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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

824–826

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Becker-Lindenthal, Hjördis

Titel/Untertitel:

Die Wiederholung der Philosophie. Kierkegaards Kulturkritik und ihre Folgen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. X, 291 S. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 32. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-041733-3.

Rezensent:

Ulrich Lincoln

Die Untersuchung von Hjördis Becker-Lindenthal reiht sich ein in den Reigen der neuen Kierkegaard-Forschung, die seit 20 Jahren durch die international ausgerichtete Arbeit des Kierkegaard Research Centres in Kopenhagen innovative und interdisziplinär arbeitende Interpretationsansätze hervorbringt. Die Frage der Vfn. richtet sich auf die kulturphilosophische und kulturkritische Dimension des Kierkegaard’schen Werkes – eine Dimension, die in frühesten Kierkegaard-Aneignungen (Brandes, Høffding) sehr relevant war, in der folgenden Forschung aber von anderen Hinsichten oft verdrängt wurde. Der Ansatz dieses Buches ist nicht an einer Nietzscheanischen Kulturkritik orientiert, sondern nimmt andere Motive auf: In historischer Hinsicht orientiert die Vfn. sich an Karl Löwiths Studien zur Metamorphose der bürgerlich-christlichen Welt in der nach-hegelschen Philosophie. In methodischer Hinsicht wird der an Blumenberg geschulte Sinn für die metaphorologische Struktur der Begriffsarbeit wichtig. Hieraus folgen zwei zentrale Thesen: Erstens, Kierkegaards Werk wird als Philosophie nach dem Ende der Philosophie, d. h. nach ihrer behaupteten Vollen­dung bei Hegel lesbar; eine solche Nicht-Philosophie anerkennt die Gegenwart als Zustand der »Postrestitutivität«: als ein Selbstverständnis, das zu keinem Früheren mehr zurückzukehren vermag und nun in der Form der Kritik der Gegenwart, d. h. als Kulturkritik weiterlebt. Zweitens, auch die sprachlichen Mittel dieser Kul turkritik lassen sich in Kierkegaards Werk auffinden; sie sind durch die Stichworte Performativität, Rhetorizität und Metaphorisierung benannt. Beide Hauptlinien kreuzen sich im Begriff der Wiederholung, der gleichermaßen für eine innovative Wiederholung verschütteter philosophischer Motive und eine »performative Repetition« (17) des Textes steht.
Nach der Klärung des »postrestitutiven« Standortes der Kierkegaard’schen Philosophie (Kapitel 1) entfaltet das zweite Kapitel den Begriff der Kulturkritik mit Verweis auf Rousseau. Der Begriff ist durch Topoi wie Restitution, Bildungskritik, Kritik der Massengesellschaft und des Zeitgeistes und das Hören auf die Stimme des Herzens bestimmt. Diese Motive findet die Vfn. bei Kierkegaard wieder. Die kulturkritische Dimension Kierkegaards wird in Interpretationen zur »Krankheit zum Tode« und der »Literarischen An­zeige« entfaltet. Hier sind es die Begriffe Verzweiflung und Reflexion, die Kierkegaard zur Analyse seiner Gegenwart heranzieht. Die Verzweiflungsanalysen enthüllen dieses Phänomen als Symptom einer »existentiellen Amnesie«, in der die Einzelnen vergessen, »was es bedeute, ein einzelner Mensch zu sein.« (4) Dieser Zustand wird als Entfremdung interpretiert. Freilich ist zu fragen, ob der Entfremdungsbegriff ein angemessenes Interpretament ist; er wirkt doch sehr aus anderen Jargons eingetragen. Für die Vfn. ist besonders die enge Verbindung von Verzweiflung und Reflexion wichtig. Vor dem Hintergrund der Verzweiflungsanalyse entfaltet »Eine Literarische Anzeige« die Dimensionen des Reflexionsbegriffs als Kern der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Wissensvöllerei und gesellschaftliche Gärung, Nivellierung und Leidenschaftslosigkeit, Masse und Opium – in diesen Begriffen skizziert Kierkegaard laut der Vfn. seine Gegenwartsdiagnose als Kulturkritik. Gegen den Vorwurf des politischen Reaktionismus wird Kierkegaard in Schutz genommen, und in seiner Stellung zum Kommunismus findet die Vfn. interessante Hinweise auf den religiösen Gehalt dieser Bewegung (105). Insgesamt gelingen der Vfn. in der verbindenden Interpretation der beiden Schriften viele treffende Beobachtungen, vor allem zum Verzweiflungscharakter der Gesellschaftsdiagnosen in der »Literarischen Anzeige«.
Das dritte Kapitel (»Philosophiekritik«) bringt eine knappe Interpretation der Auseinandersetzung Kierkegaards mit dem Hegelianismus. Dessen Vollendungsgestus wird von Kierkegaard destruiert. Gleichzeitig kritisiert er die Universitätsphilosophie für ihre Wirklichkeitsvergessenheit. Hier findet die Vfn. Parallelen zu Schopenhauer.
Das folgende Kapitel (»Kierkegaards Wiederholung der Philosophie«) arbeitet zunächst die performative Textualität Kierkegaards heraus, und zwar in Analysen zu den Schriften »Die Wiederholung« und »Vorworte«. Nun sind herkömmlicherweise gerade diese beiden Bücher bevorzugte Grundlage dekonstruktivistischer Kierkegaard-Interpretationen. In ähnlicher Manier entwickelt auch die Vfn. von der ironischen Form dieser Texte aus eine performative Texttheorie, in welcher das Motiv der indirekten Mitteilung an die Schriftlichkeit und die Praxis des Lesens gebunden wird: »Die Wiederholung als Lektüre, die Lektüre als Wiederholung« (188 ff.). Gelegentlich wirken diese literarischen Interpretationen allzu selbstverliebt. Jedoch verbindet die Vfn. die Lesetheorie mit zwei ausgewählten re-lectures Kierkegaards, nämlich seiner Interpretationen d er sokratischen »Bremse« und der Bildtheorie Meister Eckards. Hier liefert das Buch eine erhellende Rekonstruktion Eckard’scher Motive in einer Erbaulichen Rede und verbindet sie mit dem Reflexionsbegriff: Die moderne Nötigung zur verzweifelten Reflexion kommt erst in der mystischen kenosis im Sinne einer völligen Entleerung von gesellschaftlich und biographisch eingespielten Normierungen zur Ruhe. Diese Entleerung wird zugleich als Voraussetzung für die reflexive Einbildung, d. h. die Spiegelung Gottes in das menschliche Selbst hinein, entfaltet.
In einem knappen abschließenden Kapitel fasst die Vfn. ihre Er­gebnisse im Stichwort der »Philosophie der Tat« zusammen: Ebenso wie anderen Philosophien der Postrestitutivität geht es Kierkegaard um eine Wendung der Philosophie zum Handeln. Solches Handeln wird jedoch nicht, wie man erwarten könnte, als Praxis der christlichen Nachfolge gedeutet, sondern als die Aufforderung: »noch einmal zu lesen – anders« (259). Im wiederholenden Lesen kommen die sokratische Ironie und die mystische kenosis in der modernen Schriftkultur an. Eine Vermittlung dieser These mit der gesellschaftskritischen Sprengkraft des Spätwerkes bleibt aus.
Insgesamt ist dieses Buch eine anregende Lektüre. Auf eine genetische Interpretation, die das Einzelwerk innerhalb der Entwicklung des Gesamtwerkes lokalisiert, wird zugunsten einer sys­tematisch-diachronen Rezeption verzichtet. Freilich, man bleibt als Leser an der Gretchenfrage einer jeden Kierkegaard-Interpretation hängen: Wie hält es die Vfn. mit Kierkegaards Religion? Hier ist eine beträchtliche Unklarheit zu konstatieren. Kierkegaards Christlichkeit wird in diesem Buch reduktionistisch wegerklärt und der »Selbstinszenierung« des Autors zugeschrieben (34); konsequenterweise werden Texte der erbaulich-christlichen Gattungen in der Untersuchung kaum berücksichtigt. Die Vfn. verfolgt eine nicht-religiöse Interpretation der theologischen Textfiguren; hierin steht sie den älteren kulturphilosophischen Kierkegaard-Deutungen nahe. Gelegentlich bemüht sie den Begriff der »religiösen Tiefendimension« (Tillich) zur Plausibilisierung der religiösen Sprache Kierkegaards. An anderer Stelle wird behauptet, Kierkegaard verstehe sich selbst als christlichen Märtyrer (114) – was der differenzierten Standortbestimmung Kierkegaards im Zu­ge seines Kirchenkampfes schlichtweg widerspricht. Andererseits liefert das Buch eine sensible Interpretation der Spuren der Mystik in Kierkegaards Denken. In der christlichen Beredsamkeit erkennt die Vfn. schließlich auch den »Puls des Gesamtwerkes« (252). Leider ist die Bedeutung, die gerade die religiösen Texte der mittleren und späten Werkphase (ab 1847) für diese Behauptung und für eine kulturphilosophische Interpretation überhaupt ha­ben, nicht ausgeschöpft.
Fazit: Das Buch kann kaum als eine gelungene Gesamtdeutung Kierkegaards gelten, wohl aber als eine in ihrer Einseitigkeit oft gewinnbringende Interpretation eines Ausschnittes des Kierkegaard’schen Werkes. Der Bezug auf die Motive der Kulturphilosophie ermöglicht viele neue Anschlüsse dieses Autors an aktuelle Diskurse.