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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1298-1299

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Joss-Dubach, Bernhard

Titel/Untertitel:

Gegen die Behinderung des Andersseins. Ein theologisches Plädoyer für die Vielfalt des Lebens von Menschen mit einer geistigen Behinderung.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 524 S. m. Abb. Kart. EUR 46,00. ISBN 978-3-290-17767-6.

Rezensent:

Edgar Kellenberger

Die breit angelegte Berner Habilitationsschrift von Bernhard Joss-Dubach stammt von einem Gemeindepfarrer, der seine jahrzehntelange Seelsorge-Erfahrung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung theologisch reflektiert und dies im Diskurs mit der anwachsenden Sekundärliteratur tut (das Literaturverzeichnis umfasst 28 Seiten). Sein heilpädagogisches Fachwissen ermöglicht ihm Brückenschläge, die den meisten Theologen so nicht möglich wären.
Teil I (»Zugänge zum Verständnis«) steckt auf 130 Seiten ein weites Feld ab. Bedacht werden: Begrifflichkeit, Anschauungen in der Theologiegeschichte und in den monotheistischen Religionen, medizinisch-therapeutische und selektive Bemühungen, philosophische und heilpädagogische Erwägungen, juristische, soziolo-gische und soziale Aspekte. Es gelingt J.-D., jeweils mit wenigen Strichen ein Problemfeld anschaulich zu skizzieren, so dass auch Ambivalenzen und Zielkonflikte deutlich werden. Ethische Diskussionen werden bei ihm nie moralistisch geführt (vgl. z. B. seine Kommentierung der umstrittenen Euthanasie-Begründung durch den utilitaristischen Philosophen Peter Singer).
Teil II (»Theologische Grundorientierungen«) referiert und re­flektiert auf 90 Seiten Grundsätzliches, Exegetisches sowie Herausforderungen durch 300 Jahre Heilpädagogik. Hier werden die Skizzen oft länger, so dass die Thematik der geistigen Behinderung zuweilen außer Sicht gerät. J.-D. lobt z. B. die positiven Impulse auf das Blindenwesen dank des Sensualismus von John Locke (214), aber übergeht dessen (leider ebenso zukunftsträchtige) problematische Ausführungen über Menschen mit einer geistigen Behinderung, die dieser aufklärerische Empiriker als »Wechselbälge« bezeichnet und unterhalb des Menschseins auf der Stufe eines Pavians ansiedelt. Doch wo J.-D. seine eigene Erfahrung als sensibler Seelsorger im Diskurs mit der Fachliteratur einbringt, gelingen eindrück-liche und weiterführende Passagen (z. B. 207 f. zu den Exorzismen Jesu). Dass er den epileptischen Knaben als »wohl geistig behindert« (206) bezeichnet, obwohl sich Mk 9 par dazu ausschweigen, zeigt allerdings die dünne Luft solcher Exegese, die sich ausschließlich auf die praktische Erfahrung mit schweren Epilepsiekranken be-rufen kann. Auch wenn J.-D. hier historisch vielleicht sogar Recht hat, bleibt er eine Antwort darauf schuldig, warum seine Sicht den Synoptikern nicht erwähnenswert erschien.
Teil III (»Neue Ansätze zum theologischen Verständnis: Leben und Vielfalt«) diskutiert zukunftsweisende theologische Ansätze im 20. Jh., die trotz ihrer heilpädagogischen Kompetenz bisher zu wenig Beachtung fanden. Die gebotene Fülle von gewichtigen Im­pulsen (aus Europa und den USA) kann im knappen Rahmen einer Buchbesprechung nicht gewürdigt werden.
Teil IV (»Perspektiven: Inklusion, Kommunikation und Identität«) orientiert über aktuelle Trends und Methoden, von denen entscheidende Verbesserungen erwartet werden. Dazu gehört im Schulbereich die Inklusion behinderter Kinder in Regelklassen, wofür J.-D. ein differenziertes Plädoyer abgibt. Der Rezensent, dessen Sohn (mit geistiger Behinderung) die Sonderklassen als segensreich erlebte, bleibt gleichwohl aus mehreren Gründen skeptisch. Ist es ein Zeichen von Inklusion, wenn dann in der Praxis die Al-lerschwächsten in der Sonderschule bleiben und dadurch nicht mehr von den Kommunikativeren profitieren können? Wird da im Namen der Inklusion etwa neue Segregation geschaffen? J.-D. ruft in einem zweiten Schritt zu inkludierenden Kirchgemeinden auf. Doch könnte dies nicht umgekehrt der erste Schritt sein? So erlebt es zumindest der Rezensent, wobei Kirchgemeinden gewiss einen Pfarrerssohn leichter inkludieren können als eine ihnen unbekanntere Person, und vielleicht ein Pfarrerssohn auch leichter zur Sozialisierung der Kirchgemeinde beitragen kann. – Besonders be­rührend sind Abschnitte über Methoden zur Kommunikation mit Menschen, die sich nicht verbal verständlich machen können (je nachdem 20 bis 40 % innerhalb von geistiger Behinderung). Wei-tere Themen sind: systemische Sichtweise unter Einbezug aller Betroffenen, Umgang mit repetitiven und aggressiven Abwehrhaltungen, Identitätsentwicklung, Probleme des Betreuungspersonals, Möglichkeiten des (von außen kommenden) Seelsorgers.
Teil V beleuchtet auf über 100 Seiten vier »Lebensräume«: Familie, Wohnen/Arbeiten/Freizeit, fröhliches Feiern (vor allem Gottesdienste) sowie Unterricht. Mit wachen Seelsorger-Augen sieht J.-D. Chancen und Gefährdungen innerhalb komplexer Konstellationen. Zum heilpädagogischen Religionsunterricht gibt er besonders zahlreiche konkrete Hilfen. Die positiven Berichte über gegenseitig gelingende Integration im Konfirmandenunterricht decken sich mit den Erfahrungen des Rezensenten und bestärken ihn, dass Integration gerade hier anzusetzen hat.
Der abschließende Teil VI (»Perspektiven: Recht, Autonomie und Respekt«) ist kürzer gehalten und bündelt Menschenrechte mit ethischen Zuspitzungen.
In verständlicher, oft narrativer Sprache geschrieben, gewürzt mit geschickt ausgewählten Zitaten und Fallbeispielen, ist das feinfühlige Buch keine durchgehend stringente und erschöpfende Abhandlung, sondern wirkt eher assoziativ-sprunghaft und kann gerade so viele Blockierungen aufschließen. Das erfahrungsreiche und von er­mutigender Lebensbejahung strotzende Werk sei den unterschiedlichsten Leserinteressen als Fundgrube wärmstens empfohlen.