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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

946–948

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Deuper, Christian

Titel/Untertitel:

Theologe, Erbauungsschriftsteller, Hofprediger. Joachim Lütkemann in Rostock und Wolfenbüttel.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz (in Kommission Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) 2013. 404 S. m. 5 Abb. = Wolfenbütteler Forschungen, 136. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-447-10012-0.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Diese Arbeit von Christian Deuper ist als Dissertation im Institut für Evangelische Theologie/Historische Theologie der Universität Osnabrück im Wintersemester 2012/13 angenommen worden. Betreut wurde sie von Martin H. Jung. Sie behandelt den »bisher wenig beachteten Theologen« (Klappentext) Joachim Lütkemann (1608–1655), der in Rostock und Wolfenbüttel als Professor, Prediger, Erbauungsschriftsteller, Hofprediger und Kirchenorganisator wirkte. Sie ist im Rahmen des Projektes »Obrigkeitskritik und Fürs­tenberatung. Die Oberhofprediger in Braunschweig-Wolfenbüttel 1568–1714« (vgl. www.oberhofprediger.de) entstanden. Da Lütkemann jedoch nur sechs Jahre Oberhofprediger in Wolfenbüttel war und keine wesentliche Einflussnahme auf die Politik zu vermerken ist (11), war die Fragestellung auf ihn kaum anwendbar (vgl. Kapitel I.1 und VI.3, Anm. 89–94, eine Liste der Projekt-Fragen), er erscheint eher als Theologe und Erbauungsschriftsteller (11) denn als politischer Akteur.
Im Vorwort bezeichnet der Vf. die Studie als eine »historische« (9), »die aber auf biblisch- und systematisch-theologische Bezüge nicht verzichtet, sondern die Disziplinen der Theologie als Teil eines großen Ganzen begreift, das nicht ohne Verluste in seine Elemente zerschlagen werden kann.« (ebd.) Auswirkungen auf die Methodik der Studie bleiben unklar, ausführliche Darlegungen zur Vorgehensweise fehlen. Ausführlich wird der Stand der Forschung dargestellt (13–26), beginnend bei Arnolds Kirchen- und Ketzerhis­torie und chronologisch fortgesetzt bis zu aktuellen Lexika. Wegweisend seien die Arbeiten Wolfgang Sommers, der sich besonders auf Lütkemanns Obrigkeitskritik konzentriert. In der Pietismusforschung findet Lütkemann Erwähnung, ausführlicher behandelt wurde er bislang nicht.
Man merkt der Studie an, dass es nicht leicht fiel, sich von den Anforderungen des Projektes zu emanzipieren, da sie keine eigene konkrete Entdeckungsabsicht formuliert: »Maßgabe der vorliegenden Arbeit ist die nach den Möglichkeiten der Quellen lückenlose Erfassung des Lebens und Wirkens Joachim Lütkemanns.« (27) Hierzu entscheidet sich der Vf. für eine nicht-integrative Darstellungsmethode, die in vier Kapiteln Lebenslauf, Theologie, Erbauungsschriften und kirchlich-obrigkeitliches Wirken behandelt. Beigegeben sind ein Bibelstellen- und ein Personenregister.
Die Darstellung bezieht sich hauptsächlich auf die gedruckten Werke Lütkemanns sowie einige Akten, weniger auf Forschungsdiskussionen. Allerdings weist die Quellenlage einige Lücken auf – gerade an wichtigen Stellen, wie etwa dem Studium (Einflüsse?) und dem Wechsel nach Wolfenbüttel, dessen Anbahnung im Dunkeln bleibt. Hier nutzt der Vf. eine vorliegende Biographie.
Lütkemanns Werdegang (Kapitel II) ist in den entscheidenden Stationen schon mit Kapitel III (Der orthodoxe Theologe) eng verknüpft. So werden Gründe und Themen der christologischen Auseinandersetzungen (40 f.), die Lütkemann in Rostock sein Amt kosten, erst in Kapitel III. deutlich: Es geht um die Frage, ob Chris­tus zwischen Karfreitag und Ostern wahrer Mensch war. Lütkemann vertritt dabei – soteriologisch motiviert wie seine Gegner – eine Position, die Karfreitag als das Ende des wahren Menschseins Christi versteht, da der Tod Leib und Seele voneinander trenne, was zur vollen Menschheit gehöre (75 f.87 u. ö.). Die Argumentationen werden sehr genau nachgezeichnet, zu deren theologischer Einordnung wäre außer den herangezogenen Lehrbüchern vielleicht noch spezifische Sekundärliteratur hilfreich gewesen.
Lütkemanns Bedeutung sieht der Vf. eher in seinen Erbauungsschriften (Kapitel IV), die christologischen Streitigkeiten haben keine Fernwirkungen. Der »Vorschmack göttlicher Güte« und die »Harpffe von zehen Seyten« zeigen einen Schriftsteller, dem es vornehmlich um die Gotteserkenntnis als Erkenntnis der Güte Gottes (121) zu tun ist, der »seelsorgliche Charakter« (135) steht im Vordergrund und wird (so in der Harpffe) an Bibeltexte (Psalmen) rückgebunden. Ethische Weisungen stehen nicht im Fokus. Lütkemanns Bedeutung für das evangelische Kirchenlied scheint vom Vf. eher überschätzt (154).
Kapitel V war offenbar Anknüpfungspunkt der ursprünglichen Projektidee: »Der ernsthafte Mahner im kirchlichen Amt«. Es zeichnet über 180 Seiten in loser Folge Predigttätigkeit, Obrigkeits- und Amtsverständnis und Lütkemanns Beteiligung an der (Re-)Organisation des Kirchen- und Schulwesens in Wolfenbüttel nach. Die in der Forschung häufig überschätzte »Regentenpredigt« (1655) wird neu eingeordnet: Es ist die einzige Predigt dieser Art von Lütkemann (178), die das Wächteramt des Predigers als Mahnung gegen Absolutismus und Macchiavelismus einzusetzen bemüht ist (171 f.), die mit der Staatsräson die Differenz von Welt- und Christenmensch aufzuheben drohen und die Welt so zum Maßstab erheben (178). Methodisch werden die von Lütkemann für Herzog August, deren Verhältnis offenbar gar nicht so eng war (vgl. Kapitel V.4, bes. 227), mit angefertigten Schriften dargestellt: Die Klosterordnung, das Corpus Doctrinae Catecheticae Augustum (1656) und die Kirchenagende von 1657. Lütkemanns Bedeutung hier erscheint insgesamt wie sein Einfluss auf die Klosterordnung »unklar« (272), an der Kirchenagende ist er immerhin beteiligt (315). Eine Einordnung der Grundgedanken findet nur vereinzelt statt, gerade beim »Landeskatechismus« wäre das interessant gewesen (vgl. das fehlende Ergebnis, 314). Warum für die agendarisch vorgesehenen Lieder einzig auf das Evangelische Gesangbuch verwiesen wird (vgl. 314–335), überrascht in Anbetracht der generell selektiven Liedüberlieferung.
Das Schlusskapitel (Kapitel VI) bietet eine Liste der Erwähnungen Lütkemanns in einer Biographie (337).
Kap. VI.2 (Orthodoxie und Pietismus [341–348]) widmet sich der Frage der Einordnung. Der Vf. stellt sich selbst in der Einleitung die Aufgabe, abschließend die »schwierige Frage zu stellen, welche der gängigen kirchenhistorischen Paradigmen für das 17. Jahrhundert in der Lage sind, sein Leben, seine Theologie, sein erbauliches Wirken differenziert zu erfassen.« (29) Er operiert mit einem recht weiten Pietismusbegriff, in den er Lütkemann dann auch als »nam-hafte Gestalt« (343) einzeichnen kann, die Gedanken transportiere, die der Pietismus später aufgreife. Dabei stellt Lütkemann – wie einige Zeitgenossen – eine mehrdimensionale Persönlichkeit dar: einerseits Erbauungsschriftsteller, der auf Ermunterung und Trös­tung der angefochtenen oder gläubigen Seele unter Verzicht auf ethische Weisungen ausgerichtet ist. Andererseits agiert er als un­nachgiebiger Dogmatiker (343). Ob Lütkemann nun der »Reformorthodoxie« (344), dem Pietismus, als dessen Wegbereiter oder Gestalt, zuzurechnen ist, bleibt offen. Vielmehr sei Lütkemann eine »durchaus eigenständige Person der Theologiegeschichte der Frühen Neuzeit« (348), gleichzeitig aber auch »Wegbereiter einer ›neuen‹ Frömmigkeit […], die der Pietismus bringen wird« (ebd.); zudem ein »vielschichtiger Theologe […], der zu allen Bereichen dieses Berufes beachtenswerte Beiträge geliefert hat« (349). Interessant wäre ein Urteil zur Frage gewesen, was diese Ergebnisse zum theologischen Profil des 17. Jh.s beitragen. Auch eine darauf basierende Einschätzung der Potenz theologiegeschichtlicher Schemata, die auf dieses Jahrhundert angelegt werden, hätte die Relevanz der Studie herausstreichen können. Die abschließende Beurteilung der Projektidee (Kapitel VI.3) bietet – zum Rest unverbunden – eine Zuordnung der Ergebnisse zu den Fragestellungen des Projektes.
Insgesamt bietet die Studie eine Fülle Material, die Rezeption allerdings hätte durch eine Systematisierung erleichtert werden können: Einordnungen und Gewichtungen, Zusammenfassungskapitel oder der Versuch eines Querschnitts hätten das reichlich gesichtete Material leichter zugänglich und zugleich als relevant rezipierbar gemacht.