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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

475-478

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Allison, Jr., Dale C.

Titel/Untertitel:

James. A Critical and Exegetical Commentary.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2013. XLIX, 790 S. = The International Critical Commentary on the Holy Scriptures of the Old and New Testaments. Geb. US$ 130,00. ISBN 978-0-567-07740-0.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Der massive Jakobus-Kommentar von Dale Allison schlägt derzeit wohl alle Rekorde, was die Ausführlichkeit, Gründlichkeit und Breite der Darstellung von Einzelproblemen zum Jakobusbrief betrifft. Er hat im ganzen 20. Jh. kaum seinesgleichen und wird auch für das 21. Jh. auf lange Sicht Maßstäbe setzen. Einen besonderen Akzent setzt A. mit seiner sehr breiten, auch Entlegenes heranziehenden und auswertenden Aufarbeitung und Darstellung der Auslegungsgeschichte des Briefes, aus der er relativ ausgewogen altkirchliche und mittelalterliche Zeugnisse ebenso wie die Auslegungen der Reformatoren zur Sprache bringt, solche aus der Entstehungszeit der kritischen Bibelwissenschaft im 18. oder der »erwecklichen« Bibelauslegung im 19. Jh. ebenso wie religiös-praktisch oder sozialgeschichtlich orientierte Auslegungen aus dem 20. Jh. All diese Stimmen werden nicht nur bibliographisch nachge wiesen, sondern auch oft in Textauszügen dokumentiert und knapp kommentierend eingeordnet. Allein die Arbeitsleistung, die hinter dieser Materialsammlung und -aufbereitung steht, verdient höchste Anerkennung.
A. war international zunächst in der Reihe »The International Critical Commentary«, die als Flaggschiff englischsprachiger Bibelwissenschaft gelten kann, mit einem dreibändigen Matthäus-Kommentar hervorgetreten (mit W. D. Davies, Edinburgh 1988, 1991, 1997). Darüber hinaus hat er sich in der Q- und Jesus-Forschung einen Namen gemacht. Dass die Jakobusforschung mit der Matthäus-, Q- und Jesus-Forschung (dazu nicht selten auch mit der zur Didache) eine Liaison eingeht, zeigt sich in jüngerer Zeit häufiger (vgl. die Arbeiten von Scott McKnight, John Kloppenborg, Joel Marcus, Peter Tomson, Matthias Konradt oder auch die jüngs­te Monographie von Susanne Luther zur »Sprachethik im Neuen Testament«, Tübingen 2015). Es ist erfreulich zu sehen, wie die theologischen Vorurteile gegen den Brief, die einer gründlichen Auseinandersetzung mit ihm lange Zeit im Wege standen, in der jüngeren Forschung der intensiven Auseinandersetzung mit seiner Sprachgestalt, seinen religiösen und ethischen Ideen, seiner Bedeutung für die frühchristliche Literaturgeschichte und seinem theologischen Anspruch gewichen sind.
Der Kommentar von A. folgt keinem speziellen methodischen Ansatz, zeigt gleichwohl neben der Einbeziehung der Interpretationsgeschichte weitere charakteristische Merkmale und setzt eigene Akzente, auf die sich die folgende Besprechung konzentrieren muss. In der Verfasserfrage entscheidet sich A. nach sorgfältiger Prüfung von pro und contra gegen die Abfassung durch den Herrenbruder und für ein Pseudepigraphon aus dem 2. Jh. (3–32). Eine wichtige Rolle spielt dabei die in der jüngeren Diskussion stärker berücksichtigte Problematik der schwachen und späten äußeren Bezeugung des Briefes in der christlichen Literatur des 2. Jh.s (die handschriftliche Bezeugung setzt erst im 3. Jh. ein). Auch hinsichtlich der Einbindung in den neutestamentlichen Kanon ist der Befund durchwachsen. Abhängigkeiten zu frühchristlichen Schriften außerhalb des Neuen Testaments bis 150 n. Chr. lassen sich kaum sicher nachweisen. Das Verhältnis zum »Hirten des Hermas« kann nicht eindeutig beurteilt werden (Liste der Parallelen: 20–22). Zieht man die Möglichkeit in Betracht, dass der Hirte den Jakobusbrief benutzt hat, kommt man auf ein Abfassungsdatum spätes­tens um 120.
Unter der Überschrift »Sitz im Leben« diskutiert A. vor allem die Frage nach den Briefadressaten (32–50). Ausgehend von ihrer Be­zeichnung als »zwölf Stämme in der Diaspora« (1,1) hält er zunächst fest: »there is no sign of a Gentile audience« (33). Freilich finden sich ebenso wenig explizit »christliche« Züge (zu 2,1 s. gleich), und »the Jewish ethos is ubiquitous« (ebd.). Aus diesem ambivalenten Be­fund entwickelt A. seine These, das Schreiben richte sich an Jesus-Anhänger, die ihre eigene Gruppe noch nicht grundsätzlich im Gegensatz zu jüdischen Gruppen definiert hatten und sich noch in der Synagogengemeinschaft aufhielten: »our book emerged from a Christ-oriented Judaism, from a group that still attended syna-gogue and wished to maintain irenic relations with those who did not share their belief that Jesus was the Messiah« (43). Anknüpfend an eine starke Forschungstendenz, nach welcher die Grenzen zwischen ›Juden‹ und ›Christen‹ (die Begriffe sind für diese Zeit ohnehin anachronistisch) noch bis weit in das 2. Jh. hinein alles andere als klar definiert und markiert waren, vertritt A. also die Ansicht, dass der Jakobusbrief eine ›christliche‹ Gruppe repräsentiere, die noch um ihren Platz in der Synagoge kämpfte. Diese Gruppe erhoffte sich offene Ohren für ihre eigenen Überzeugungen über Jesus Christus auch bei ›nicht-christlichen Juden‹. Der Brief kann demnach als eine Art Apologie verstanden werden. Er wendet sich an Juden, zu denen sowohl solche gehören, die die Überzeugungen des Autors über Jesus teilen, als auch solche, die das nicht tun (48).
Mit dieser Sicht der Intention des Briefes hängt eine textkritische Entscheidung zusammen, die A. nicht in der Einleitung, sondern erst in einem eigenen Exkurs zum Stück ausführlich begründet (382–384), wenngleich er sie bei seiner Argumentation zum »Sitz im Leben« schon voraussetzt. In 2,2 hält er ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ für textkritisch sekundär (im Unterschied zum Briefpräskript, wo A. an καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ als ursprünglich festhält). In der Tat wirkt die Formulierung in 2,1 überladen und grammatisch unklar (vor allem hinsichtlich des Bezugs der Wendung τῆς δόξης am Ende). Andererseits wird die Auslassung durch den handschriftlichen Befund nicht gestützt und hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sie eine »Verschlimmbesserung« jeder anzunehmenden Textvorlage voraussetzt. M. E. reichen die Argumente für eine solche Konjektur nicht aus, wenngleich einzuräumen ist, dass A. erneut auf die Schwierigkeiten des überlieferten Textes hingewiesen und seinen eigenen Vorschlag nicht nur mit seiner These zu den Briefadressaten, sondern textkritisch begründet hat.
Zu den Quellen des Briefes (51–71) rechnet A. an erster Stelle die Schriften Israels (51: nach biblischen Schriften geordnete Tabelle mit Hinweis auf die Jak-Stellen), wobei er nicht einzelne Schriften wie Sir einseitig hervorhebt (so etwa Frankemölle in seinem Kommentar), sondern die ganze Breite des Schriftbezugs nach Herkunft und Verwendungsweise herausstellt (Zitate, Anspielungen, »biblische Textur«, Septuaginta-Sprache). Rezipiert wurden die Schriften Israels auf der Überlieferungsstufe und in der Gestalt, die sie im Frühjudentum erlangt hatten. Deshalb werden auch außerbib-lische frühjüdische Schriften als Quellen wichtig (besonderes Gewicht fällt auf Philon und die Testamente der Zwölf Patriarchen). Aber auch die »pagane« hellenistisch-römische Popularphilosophie (besonders Plutarch und Epiktet) muss als Quelle in Be­tracht gezogen werden.
Besondere Aufmerksamkeit als Quellort für Gedanken und Aussagen des Jakobusbriefes verdient natürlich die Jesus-Überlieferung, ein schon immer viel diskutiertes Thema, bei dem die zahlreichen unübersehbaren Anklänge an Jesus-Logien mit dem Fehlen jeglichen expliziten Rückbezugs auf Jesus im Brief einhergehen. A. verbindet den bekannten Befund mit seiner spezifischen These zu den Briefadressaten: »our text does not appeal to Jesus as an author­-ity because Jesus was not an authority for all of the envisaged audience« (59). Mit Blick auf die synoptischen Evangelien tendiert er zu der Annahme, Jak habe Mt gekannt (61). Das Verhältnis zu Paulus diskutiert er ausführlich nicht nur in der Einleitung (62–67), sondern auch im Zusammenhang von 2,14–26 (besonders im Abschnitt zur Auslegungsgeschichte, 426–441, aber auch bei der Auslegung passim), mit dem Ergebnis: »James was – or perhaps some of his sources were – more likely than not familiar with Romans and perhaps also with 1 Corinthians and/or Galatians.« (67) Auch 1Petr habe er gekannt (67–70).
In seiner spezifischen Briefform (71–76) kombiniere der Autor Gattungsmerkmale des didaktischen Briefes und des frühjüdischen Diasporabriefes miteinander (»paraenetically oriented early-Jewish diaspora-letter«, 74). Die Struktur (76–81) lasse sich im Großen chiastisch erschließen, mit den beiden Passagen zu »law of freedom/concern for poor« in der strukturellen Mitte (jeweils beide Themen in 1,25–27 und 2,1–13). Im Kleinen zeichne sie sich durch starke Variabilität aus, so dass eine systematische Einzelgliederung kaum möglich ist. Wichtiger sind übergreifende Strukturmerkmale wie die Einführung der wesentlichen Themen in Kapitel 1 und ihre Wiederaufnahme im späteren Verlauf des Briefes oder die Wiederholung von Stichwörtern und Motiven (ähnlich schon Frankemölle, der vom »semantischen Netz« gesprochen hatte). Mit ausführlichen Tabellen untersetzt sind Ausführungen zu Sprache und Stil (81–88), die zu dem Ergebnis führen »that our author was bilingual, perhaps a Greek-speaking Jew who, despite his knowledge of the LXX, also had some sort of education in the Hebrew Bible« (87). An »Leading Ideas« (88–94) diskutiert A. knapp »Theology« (im We­sentlichen das biblisch-jüdische Gottesverständnis), »Christology« (im Wesentlichen eine Fehlanzeige, zumal 2,1 textkritisch eliminiert wurde), »Law« (im Wesentlichen dasselbe Toraverständnis wie Mt 5,17–20), »Pastoral Teaching« (hier liegt das Hauptgewicht des Briefes, insbesondere in dem Gedanken, dass die Tora nicht bloß zu hören, sondern zu halten ist) und »Eschatology« (»present in every section« [92]). Die erläuternden und vertiefenden Ausführungen dazu finden sich in den betreffenden Textauslegungen. Bemerkungen zu Herkunft (94–98; A. plädiert für Rom), Text (98 f.; Basis ist die ECM, abgesehen von 5,19 [+ τῆς ὁδοῦ mit P74] und der bereits erwähnten Konjektur in 2,1) und besonders ausführlich zur Rezeptionsgeschichte (99–109) beschließen die Einleitung.
Die Textauslegung ist im besten Sinne konventionell: Auf die eigene Übersetzung folgt in der Regel die ausführliche Dokumentation der Auslegungs- und Forschungsgeschichte, dann eine abschnittübergreifende Exegese mit detaillierter Struktur- und Stilanalyse sowie die Auslegung Vers für Vers. Zusammenfassungen gibt es nicht, auch nicht bei längeren Abschnitten wie 2,1–13 oder 2,14–26. Hinweise zur Auslegungsgeschichte sind immer wieder auch in die Einzelauslegungen eingestreut, wenn auch meist nicht in systematischer Ordnung oder Absicht. Das führt öfter zu starken Ausweitungen in der Auslegung und gelegentlich auch zu Doppelungen. Die Dokumentation und Erschließung der Sekundärliteratur in den Fußnoten ist immens, auf einen Zug gar nicht auszuschöpfen, aber als Ort zum Nachschlagen einzigartig und kaum zu ersetzen (im Literaturverzeichnis gibt es fast vierzig Seiten Kleingedrucktes, die zahllosen Einzelnachweise in den Fußnoten nicht mitgerechnet!). Sie erfasst keineswegs nur die aktuelle Forschung, sondern auch in ganzer Breite die ältere bis weit in das 19. Jh. hinein, ganz abgesehen von den Passagen zur Rezeptionsgeschichte. Auch Internationalität ist durchweg gesichert. Selbst wenn solche Literaturverzeichnisse und Verweisketten in Fußnoten immer schneller veralten: In diesem Fall liegt wohl für die kommenden Jahrzehnte ein Standardkommentar vor.