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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1303-1305

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ratzmann, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Gottesdienstkultur im Barockzeitalter. Christian Gerbers »Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen« (1732) in Auszügen dokumentiert u. kommentiert.

Verlag:

Markkleeberg u. a.: Sax-Verlag 2014. 270 S. m. 19 Abb. Geb. EUR 24,80. ISBN 978-3-86729-126-2.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

In der Liturgiewissenschaft herrscht bis heute ein Mangel an gut zugänglichen Quellen, besonders an solchen, die über die reale Praxis von gottesdienstlichen Feiern Auskunft geben. Handelt es sich bei Agenden um präskriptive liturgische Realien, so geben erst Beschreibungen Auskunft darüber, wie es wirklich einmal gewesen ist. Von daher ist der vorliegende Band, der die gottesdienstliche Praxis in der Zeit und Region J. S. Bachs wiedergibt, in jeder Weise zu begrüßen. Er wird einen festen Platz in der künftigen liturgiewissenschaftlichen Arbeit einnehmen.
Vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jh.s wurde der lutherische Gottesdienst in Kursachsen nach der Herzog-Heinrich-Agende gefeiert. Der Lockwitzer Pfarrer Christian Gerber (1660–1731), der u. a. von Ph. J. Spener hochgeschätzt wurde, schildert aber darüber hinaus in aller Ausführlichkeit, was damals liturgisch los war – und wie es nach seiner Ansicht besser hätte sein sollen. Die sowohl pietistischen als auch frühaufklärerischen, stark moralisierenden Bewertungen gottesdienstlicher und kultureller Praxis durch Gerber sind die Würze in dieser von Wolfgang Ratzmann, dem ehemaligen Leiter des Leipziger Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD in Leipzig, geschickt ausgewählten und behutsam kommen­tierten Ausgabe des Werkes, das im Original 779 Seiten um­fasst.
In der hier anzuzeigenden Ausgabe finden sich ein einleitender Aufsatz des Herausgebers (Christian Gerber im Kontext seiner Zeit, 10–25) sowie ein bilanzierendes Nachwort (Lutherische Gottesdienst- und Feierkultur im Barockzeitalter. Beobachtungen und Einwände aus einer anderen Zeit, 261–268) und dazwischen die Quellenausschnitte, denen der Herausgeber nur wenige, sehr hilfreiche erklärende Fußnoten beigegeben hat. Die ausgewählten Passagen sind nach heutigen Interessen gegliedert. So wird man künftig in diesem Buch immer wieder nachschlagen, wenn man sich für die Praxis der »Ceremonien« überhaupt (Kapitel 1), für die Kircheneinweihung (Kapitel 2), für Glocken, Musik und Feste (Kapitel 3–6), für die verschiedenen Teile des Sonntagsgottesdienstes (Kapitel 7–9) oder für die Kasualien Beichte, Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung und Ordination (Kapitel 10–15) interessiert.
Man erfährt z. B., wie die Kircheneinweihung von Pillnitz im Jahre 1725 mit der vorangehenden Prozession von 8.00 bis 13.00 Uhr dauerte und dass von etwa 1.000 Besuchern, die »darbey zugegen gewesen seyn mögen«, ganze 23 (!) an der Kommunion teilnahmen (52). Nach der Kommunion sei es an einem Ort üblich gewesen, dass man sich die Hand gab und »zu der genossenen Seelen-Speise« einander »GOttes Gnade und Segen« wünschte (185). Das Vaterunser konnte während eines Gottesdienstes viermal oder fünfmal gebetet werden (140) – man gestaltete also damals in größerer ritueller Freiheit, als das heute der Fall ist.
Zu Weihnachten ging man in Zeitz im Jahre 1676 »früh um 3 Uhr in die Kirche zur Metten«, wobei Gerber zum Datum von Weihnachten abgeklärt anmerkt, dem Heiligen Geist habe es »nicht gefallen, die eigentliche Nacht der Geburt Christi anzeigen zu lassen«, weil »dem Menschen an seiner Seligkeit nichts abgehet, er mag es wissen oder nicht« (84). Zu Pfingsten hätten Bauern im 17. Jh. auf einigen Dörfern Bier in die Kirche gebracht »und solches am dritten und folgenden Tagen ausgesoffen, dabey denn gräuliche Excesse vorgegangen, indem diese Leute, wenn sie truncken worden, auf die Cantzel gestiegen und predigen wollen« (45). Im Zu­sammenhang des Himmelfahrtsfestes kommentiert Gerber, für die einfachen Leute sei es wohl besser, es gäbe gar keine Feiertage, »denn bey ihrer ordentlichen Beruffs-Arbeit dienen sie Gott viel besser und thun nicht so viel Sünde.« (101) Besonders auch in sexualibus gibt Gerber strengste Bewertungen ab und ringt sich mit Mühe dazu durch, dass man für unehelich Schwangere (»die zu Fall kommen«) Fürbitte halten dürfe (159).
Nicht zuletzt macht diese Quelle deutlich, wie sehr aufkläre-rische Rationalität einerseits sowie pietistische Innerlichkeit und Strenge andererseits einander überlagerten. Zu Recht konstatiert Wolfgang Ratzmann in Gerbers Buch eine merkwürdige Ambivalenz: Einerseits werden die »Ceremonien« als bloße Äußerlichkeiten mit großen Gefahren – wie Missbrauch, bloße Äußerlichkeit, Gelegenheit zu Unmoral und Aberglauben – scharf kritisiert, andererseits aber werden alle möglichen Einzelheiten akribisch gesammelt und liebevoll dokumentiert. Das schwierige Verhältnis des Protes­tantischen zu Zeichen und Ritus und die Spannung zwischen Ästhetik und Ethik sind mit Händen zu greifen – und das alles ausgerechnet im Umfeld von J. S. Bach! Schon das Entzünden von Kerzen beim Abendmahl gilt als unnötige, verschwendende Äußerlichkeit: Es sei »ein Unrath und vergebliche Sache«, bei Tageslicht Kerzen in der Kirche zu verwenden – so würden »bey uns jährlich vor etliche tausend Thaler Wachs-Kertzen ganz vergeblich verbrannt« (174), anstatt bei diesen Äußerlichkeiten Geld zu sparen (184).
Auch die Fokussierung des Gottesdienstes auf die Predigt als protestantisches Kennzeichen wird durch Gerbers Buch erneut illustriert. Einerseits beklagt Gerber es als eine »grosse Gottlosigkeit«, dass viele auf den Dörfern erst zur Predigt in die Kirche kommen: Eine »grosse Menge Manns-Personen« bleibe während der Gebete des Eingangsteils des Gottesdienstes auf dem Kirchhof stehen und treibe dort Handel und Wandel, weil sie »meynen der gantze Gottesdienst bestehe in Anhörung einer Predigt« (133). Andererseits schärft Gerber selbst immer wieder ein, der eigent-liche Sinn von Feiertagen sei es, einer Predigt zuzuhören. Auch in Examina wurde durch die Prüfer verlangt, zu einem vorgelegten Text aus dem Stegreif »in ihrer Gegenwart eine kurtze Predigt zu thun« (251).
Das Buch ist gut lektoriert und ohne Fehler; hilfreich sind die vom Herausgeber eingefügten Zwischenüberschriften im Text. Zu kritisieren ist die allzu kleine und schlecht lesbare Drucktype, die eine zusammenhängende Lektüre sehr mühsam macht.