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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

507-509

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Scheuter, Sabine, u. Matthias Zeindler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das reformierte Pfarrhaus. Auslauf- oder Zukunftsmodell?

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 168 S. = denkMal, 7. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-290-17704-1.

Rezensent:

Frank Weyen

Mit dem Pfarrhaus unter reformiert-schweizerischem Aspekt befasst sich diese von dem Berner Systematischen Theologen Matthias Zeindler und der Zürcher Theologin Sabine Scheuter 2013 herausgegebene Aufsatzsammlung. Dabei wird bereits zu Beginn versucht, einen weiten Bogen zu spannen, den der in vier inhaltlichen Schwerpunkten gegliederte Band zu kategorisieren sucht. Während betroffene Personen ihre Erfahrungen mit dem speziellen Leben im Pfarrhaus im ersten Kapitel illustrieren sollen, liefern die Kapitel 3 und 4 eine theologische und auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich. Im Vergleich dazu fallen die ersten beiden Kapitel (Pfarrhaus im Film, Pfarrhaus im Krimi etc.) inhaltlich deutlich hinter den folgenden Kapiteln 3 und 4 zurück. Aufgrund ihrer inhaltlichen wie wissenschaftlichen Tiefe sollen hier einige herausragende Abhandlungen zu dem gewählten Themenbereich besprochen werden.
Den Reigen eröffnet der Zürcher Historiker Michael Mente mit einer umfassenden historischen Betrachtung des reformierten Pfarrhauses als Erinnerungsort, da die meisten Gemeindeglieder das Pfarrhaus heute wohl aus früheren Zeiten weniger als einen Ort kennen, an dem Pfarrpersonen ständig angetroffen werden können. Dabei durchschreitet Mente das Pfarrhaus in seinen verschiedenen Epochen und setzt, genuin reformiert, mit der Zürcher Reformation ein, durchstreift die Räume des 17. Jh.s ebenso wie Aufklärung und die gute Stube der Gegenwart. Besonders an den Erwägungen Mentes ist vor allem der Versuch einer Beantwortung der sich zwangsläufig aufwerfenden Frage zu erkennen, was denn das Besondere am reformierten Pfarrhaus gegenüber anderen protestantischen Pfarrhäusern sei. Dies veranlasst ihn zu dem Schluss, den »Erinnerungsort Pfarrhaus« dem Wandel der Geschichte un­terworfen zu sehen, das als Bedeutungsträger nur solange eine Rolle spielen könne, wie es gestaltet und belebt werde (91). Darüber hinaus skizziert er das Pfarrhaus als »offene Burg« (92), als Bildungsort (93), als Ort der Kultur (94) oder als Ort einer christlichen Kultur (95). Doch letztlich habe es seine gesellschaftliche Prägekraft in unserer Zeit verloren und sei daher ein Ort der Erinnerung an eine vergangene Zeit. Als Historiker verdient Mente mit seiner ge­schichtsbezogenen Entfaltung des Sujets deutlichere Beachtung.
Der Zürcher Theologe Ralph Kunz unternimmt in dem Sammelband den Versuch, das Pfarrhaus als ein »Haus in der Zeit« wissenschaftlich zu beobachten, verliert sich jedoch in der Charakterisierung dieses Funktionsgebäudes als Ort der »Neurosenbildung« (104). Die daraus entsprungenen Biographien lassen sich, laut Kunz, auf keinen einheitlich pathologischen Nenner bringen. Dies mündet, auf der Grundlage der Gesellschaftsanalyse von Roland Campiche, bei Kunz darin, das Pfarrhaus als Kontrastmodell darzustellen, das im Sinne einer zunehmenden Entflechtung von Religion und Gesellschaften als Anomalie eine lebensweltliche Spiegelung innerhalb einer sich funktional differenzierenden Gesellschaft abgebe (104–108). »Ein bewohntes Haus, das segmentierte Lebenswelten vereint und, wie eine Spinne im Netz, Fäden in ein vernetztes Umfeld spannt, ist schlichtweg exotisch« (108). Denn die Pfarrhausidylle sei ebenso wie eine angebliche »Pfarrhaushölle« eine Fiktion. Ob allerdings die Koinzidenz zwischen der vom Autor ausgemachten Verflachung einer vorwiegend territorial gestalteten Parochialkultur mit einer Überhöhung einer Pfarrhauskultur in einer postchristlichen Kultur korrespondiere, bleibt bei Kunz offen.
»Das Pfarrhaus war lange Zeit die der volkskirchlich strukturierten Kirche entsprechende Form der Präsenz in der Gesellschaft. Auch unter heutigen Bedingungen bleibt das Pfarrhaus eine zentrale Gestalt solcher Präsenz« (127), kommentiert der Herausgeber Matthias Zeindler die aktuelle Lage des Pfarrhauses, während David Plüss, Professor für Praktische Theologie an der Universität Bern, das Pfarrhaus in eine konkretere Rollenbeschreibung hüllt. Es repräsentierte und repräsentiert für Plüss auch heute noch die seelsorgliche Dimension der Kirche. Dabei sieht er jedoch auch, dass die Frequentierung und Inanspruchnahme dieser Rollenfunktion heute nicht mehr in dem Maße angefordert wird wie noch in früheren Zeiten, also vor Internet, Smartphone & Co. Daher be­zeichnet er das Pfarrhaus als »gebaute Pastoraltheologie«, das zugleich auch das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz zueinander ordnen helfe (138). Daran anschließend öffnet Plüss den binnenkirchlichen Bereich des Pfarrhauses zugleich mit Hilfe des Titels einer Welthaftigkeit und Weltförmigkeit der christlichen Botschaft. Darin erweise es sich als »Laboratorium und Lackmustest evangelischer Freiheit« (139), da hier die Relevanz des Evangeliums exemplarisch als gebaute Ekklesiologie in und für die Welt gelebt werden könne.
Der Auseinandersetzung mit dem Pfarrhaus als überkommene oder auch als aktuelle Form der Darstellung eines möglicherweise exemplarischen christlichen Lebens vor Ort (S. Scheuter) hätte noch tiefergehende Beachtung zuteilwerden können. Es bleibt hinsichtlich des Büchleins unklar, wer als Dialoggruppen angesprochen werden sollten. Als rein wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema fehlen soziologische, architektonische, die problematischen kirchenrechtlichen, aber auch arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen. In diesem Fall wären die eher anekdotischen Teile verzichtbar gewesen, die die ersten beiden Kapitel bilden und einen Überblick über das Pfarrhaus in der Literatur, im Krimi oder in der Selbstvergewisserung über mögliche persönlichkeitsprägenden Aspekte verschaffen wollten. Sollte mit Letzteren das Interesse für die »Erlebniswelt Pfarrhaus« in einem literarischen Sinne geweckt werden, was die ersten beiden Kapitel eher nahegelegt hätten, so wäre der überschaubare wissenschaftliche Teil verzichtbar. So bleibt Ratlosigkeit beim Leser zurück, insbesondere in der Frage, was eigentlich das Proprium des genuin reformierten Pfarrhauses gegenüber demjenigen anderer Konfessionen darstellt, auch wenn der Versuch Michael Mentes, dies zu bestimmen, besondere wissenschaftliche Beachtung verdient und diesem Büchlein seine qualitative Richtung verleiht.