenden Anpassungsherausforderungen für Diskursteilnehmer. Kapitel 3 (65–76) stellt die beiden zugrundeliegenden Einzelprojekte des Exzellenzclusters vor. Kapitel 4 (77–122) zeigt die Häufigkeit der Beteiligung christlich-religiöser Akteure an den betrachteten Debatten in kirchlichen und säkularen Medien, aber auch in lokalen personzentrierten Netzwerken. Kapitel 5 (123–187) fragt nach der Rolle von Kirche und christlichen Politikern im Konzert der Interessen, wie sie sich in den jeweiligen Selbstverständnissen sowie in Fremdzuschreibungen Ausdruck verschafft. Kapitel 6 (189–228) gruppiert die Argumentationsfiguren christlicher Positionierung und überprüft, wie diese strategisch zur Vermittlung und Durchsetzung religiös begründeter Interessen eingesetzt werden. Kapitel 7 schließlich (229–262) diskutiert wesentliche Er­gebnisse und bietet einige perspektivische Überlegungen.
Die Autoren können eine durchgehend hohe Teilhabe der Kirchen an medialen Diskursen nachweisen, wobei die kirchlichen Lei­tungsebenen hier dominant erscheinen. Auf lokaler Ebene ist die außermediale Vermittlung christlicher Interessen abhängig von informellen Beziehungen zwischen Religion und Politik. Diese sind in den westlichen Bundesländern gut, in den östlichen Bundesländern kaum ausgebildet. Sowohl die Annahme einer fortschreitenden Säkularisierung als auch die einer Wiederkehr der Re­ligion lässt sich vor diesem Hintergrund bezweifeln (230). Christ-liche Religion verschwindet nicht aus der Öffentlichkeit, sie kehrt daher auch nicht zurück. Allerdings verändert sie ihr Rollenverständnis. Die Autoren diagnostizieren bei den Akteuren im Verlauf der analysierten Konflikte den Wandel »von einer defensiv-dis-tinktiven Abwehr zu einer integriert-partizipativen Verantwor-tungshaltung« (153), zugleich ein »Erlernen von Respekttoleranz gegenüber dem und den Anderen« (154). Die christlichen Interessenvertreter erweisen sich als sensibel für die gesellschaftlichen, politischen und medialen Transformationsprozesse. Auf welche re­ligiöse Argumentationsfigur sie zurückgreifen, hängt vom jeweils vorgefundenen Kontext ab. Zunehmend werden in der Öffent-lichkeit »religiöse Marker« verwendet, Begründungen also, die bloß noch schwache religiöse Assoziationen auslösen (234). Insgesamt erbringen Kirchen und christliche Politiker damit in hohem Maße jene Übersetzungsleistung, die etwa von Jürgen Habermas eingefordert wird (228).
Der unmittelbare Zugang zum Gehalt des vorgestellten Buches ist wohl jenen vorbehalten, die vom Fach und daher mit dem sozialwissenschaftlichen Jargon vertraut sind. Sache des Empirikers wäre es, das Forschungsdesign der ausgewerteten Studien kritisch anzuschauen. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass die Autoren mit der Anlage des Buches, mit der Aufbereitung und Präsentation ihrer Ergebnisse angesichts gängiger Standards zu überzeugen wissen. Gelegentliche Redundanzen sind wohl unvermeidlich, und selbst die doch recht disparate Gewichtung von Kapiteln und Ab­schnitten ist nachvollziehbar. Hinsichtlich des Ertrages stellen sich allerdings Fragen. Auf der Oberfläche der nackten Zahlen scheint sich hier das alte Laien-Vorurteil zu bestätigen, sozialwissenschaftliche Empirie liefere zuletzt bloß das, was ohnehin in-tuitiv erwartet werde. Die eigentliche substanzielle Schwäche des Buches ist jedoch eine andere: Auch wenn dies angesichts der Fachgebiete der beteiligten Wissenschaftler nicht erwartet werden kann, so wäre doch ein halbwegs ausgeprägtes Bewusstsein für die fundamentalen theologischen Probleme des Verhältnisses von Re­ligion und Politik hilfreich gewesen. Da dieses jedoch offenbar fehlt, gehen Autoren samt Studien dem Religions- und Politikbegriff der säkularen Moderne geradewegs in die Falle. Alle verstreut hinterlassenen Bewertungen der Projektergebnisse deuten darauf hin, dass ein konstruktivistisches und funktionalistisches Religionsverständnis vorausgesetzt ist. Dabei wird Religion durchweg moralisiert und als Beitrag zur Stabilisierung von Gesellschaft und politischem System begrüßt.
Eine tiefer ansetzender Zugriff würde den Ertrag des Buches dagegen auch so fassen können: Theologie und Kirche sind weitgehend säkular funktionalisiert worden und entsprechen heute na­hezu vollständig den Systemerwartungen. Ob das tatsächlich eine gute Nachricht ist für Institutionen und Menschen, die sich vom religiösen Anspruch her als Licht und Salz der Welt begreifen, scheint fragwürdig, zumal die Empiriker bloß sagen können, dass und wie religiöse Interessenvertretung in Deutschland stattfindet. Ob und in welcher Weise die öffentliche Positionierung tatsächlich wirkt, bleibt offen (260). Offen bleibt damit zugleich, ob die (Selbst-) Funktionalisierung von Theologie und Kirche möglicherweise auf eine reine Virtualisierung von öffentlicher Religion hinausläuft – und damit auf einen totalen Relevanzverlust für das, was heute noch Wirklichkeit genannt werden kann.