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Ausgabe:

September/2016

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Unveröffentlichte Texte zur Kirchlichen Dogmatik. Hrsg. v. H. Stoevesandt u. M. Trowitzsch. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. XIV, 726 S. m. CD-ROM. = Karl Barth Gesamtausgabe, 50. Lw. EUR 100,00. ISBN 978-3-290-17669-3.

Rezensent:

Martin Hailer

Band 50 der seit 1971 erscheinenden Karl Barth-Gesamtausgabe ge­hört unter die gleich zu Beginn des Mammutwerks projektierten, benötigte aber wegen vieler anderer dringlicher Bände und der teils sehr schwierigen Quellenlage mehr Vorbereitungszeit als seine 49 Vorgänger. Ein Zwischenergebnis ist die 2004 erschienene gleichnamige CD-ROM, die alle Texte im PDF-Format enthält. Sie liegt dem Band bei, das Begleitheft ist abgedruckt (681–691).
B. hat in der über 30-jährigen Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik immer wieder kleinere und größere Abschnitte im Kolleg vorgetragen, dann aber für den Druck nicht vorgesehen. Nicht wenige dieser Abschnitte wurden nicht aufgehoben, alle im Barth-Archiv in Basel vorfindlichen wurden hier zusammen herausgegeben. Es gibt zum einen zwölf kleinere Fragmente von wenigen bis gut 20 Seiten Länge. Ihnen stehen die drei ausführlichen »vollständigen Texteinheiten« (3) gegenüber: Sie waren als Paragraph bzw. Paragraphenkapitel geplant. Auffällig ist, dass sie sämtlich aus der Schöpfungslehre stammen, dem Gebiet, auf dem B. sich »entschieden weniger vertraut und sicher« fühlte (3, zit. KD III/1, V). Der Hauptteil des Bandes stellt demnach einen Blick in das Laboratorium von B.s Schöpfungstheologie dar.
Der erste dieser Texte, »Der Schöpfer und seine Offenbarung« (5–304), hat unter dem Titel seines ersten Abschnitts »Gott und die Götter« (9) bereits gelegentlich Aufmerksamkeit erregt (zuerst H. Stoevesandt, EvTh 46 [1986], 457–476). B. entfaltet hier die These, dass es geschöpfliche Größen gibt, die von sich aus Verehrung fordern und damit im direkten Widerspruch zum 1. Gebot stehen, »eigenmächtig unternommene Versuche der Kreatur, Gott nachzuahmen« (22). Die Wirklichkeit dieser eigentümlichen Zwischenwesen besteht in der Einbildung, die freilich gerade so prekär wirksam ist. Die Möglichkeit der Götter ist eine menschliche Angelegenheit (63), sie stehen in Beziehung zu Gott als seine Nachahmung und in Beziehung zum Menschen, weil sie wesentlich eine verkehrte Aktion des Geschöpfs – eben die Anmaßung, Gottheit sein zu wollen – sind. B. knüpft mit diesen Aussagen an gelegentliche Vorstudien an, u. a. an den § 21 der 1924–1926 gehaltenen Dogmatikvorlesung »Unterricht in der christlichen Religion« (GA 20, 309–343) und an die Miszelle »Fragen an das Christentum« von 1931 (GA 49, 141–155). Die Spur vom letzteren Text her ist deutlich, weil B. in beiden die Wirklichkeit der Götter als Weltanschauungen deutet: Es etabliert sich in »heiliger Wahl« (179) eine Vorzugsidee, durch deren Perspektive jeder Akt der Wahrnehmung nun zu geschehen hat, sei es eine politische Ideologie oder ein anderes, Absolutheit beanspruchendes denkerisches Prinzip. So entstehen für den Menschen die »Götter seiner Einbildung, die darum doch nicht weniger wirklich und einflussreich sind« (ebd.). Etabliert ist damit die Herrschaft eines Prinzips und eines Systems (211 u. ö.). Am Schluss des Paragraphen skizziert B. die Freiheit von Göttern/Weltanschauungen in der Wirklichkeit des Glaubens: Er ist strukturell vom Befolgen einer Weltanschauung unterschieden und führt, im strikten Gegensatz zu Göttern/Weltanschauungen, in die geschöpfliche Freiheit (284–304).
Die drängende Frage, warum B. diesen Paragraphen zur Seite legte, ist verschiedentlich diskutiert worden. Als gesichert kann gelten, dass seine reife Äußerung zur Sache im – in seiner Deutung besonders umstrittenen – § 50 der KD vorliegt, der Lehre vom Nichtigen. Mit Blick darauf vermutet M. Wüthrich (Gott und das Nichtige, 2006, 223–228), dass für B. die Nicht-Geschöpflichkeit des Nichtigen systematisch wichtig wurde und er sich deshalb von den hier edierten Erwägungen distanzierte, für die die Geschöpflichkeit der »Götter« ja zentral ist. Trifft Wüthrichs Deutung zu, so hat B. seine Selbstkritik vor allem um der rückhaltlosen Güte der Schöpfung willen durchgeführt. Zu klären bliebe aber, warum im nachgelassenen § 78 KD dann doch wieder von geschöpflichen Größen in götzenartiger Funktion die Rede ist (GA 7, 399–450). Die zurückhaltende Kommentierung des Paragraphen geht auf diese und andere Stimmen zu diesem wichtigen Thema der Barthdeutung leider nicht ein.
Bei den beiden anderen vollständigen Texten (»Des Menschen Menschlichkeit«, 305–411, geplant als § 43.2; »Der Mensch und die Menschheit«, 412–558, geplant als § 44.2) liegen die Dinge durchaus anders. B. hatte zunächst vorgehabt, dem einleitenden § 42 der Schöpfungslehre sogleich die Anthropologie folgen zu lassen, die er in zwei Paragraphen vortrug, von denen jeweils nur die hier dokumentierten Kapitel erhalten geblieben sind. Die Anthropologie wurde jedoch zu einem eigenen Kapitel der Schöpfungslehre und liegt in KD III/2 vor. In beiden Fällen merkte B. selbstkritisch an, unsicher gewesen zu sein und die Materie deshalb noch einmal neu angegangen zu sein (KD III/1, VI, bzw. III/2, VIII). Kann man bei »Gott und die Götter« über die Gründe der Selbstzensur nur Vermutungen anstellen, so liegen sie in diesen beiden Fällen – wenn auch in recht allgemeiner Form – vor. Dem gedruckten Text der KD ist also jedenfalls der Vorzug einzuräumen. Eine Sonderrolle dürfte freilich der glänzende Exkurs zu Martin Bubers Dialogphilosophie spielen (359–381). Dass und warum er keinen Eingang in die KD fand, ist bereits mehrfach im Rahmen von Monographien diskutiert worden (D. Becker, 1986; E. Brinkschmidt, 2000; vgl. H.-C. Askani in: Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, 2008, 239–259).
Die genannten kleineren Fragmente wurden vor allem aus Gründen der Straffung nach dem Kollegvortrag und vor der Drucklegung herausgenommen. Unter anderem zeigen sie – wie etwa »Atomwaffen« (671–680) – den politisch interessierten Zeitgenossen, dem es um die theologische Kommentierung des Zeitgeschehens zu tun ist: B. erzählt den Weg zur Atom- und H-Bombe und konstatiert, dass es sich um »Verwirrung der guten Schöpfung Gottes mit dem Nichtigen« handle (674). Nicht zu vergessen ist gerade deshalb das kleine Stück über »Humor«: Ohne vorzüglich über sich selbst lachen zu können, wäre der Mensch wohl ein »Edelschimpanse […] aber leider noch nicht der Mensch« (640).
Die CD-ROM bringt die Texte in Faksimile-Qualität und ge­währt so einen Blick in B.s Schreibwerkstatt, in der vielfach gestrichen und verändert wurde. Der Apparat im gedruckten Buch wird dadurch erheblich entlastet, zugleich kann man die textkritischen Entscheidungen der Herausgeber nachvollziehen. Die beigegebene Suchfunktion macht komfortable und umfassende Recherchen möglich.
Ist es überhaupt statthaft, Texte eines Autors zu publizieren, die dieser eben nicht publiziert sehen wollte? Die Herausgeber diskutieren diese Frage nicht und scheinen der Ansicht zu sein, dass die Einschätzung, »Barth gehöre zu den sehr wenigen ganz Großen der Theologiegeschichte«, dafür als Rechtfertigung genügt (VII). Mit Blick auf die Autonomie, die ein Werk seinem Autor gegenüber gewinnt, mag man dem zustimmen, zumal in diesem Band die Privatsphäre der Beteiligten geachtet wird, was in GA 45 (Briefwechsel Barth/von Kirschbaum I) vielleicht nicht immer der Fall ist.
Der Band enthält die für die GA üblichen sorgfältigen Bibelstellen-, Namen- und Begriffsregister (693–726). Dass der bei Erscheinen des Bandes 83-jährige Mitherausgeber und langjährige Barth-Archivar Hinrich Stoevesandt und seine Frau Elisabeth Stoevesandt in einer Dankesnote geehrt werden (XI), ist wahrlich angemessen.