Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2016

Spalte:

221-223

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Jürgens, Henning P., u. Thomas Weller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Streitkultur und Öffentlichkeit im konfessionellen Zeitalter.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 331 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 95. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-525-10120-9.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Der Band versammelt Beiträge einer historisch-interdisziplinär angelegten Tagung des Leibniz-Institutes für Europäische Ge­schichte (IEG) vom November 2010. Unter dem Begriff »Streitkultur« sind verschiedene Projekte des Instituts zusammengefasst (7), u. a. die Editionsprojekte der BSLK und »Controversia et Confessio«. So geht es um die Klärung des Begriffes der »Streitkultur« (von I. Dingel als wissenschaftlich-heuristischer Terminus angelegt; 7 f.) wie des Phänomens des Streites gerade auch unter dem Aspekt der Öffentlichkeit; öffentlich ausgetragene Debatten werden hier zu Grundmerkmalen westlicher Gesellschaften erklärt. Hierzu kann mit einer erstaunlichen Fülle von Formen aufgewartet werden, von der Disputation über die Religionsgespräche hin zur Propaganda; hinzu kommen weitere Formen nicht-religiöser Auseinandersetzung (z. B. Rangstreit). Leitend ist die Frage: »Was hatten diese unterschiedlichen Formen des öffentlich ausgetragenen Streits ge­meinsam?« (11) Streit-»Kultur« wird dabei in doppelter Bedeutung zu verwenden sein: als Medium von Sinnproduktion und als Kultivierung des Streites in institutioneller Rahmung.
Der Band ist in drei Blöcke gegliedert, wobei die Zuordnung der Beiträge nicht immer zwingend erscheint: Ein erster widmet sich den »Themen«, an denen sich Streit entzündete (konfessionell, ethisch, völkerrechtlich), wobei schnell deutlich wird, dass in jeder Sachebene immer auch die Frage nach Ansehen und Hierarchie eine Rolle spielte. Ein weiterer Block widmet sich den »Foren«, die den Rahmen des Streitaustrags untersuchen, von der Disputation bis zum Duell. Schließlich widmet sich der dritte Teil den »Me­dien«, die z. B. durch die Möglichkeit gedruckter »Distanzmedien« auch zur Transformation von Streitformen beitrugen (13). Beigegeben ist ein Orts- und ein Namenregister, das man z. B. um übliche Namensergänzungen (wie Cajetan bei Tommaso de Vio) hätte er­weitern können. Auf ein Sachregister wurde verzichtet. Die Beiträge des Bandes sind von sehr unterschiedlicher Länge, auch Er­trag und Qualität sind unterschiedlich verteilt.
Den Auftakt zum Abschnitt »Themen« (15–145) gibt I. Dingel mit grundlegenden Überlegungen zu »Streitkultur« und »Kontroverse«, in denen sie auf deren Ausrichtung auf die Wahrheitssuche hinweist, ihren identitätsstiftenden Gehalt und auf die Transformation »mittelalterlicher rhetorischer Formen, universitärer Gepflogenheiten und rechtlicher Strukturen auf die Ebene volkstümlicher Öffentlichkeit« (19), wie sie in der Frühen Neuzeit zu beobachten sind. Sie weist auf das Gewicht des persönlichen Bekenntnisses, der endzeit-lichen Überhöhung und der theologischen Inhalte sowie der Dimension als Reformationserbe hin, um die es den Streitenden ging, und führt so den Charakter dieser Auseinandersetzungen vor Augen.
S. Tschopp stellt anhand einer durch eine auf einen Wandel in der sächsischen Bündnispolitik ausgerichteten Predigt M. Hoe von Hoeneggs in Leipzig 1631 ausgelöste »jesuitisch-lutherische[n] Kontroverse« (31) die Politisierung kontroverstheologischer Schriften dar.
K. Lichy widmet sich dem »›politischen‹ Streit« (59) mittels einer kleinschrittigen Untersuchung des Antijesuitismus in Polen-Litauen um 1600, in dem konfessionelle Argumentationen zugunsten einer politischen Verunglimpfung der Jesuiten zurücktreten.
Bildreich führt der Mitherausgeber T. Weller in seinem umfangreichen Beitrag (85–127) u. a. die Bedeutung der Sitzordnung in den Rangstreitigkeiten zwischen Frankreich und Spanien vor Augen: »›Très chrétien‹ oder ›católico‹?« (Titel, 85). Dieser andauernde Präzedenzstreit macht die Bedeutung symbolischer Kommunikation wie den auf sie rückverweisenden Charakter der publizistischen Debatte deutlich.
M. Delgado widmet sich detailliert einer auch mit Mitteln der Zensur geführten Kontroverse über die Eigenrechte der indigenen Bevölkerung Amerikas gegenüber der Kolonisation, die im Spanien des 16. Jh.s geführt wurde.
Den Block »Foren« (147–226) einleitend, stellt K. G. Appold in einem knap-pen, aber luziden Beitrag die Zusammenhänge zwischen »Disput und Wahrheitsfindung« dar. Er stellt fest, dass es gerade die Verpflichtung zur Wahrheit war, die Disputationen das Potential zur Versöhnung und Konsensbildung verlieh.
Anders beurteilt M. Füssel die Disputation, die sich im Konfessionellen Zeitalter als öffentliche Disputation, Religionsgespräch und polemische Publi-zistik in die Öffentlichkeit erstreckte und so als »Schlüsselpraxis gelehrter Streitkultur« (Titel; 159) gelten kann: Der ursprünglichen Ausrichtung auf klare Entscheidung nach tauge sie nicht zur Kompromissfindung (178).
Zwischendrin widmet sich B. Mahlmann-Bauer der Frage, ob Autorinnen der Reformationszeit »Subalterne« waren – was nicht der Fall ist. Dieser Begriff für ethnische/soziale Minderheiten muss umständlich übertragen werden und scheint hier wenig hilfreich.
Unterhaltsam und kenntnisreich bietet G. Schwerhoff in seinem Beitrag zum frühneuzeitlichen Duell wohl eine Quintessenz des entsprechenden von ihm geleiteten DFG-Projekts. Vermeintlich allgemein bekannt gewinnt diese Form des Streitaustrags (217) doch ihre klaren Konturen erst recht spät ab 1650 (220), was zudem erst durch das mediale Aufbegehren gegen diese Praxis befördert wird.
Der Mitherausgeber H. P. Jürgens eröffnet schließlich den dritten Teil: Medien (227–321). Im Osiandrischen Streit hatte Herzog Albrecht von Preußen innovativ, doch letztlich erfolglos, ein »Urteil der Kirche«, eine theologisch gebildete Teil-Öffentlichkeit aller CA-Verwandten, zur Klärung des Streites angerufen und entgrenzte so den Konflikt über die Anwesenheitsgesellschaft der Stadt hinaus. Die Untersuchung ist so auch ein interessanter Beitrag zur Frage der »reformatorischen Öffentlichkeit« (251) in dieser Zeit.
M. Sandl beschäftigt sich etwas unübersichtlich mit »Streit und Erzählung« vor allem in Magdeburger Schriften um 1550. Er zeichnet nach, wie im Ringen um die Deutungsmacht die Darstellung der Zusammenhänge und Voraussetzungen eines Streites eingesetzt wurde (251). So entstand eine narrativ verfasste Einheit der Auseinandersetzungen – auch der nachinterimistischen.
Schließlich zeichnet L. M. Baena anhand der Debatten um eine Vermählung Maria Theresias mit Ludwig XIV. nach, wie Argumente aus diplomatischen Kreisen (Akten) in die öffentlichen Diskurse gelangten (Ge­legenheits-literatur) und wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrten (294 f.). Sie plädiert deshalb gegen eine vorrangige Orientierung an Akten in der Historiographie und für eine integrative Behandlung verschiedener Quellengattungen.
Am Schluss steht eine Untersuchung der öffentlichen Debatte um den Index librorum prohibitorum durch U. Paintner. Neben der paradoxen Angewiesenheit des auf Geheimhaltung ausgerichteten Zensurorgans auf Verbreitung in einer Teil-Öffentlichkeit der Geistlichkeit zeichnet sie konfessionelle Eigenheiten nach: Während die Römer eher von einer geistigen Schutzbedürftigkeit der Laien ausgingen, beförderten die Protestanten eine Form der »Diskurszensur« durch kommentierend geleitete Veröffentlichungen.
Insgesamt stellt der Band eine recht bunte Sammlung dar, die auch der Breite der Aspekte des behandelten Phänomens gerecht wird. Zwar wird das Wort der »Streitkultur« stellenweise etwas überstrapaziert in Anwendung auf diese hoch-streitbare Epoche der (Theologie-)Geschichte, doch bieten sich erhellende Anschlüsse zur weiteren Erforschung dieses zweifellos weiterhin klärungsbedürftigen Konfessionellen Zeitalters.