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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1132-1134

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. F. Ueberweg. Völlig neu bearb. Ausg. Hrsg. v. H. Holzhey. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 5

Titel/Untertitel:

Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. 2 Teilbde. Hrsg. v. H. Holzhey u. V. Mudroch.

Verlag:

Basel: Verlag Schwabe 2014. 1677 S. Lw. EUR 320,00. ISBN 978-3-7965-2631-2.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der jüngst erschienene fünfte Band aus der den klassischen Ueberweg-Grundriss fortschreibenden Reihe »Die Philosophie des 18. Jahrhunderts« ist seinerseits ein Jahrhundertereignis. In klarer, konturscharfer, konkurrenzloser Kennerschaft entwirft er ein tiefenscharfes Panorama der im Heiligen Römischen Reich, in der Schweiz sowie in Nord- und Osteuropa produzierten aufklärerischen Welt- und Gottesweisheit. Die insgesamt 63 Autoren des Bandes entstammen durchweg dem engsten Zirkel der einschlägigen Spezialisten und kommen allesamt in der Begabung zu substanzwahrender Luzidität überein. Rühmenswert ist übrigens nicht zuletzt auch der bibliothekarische Nutzwert dieses Kompendiums: Es kann dazu anleiten, überfüllte Regalwände von antiquierter Sekundärliteratur zu entschlacken, und bietet zugleich verlässliche Orientierung in den als fernerhin verwahrenswert erkannten Beständen. Für die mit der Philosophie ihrer Zeit eng verzahnte Theologiegeschichte des 18. Jh.s ist damit ebenfalls ein unentbehrliches Standardwerk vorgelegt worden.
Das erste, strukturgeschichtlich angelegte Kapitel hält für »Die institutionellen Bedingungen der Philosophie und die Formen ihrer Vermittlung« beste, kompendienhafte Orientierung bereit. Der tendenziell chronologische Durchgang setzt dann mit dem Thomasianismus (Kapitel 2) sowie der Darstellung Christian Wolffs und seiner Schule (Kapitel 3) ein. Dabei erweist die Unterscheidung des frühen, mittleren und späten Wolffianismus heuristische Brauchbarkeit. Ein instruktives Sammelsurium repräsentiert die in Kapitel 4 gebotene Auswahl an Zentren (Göttingen; Berlin – weshalb nicht auch Halle?), Gestalten (Reimarus; Lessing; Mendelssohn) und Strömungen (Deismus; Haskala; Popularphilosophie; Volksaufklärung) der seit 1750 in Deutschland expandierenden Aufklärungsphilosophie. Weitere Einheiten widmen sich dem Verhältnis von Philosophie und Theologie (Kapitel 5), dem kurvenreichen Weg »Vom Pietismus bis zum Pantheismusstreit« (Kapitel 6), auf den erstaunlicherweise auch Herder gebracht ist, ferner den Themenkomplexen der Rechts- und Staatswissenschaft (Kapitel 7), der Physiologie, Anthropologie, Päda-gogik und Historiographie (Kapitel 8) sowie ausgewählter Naturwissenschaften (Kapitel 9).
Nach knappen Ausführungen zu dem zwischen Wolff und Kant sich erstreckenden philosophischen Interim (Kapitel 10) wird das Herzstück des Bandes erreicht: Das mit Abstand umfangreichste elfte Kapitel, welches »Kant und Kantianismus« präsentiert, er­reicht mit seinen 300 hochgelehrten, zwischen »Leben«, »Lehre« (vorkritische/kritische Philosophie) und »Wirkung« (Kantianismus; Anhänger Kants; Eklektische Kantrezeption in anthropologischer Perspektive; Gegner Kants; Kantianische Systemansätze) differenzierenden Seiten geradezu monographische Dimension. Vier weitere Kapitel inspizieren sodann den Ausgang des 18. Jh.s in sozialer, staatstheoretischer und politisch-ökonomischer Perspektive (Kapitel 12), ferner im Blick auf prominente Vertreter der Kunst- und Literaturtheorie (Kapitel 13), die bis zu Hölderlin eruierten Anfänge des spekulativen Idealismus (Kapitel 14) und die »Litterär- und Philosophiegeschichtsschreibung« (Kapitel 15), in der wiederum kantianische Spuren zu identifizieren sind. In relativ knapp gehaltenen Einheiten richtet der zweite Teil den Blick über die Reichsgrenzen hinaus: auf die Schweiz (Kapitel 16), Skandinavien (Kapitel 17), Polen (Kapitel 18), das Königreich Ungarn (Kapitel 19) und Russland (Kapitel 20), mithin auf Staaten, die allesamt auf namhafte Weise an dem Projekt der aufklärungsphilosophischen Selbsterkundung beteiligt gewesen sind.
Trotz seines furchteinflößenden Volumens lässt sich der Band völlig angst- und problemlos benutzen. Das verdankt sich ebenso dem detaillierten, sich über zehn Seiten erstreckenden Inhaltsverzeichnis, das eine wohlüberlegte Gliederungsabsicht zu erkennen gibt, wie dem ausführlichen, verlässlich erstellten Sach- und Personenregister. An das reihenspezifische Dispositionsprinzip, demgemäß die jeweils mehrere Paragraphen umfassenden Kapitel mit einer übersichtsartigen Einleitung einsetzen und mit einer thematisch geordneten Auswahl an Sekundärliteratur schließen, während die Primärquellen jeweils den einzelnen Paragraphen vorangestellt sind, wird sich jeder, der mit dem Band arbeitet, alsbald gewöhnen.
Dass die numerische Summe der Paragraphen, die sich auf 72 be­läuft, zugleich in der biblischen Zahlensymbolik eine wichtige Rolle spielt, wird gewiss nur dem blinden Zufall geschuldet sein. Gleichwohl ist dieses philosophiegeschichtliche Standardwerk durchgehend auch von theologischer Relevanz. Da sich solche Feststellung anhand jedes einzelnen Paragraphen verifizieren ließe, mag es genügen, dafür als einziges Beispiel, durchaus pars pro toto, das »Philosophie und Theologie« überschriebene fünfte Kapitel (449–518) zu inspizieren. Die von Walter Sparn verfasste Kapitel-einleitung präsentiert ein historiographisches Kabinettstück der Sonderklasse: In klarer, komprimierter, souverän gewichtender Darstellung macht er mit den wesentlichen Figuren, Problemen und Konstellationen der Epoche vertraut, und dies nicht allein für die Träger der theologischen Aufklärung, sondern dazu auch für die komplementär fortgeschriebene protestantische Schulphilo-sophie.
Ein erster Paragraph widmet sich sodann der »protestantische[n] wolffianische[n] Theologie« (457–473). Nach der wiederum von Sparn konzipierten bündigen Einleitung werden nacheinander Johann Gustav Reinbeck, Israel Gottlieb Canz, Jakob Carpov, Johann Lorenz Schmidt und Siegmund Jakob Baumgarten in ihrer aufklärungsträchtigen Denkarbeit namhaft gemacht. Eindrücklich arbeitet dabei Andres Straßberger heraus, dass das von J. L. Schmidt verfolgte Projekt der Wertheimer Bibel trotz seiner philologisch und exegetisch durchaus zweifelhaften Beschaffenheit insofern von katalysatorischer Bedeutung war, als die dadurch ausgelöste Debatte »maßgeblich zum Entstehen einer aufklärerischen Öffentlichkeit in Deutschland bei[trug]« (468). Als der interessan-teste wolffianische Theologe hat gewiss der von Sparn porträtierte S. J. Baumgarten zu gelten, und dies nicht nur wegen der von ihm betriebenen Verwissenschaftlichung, Europäisierung und Historisierung der Theologie, sondern ebenso, ja sogar mehr noch deshalb, weil er als akademischer Lehrer auf die nachfolgende Theologengeneration fraglos den breitesten Einfluss hatte: Zu seinen Schülern zählten gleichermaßen die spätere Führungsriege der Neologie wie der spätorthodoxe Eiferer Johann Melchior Goeze oder der reaktionäre, unter Friedrich Wilhelm II. in ministeriale Weisungshoheit aufrückende Johann Christoph Woellner. Indirekt hat Sparn damit als drängendes theologiegeschichtliches Desiderat eine gründliche, aus den Quellen erarbeitete Darstellung der verzweigten Schule Baumgartens eingeklagt.
Als die wichtigsten Repräsentanten der im nachfolgenden Paragraphen behandelten Neologie (474–487) werden sodann der in Braunschweig-Wolfenbüttel wirkende kirchliche Leitungsträger Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, der Hallenser Theologieprofessor Johann Salomo Semler und der als »Patriarch der Neologie« verehrte Berliner Propst und Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding benannt. Für den Letzteren arbeitet Sparn konzise heraus, dass und inwiefern der von diesem entwickelte »konsequent subjektivitätstheoretische Begriff der Religion« zu einer wesentlichen Voraussetzung der auf Schleiermachers theologischem Denkweg entfalteten Glaubenslehre geworden und Spalding überhaupt als das entscheidende »religionsphilosophische Bindeglied zwischen Spätaufklärung und Frühromantik« (485) zu würdigen ist.
Ein dritter Paragraph fragt schließlich nach »Philosophie und Theologie im katholischen Reich« (488–511). Auch wenn hier im institutionellen (Universitäten; Klöster) und rezeptionsgeschichtlichen Zugriff (katholische Schul- und Ordensphilosophie) sowie im Blick auf dort angesiedelte Wolffianer wesentliche Elemente der katholischen Aufklärung thematisiert werden, hätte ein Blick auf die staatskirchlichen, episkopalistischen und reunionistischen Reformimpulse römischer Kirchenvertreter das Bild noch zusätzlich abrunden können. Leider fehlt am Ende dieses gehaltvollen Kapitels der Hinweis, dass der organische Fortgang der hier erzählten Geschichte in den die Wirkung Kants darstellenden Paragraphen (vor allem §§ 44 f.) zu finden ist.
Es bleibt unergründlich, ob die Herausgeber den in der Titelei gesetzten Verweis auf Jer 23,29 (»Ist mein Wort nicht wie ein Feuer […] und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?«) in selbstbezüglicher Absicht gewählt hatten. Jedenfalls möchte der Rezensent, um seiner vorzüglichen Wertschätzung Ausdruck zu geben, seinerseits als Motto das berühmte Tolle-lege-Wort Augustins noch hinzufügen.