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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1159-1161

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hrsg. v. Kirchenamt d. EKD.

Titel/Untertitel:

Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Verlag:

Gütherslo: Gütersloher Verlagshaus 2014. 128 S. Kart. EUR 5,99. ISBN 978-3-579-05974-7

Rezensent:

Michael Domsgen

Bildungsprozesse sind zu einem großen Teil kontextuell bestimmt. Beim Lernen spielt die Auseinandersetzung in und mit der Umwelt eine grundlegende Rolle. Auch der Religionsunterricht wird maßgeblich von den kontextuellen Voraussetzungen geprägt, die er zu berücksichtigen hat. So ist es nur folgerichtig, dass nach den grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen mit der Wiedervereinigung Deutschlands die EKD 1994 mit »Identität und Verständigung« erstmals in ihrer Geschichte eine eigene Denkschrift zum Religionsunterricht verfasst hat. Dabei ging es darum, an der konfessionellen Bindung des Religionsunterrichts festzuhalten und gleichzeitig die Kooperation mit dem katholischen Religionsunterricht sowie dem Ethikunterricht stärker ins Zentrum zu rü-cken. Der evangelische Religionsunterricht sollte als Teil der Fächergruppe im werteorientierenden Bereich profiliert werden, der in Kooperation mit dem katholischen Religionsunterricht und dem Ethikunterricht in der Schule zu agieren hat. Vor dem Hintergrund »weitreichender Veränderungen der kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Situation, die sich heute in vieler Hinsicht anders darstellt als noch vor 20 Jahren« (33), setzt nun die neue EKD-Denkschrift ein. Gleich eingangs wird mit Recht darauf verwiesen, dass »die weltanschauliche und religiöse Pluralität« »von Anfang an« (11) zur Diversität in Schule und Gesellschaft dazugehört. Deutlich wird das beispielsweise an der Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts, mit der »neue Fragen« (48) verbunden sind. Auf alle Fälle hat sich der evangelische Religionsunterricht damit auseinanderzusetzen, indem er nicht nur die innerchristliche Pluralität berücksichtigt. Letztlich geht es »um einen auch über die christliche Ökumene hinaus pluralitätsfähigen Religionsunterricht.« (14)
Ganz bewusst operiert die Denkschrift mit dem Begriff der Pluralitätsfähigkeit und übernimmt nicht den in der Pädagogik ge­bräuchlichen Begriff der Diversität. Einerseits will sie damit der zweifelsohne zu beobachtenden Tendenz entgegenwirken, dass religiöse und weltanschauliche Unterschiede im Heterogenitätsdiskurs nur eine unzureichende Rolle spielen, indem sie beispielsweise unter dem Begriff der Multikulturalität subsumiert werden. Andererseits geht es darum »das Missverständnis auszuschließen, dass das Bemühen um Verständigung die Orientierung an Differenz jemals ablösen könnte« (44). »Ein konstruktiver Umgang mit Pluralität kann weder in einer Gleichgültigkeit gegenüber allen Unterschieden bestehen noch in einem Rückzug von der Pluralität dadurch, dass nur noch die eigene Wahrheit gesehen wird.« (60) Hinter beidem steht eine religionstheoretische Grundlegung, die Religion als eigene, nicht subsumierbare Perspektive der Welt- und Lebensdeutung versteht. Dass dies aus Sicht einzelner Personen deutlich anders aussehen kann, indem beispielsweise Religion in Kultur aufzugehen vermag, wird nicht eigens thematisiert. Das liegt wohl zu einem nicht unwesentlichen Teil daran, dass bei einer solchen an individuellen Diversitäten orientierten Beschreibung der Ausgangslage der Weg zur Begründung von Religionsunterricht, der nach Konfessionen getrennt erteilt wird, deutlich anders zu beschreiben wäre.
Religiöse Pluralität zeigt sich innerhalb und außerhalb des Religionsunterrichts. Damit gilt es umzugehen. »Pluralitätsfähigkeit« (12) heißt deshalb das Bildungsziel. Daraus resultiert ein Zweifaches. Einerseits ist evangelischer Religionsunterricht als »dialogisch offenes pädagogisches Angebot« zu profilieren und hat »ausdrücklich die Kooperation mit dem Unterricht anderer Religionsgemeinschaften« (13) anzustreben. Andererseits ist ein einzelnes Fach mit dieser Aufgabe überfordert. Deshalb kann heute über den Religionsunterricht »nicht mehr geredet werden, ohne über die Schule insgesamt zu reden – und umgekehrt.« (12)
Beide Perspektiven werden in der Denkschrift entfaltet. So soll nicht nur die konfessionelle Kooperation vorangetrieben, sondern auch verstärktes Augenmerk auf das interreligiöse Lernen gelegt werden, wobei »die Selbstinterpretation der Religionen und auch die jeweilige Glaubensüberzeugung konstitutiv Berücksichtigung« (86) finden sollen. In alledem darf der Religionsunterricht nicht nur bei sich selbst bleiben. Vielmehr sind Beiträge zur Gestaltung des Schullebens zu leisten. Überhaupt hat sich die ganze Schule in Schulprofil und Schulkultur dem Ziel der Pluralitätsfähigkeit zu widmen.
Auch der Ethikunterricht findet in der Denkschrift Erwähnung, allerdings in deutlich abgestufter Weise. Es fällt auf, dass die neue Denkschrift der Kooperation mit anderen Formen von Religionsunterricht (katholisch, jüdisch, islamisch) tendenziell ein deutlich höheres Gewicht beimisst als der Kooperation mit dem Ethikunterricht. Die wird lediglich als »wünschenswert« (101) bezeichnet. Angesichts der mehrfach zu Recht beschriebenen Bedeutung der Positionalität im Verstehen von Religion sowie der Weitung der Perspektive auf die Schule insgesamt stellt sich die Frage, ob Schülerinnen und Schüler, die den Ethikunterricht besuchen, keine religiöse Orientierung brauchen, bzw. anders gefragt, ob für sie andere Maßstäbe hinsichtlich des beschriebenen Zusammenhanges von Positionalität und Pluralitätsfähigkeit gelten. Wenn Religion unerlässlich für Pluralitätsfähigkeit ist, wie mehrfach betont wird, dann müsste die Kooperation zwischen Religions- und Ethikunterricht nicht nur »wünschenswert«, sondern geradezu verpflichtend sein. Wie sonst sollte Kindern und Jugendlichen des Ethikunterrichts die Möglichkeit eingeräumt werden, Religion nicht nur im Modus der informierenden Kunde zu begegnen? Vor dem Hintergrund dieser Fragen offenbart sich eine einseitig gewichtete Beschreibung der Ausgangslage. Die Denkschrift führt aus, sich den Herausforderungen der »religiösen und weltanschaulichen Pluralität« widmen zu wollen. De facto jedoch ist hauptsächlich von der Pluralität der Religionen die Rede. Zwar wird auch auf die Konfessionslosigkeit verwiesen (30–32), dies jedoch vorwiegend im Blick auf Ostdeutschland sowie als innerunterrichtliche Herausforderung. Dies jedoch ist problematisch, weil damit eine grundlegende Signatur unserer Gesellschaft zu schwach im Fokus ist.
Die Gruppe der Konfessionslosen in Deutschland hat inzwischen einen Anteil von ca. 35 % an der Gesamtbevölkerung, Tendenz steigend. Der Zuwachs in dieser Gruppe fällt nicht geringer aus als der Anstieg des Anteils muslimischer Gläubiger. In der Denkschrift jedoch verschwindet die Zunahme der Konfessionslosigkeit gleichsam hinter der Zunahme der religiösen Pluralität. Wer die »religiöse und weltanschauliche Pluralität« (13 u. ö.) in Deutschland »in reflektierter Form« (ebd.) beschreiben will, sollte auch das Feld von Konfessionslosigkeit mit ausleuchten und konstitutiv berücksichtigen. So, wie religiöse Pluralität, obwohl in verschiedenen Regionen unterschiedlich stark vertreten, als Grundsignatur unserer Gesellschaft im Blick sein muss und nicht lediglich als regionales Spezifikum, ist auch Konfessionslosigkeit in gleicher Weise zu thematisieren. Dieser Schritt wird in der Denkschrift (noch) nicht getan. Gleichwohl bieten die darin gegebenen Impulse zum Profil des evangelischen Religionsunterrichts wertvolle Anregungen, hinter die nicht zurückgegangen werden darf.