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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

560-562

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Daniel J.

Titel/Untertitel:

Der homiletische Entwurf von Gerhard Aho (1923–1987). Studie zur Rekonstruktion eines nordamerikanischen lutherischen Predigtkonzepts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 492 S. m. Abb. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03891-6.

Rezensent:

Frank Thomas Brinkmann

Es gibt Bücher, deren Sinngehalt sich nicht ohne Rekonstruktion all ihrer Kontexte erschließt; mitunter freilich gibt es jedoch auch solche, wo der Gehalt bereits über eine rekonstruktive Skizze aller Kontexte anschaulich gemacht und nahezu vollständig abgebildet werden kann:
Daniel J. Schmidt, Autor dieser von der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau angenommenen Dissertationsschrift, ist Pfarrer der SELK (Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche), jener nach eigenen Angaben (www.selk.de) und eigenem Selbstverständnis bewusst auf dem Bekenntnis der Reformation fußenden Institution, die sich 1972 aus drei bis dahin organisatorisch eigenständigen Kirchenkörpern – der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche, der Evangelisch-Lutherischen Freikirche und der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche – zusammengeschlossen hatte (1976 war ihr die Evangelisch-Lutherische Bekenntniskirche beigetreten, 1991 die Evangelisch-lutherische [altlutherische] Kirche der ehemaligen DDR). Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bezieht diese Glaubensgemeinschaft ihre Identität aus einem Traditionskonglomerat, das sich gern an die Erweckungsbewegung des 19. Jh.s, vor allem aber den Widerstand treuer Lutheraner gegen die preußische Union, den Rationalismus und die liberale Theologie erinnert. Als Konsens gilt die Auffassung, dass die Bibel als Heilige Schrift das unfehlbare Gotteswort ist und in den lutherischen Bekenntnisschriften schriftgemäße Lehre bezeugt wird. Eine Kirchengemeinschaft mit den evangelischen Landeskirchen besteht nicht: Die SELK ist weder Mitglied der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (VELKD) noch des Lutherischen Weltbundes (LWB), auch nicht der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) oder des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Außerdem ordiniert die SELK keine Frauen zum Pfarramt.
Weil jedoch zu den Lebensäußerungen der SELK das missionarische Engagement im In- und Ausland gehört und sie in engen Beziehungen zu verwandten Kirchen europa- und weltweit steht, entsendet auch ihre Ausbildungseinrichtung – hier: die Lutherische Theologische Hochschule in Oberursel – Theologiestudierende in andere kulturelle und konfessionelle Umfelder (15), genauer und exemplarisch: in die kooperierenden kirchlichen Seminare etwa der Missouri-Synode in St. Louis und Fort Wayne. Dort studierte der Vf., der sich auch nach seiner Studienzeit weiterhin durch eine rege Reisetätigkeit – der missionarische Tourismus führte ihn noch u. a. nach Frankreich, in den Kongo, nach Botswana und Südafrika (16–18) – auszeichnete, in einem homiletischen Grundkurs bei Gerhard Aho. Dessen handwerkliche Akkuratesse und Präzision, wohl aber auch dessen Hilfestellungen bei der Herausforderung, »das lebendige Wort der Verkündigung so auf die Kanzel zu bringen, wie der Hörer es braucht und aufnehmen kann« (16), hat offenbar Mitte der 1980er Jahre einen derart bleibenden Eindruck hinterlassen, dass der Vf. sich 25 Jahre später (»Ende 2009«, vgl. 18) bewegt wusste, das bis dato ungelöste theologische Kernproblem nicht nur der SELK (Was sagt »Gottes Wort tatsächlich«?; 18) aufzugreifen und mit der Grundfrage des amerikanischen Lehrmeisters zu verquicken: »Wie kann die Homiletik den Prediger in die Lage versetzen, den Hörern das lebendige Wort Gottes nach dessen eigener Intention so zu sagen, wie sie es in ihrer menschlichen und geistlichen Situation gebrauchen können?« (18)
Freilich, es gab bis dato keinen Versuch, »Gerhard Ahos Wirken und Werk im Zusammenhang zu erfassen« (21), geschweige denn, die Wirkung dieses Homiletikers mit den akademischen Graden eines »Bachelor of Divinity« und eines »Doctor of Philosophy in Speech« im Kontext einer nordamerikanischen Homiletik zu entfalten. Obwohl hier schon eine deutliche Pionierarbeit geleistet worden war – der Vf. weist vor allem auf die Arbeiten von Martin Nicol und Jeffrey T. Myers hin (vgl. 22 ff.) – und man beachtliche Differenzierungsvorschläge, etwa zwischen einer herkömmlichen, traditionellen Homiletik und einer eben »new homiletic« hatte registrieren können, war offensichtlich Gerhard Aho niemals ge­würdigt worden.
Das Eingangsprozedere des Vf.s also, zunächst in einem ersten Teil »Die Person Gerhard Ahos« vorzustellen bzw. konkret: die finnische Abstammung seiner Ahnen ebenso wie die geistlichen Wurzeln des (dort entwickelten) Luthertums, die lokalen und familiären Hintergründe seiner Frömmigkeitsgenese ebenso wie die späteren Stationen seines Wirkens in Pfarrstellen und theologischen Seminaren (40–47) anschaulich zu machen, ergibt durchaus Sinn und bedient den Wissensdurst der Lesenden (die übrigens schmunzeln dürften bei der Ähnlichkeit des Aho-Porträts auf S. 48 mit dem auf S. 4 abgebildeten Vf.).
Ähnlich informativ, wenngleich auch bisweilen leicht redundant ist auch der zweite Teil gesetzt, der sich ausführlich der nordamerikanischen Homiletik widmet (51–244): Hier werden reichlich Aspekte der »alten« Homiletik (59 ff.) gelistet und die klassischen Bemühungen um Klärungen zu Predigtwesen, Predigtmaterial, Predigtinhalt, Predigtform, Predigtstil usw. referiert, ohne zwingend den wirklichen Gewinn dieser einmal mehr zu Papier ge­brachten Lehrbuchdaten erkenntlich zu machen. Auch die eingehende Betrachtung der »neuen Homiletik« (112–244) lässt noch nicht erahnen, wohin die akademische Reise geht – trotz aller zu bescheinigender Informationsdichte, die sicher als Indiz für Fleiß und Eifer gelten darf. Da werden zwar all die »neuen« Diagnosen, Herausforderungen, Chancen, Rezeptionen, Schemata und Wege (z. B. über Story, Plot, Move; vgl. 188 ff.) erkannt und benannt, aber dann doch wieder zurückgebogen in die Vorbehalte jener starken lutherischen Denkfiguren, die am Ende Mühe machen: dass des Menschen Wesen Sünde bleibt, die Predigt das Wort Gottes zu sein hat (oder eben »ist«?) und als Gerichts- und Gnadenansage Heil schafft.
Insofern wundert es nicht wirklich, dass auch die folgenden Hauptteile der vorliegenden Studie (Teil 3: Die Predigt bei Gerhard Aho im Kontext der Missouri-Synode; Teil 4: Die weitere Wirkung des Predigtkonzepts Gerhard Ahos) nur ganz wenig Neues zeigen; bereits die Skizze der »besonderen Kennzeichen lutherischer Homiletik« (253–274) bringt es an den Tag: Nicht die fragwürdige Theologizität von schwersten Geschützen wie dem Gottesurteil über den Hörer steht zur Debatte, nicht die prinzipielle Homiletik soll diskutiert werden, auch nicht die materiale. An diesen Pforten wird weder geklopft noch gerüttelt. Um eine geschmeidigere Methodik geht es bestenfalls, um die Praktikabilität von Lehrmethoden, und um ein Anwendungswissen, das der Trias von goal, malady und means ge­recht bleibt: Eine Variation des ordo salutis blitzt auf, ein Heilsweg, der nur durch jene Predigt möglich wird, die von der geistlichen Krankheit (malady) des Menschen und der ursündlichen Verderbtheit seiner Natur ebenso überzeugt ist wie von der Zielsetzung (goal) Gottes, diese Krankheit zu überwinden – zumal er auch die Mittel (means) dazu hat. Was dem Prediger also per se et per definitionem bekannt ist und bleibt, muss nur noch dem Hörer (!) eingeprägt werden. Er muss – gern auch mit rhetorischem Feinschliff – gesagt be­kommen, dass alle human problems ihren Grund in der Sünde haben, Gott den neuen Menschen aber als Mensch in Liebe und Glauben haben will – und deswegen über seinen eigenen Liebesüberschuss in Christo den Menschen heil und ganz macht (vgl. 456 f.)!
Ob dieser Impuls eines nordamerikanischen Predigtlehrers für gegenwärtige akademische Diskurse und praxisnahe homiletische Experimente hilfreich ist und man auf der Grundlage von material­dogmatischer Nibelungentreue, schwarzlutherisch-ultraorthodoxer Heilswegpädagogik und em­sig-beflissener Textbürokratie wirklich predigen kann, wird hier und da noch debattiert werden. Für den Rezensenten, der lange in einer landeskirchlichen, evangelisch-unierten Kirchengemeinde lutherischer Prägung als Prediger tätig gewesen ist, gibt es an dieser Stelle wenig Bedarf.