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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

836–838

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wood, William

Titel/Untertitel:

Blaise Pascal on Duplicity, Sin, and the Fall. The Secret Instinct.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2013. 256 S. = Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology. Geb. £ 68,00. ISBN 978-0-19-965636-3.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Bei der von William Wood (Oxford) vorgelegten Monographie Blaise Pascal on Duplicity, Sin, and the Fall. The Secret Instinct handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer Promotionsschrift, die an der Chicago Divinity School entstanden ist. Während die Analyse von Pascals Pensées im Lichte der gewählten Fragestellung den Stamm der insofern rekonstruktiv verfahrenden Arbeit bildet (Ka­pitel 1–4), wird im Dialog mit Beiträgen aus der analytischen Philosophie der Selbsttäuschung (Kapitel 5) auch der Schritt hin zu einer konstruktiven theologischen Rede von Sünde und Selbsttäuschung gemacht (Kapitel 6), dem ein versöhnlicher Ausblick auf die Möglichkeit der Verwandlung des Menschen durch Christus folgt (Kapitel 7) – mit diesem ehrgeizigen und überaus spannenden Projekt beansprucht W., über vorliegende Untersuchungen zu Pascals Hamartiologie hinauszugehen (vgl. die Hinweise: 5, Anm. 5).
Die Grundthese der Arbeit lautet: Pascals Theorie des Sündenfalls als Fall in die Falschheit des nunmehr gespaltenen Menschen ist eine theologische Interpretation der Lebenswirklichkeit des Menschen, die sich in Pascals Augen durch eine verheerenderweise habitualisierte Flucht des Menschen vor sich selbst auszeichnet, kurz: »The fall is fall into duplicity.« (passim) Die Intention der Pensées ist, den Menschen aus dieser Selbsttäuschung zu wecken (5). W.s Interesse gilt also der kognitiven Dimension der Sünde, genauer: der Isomorphie von Sünde und Selbsttäuschung als Gestalten des prima vista unbegreiflichen Sich-Abwendens des Menschen von der Wahrheit und mithin jenem Rätsel der augenscheinlich intentional gesteuerten Verzerrung des eigenen Bewusstseins, mit dem die analytische Philosophie im Nachdenken über Selbsttäuschung lange schon ringt (s. u.). Völlig zu Recht bemerkt W., dass die schuldhafte Selbstüberredung ( culpable self-persuasion) eine – oder wie er sagt, die – größte Bedrohung moralischen Lebens überhaupt ist (16.124). Dies hätte mit Beobachtungen aus der empirischen Ethik noch sekundiert werden können, womit nur gesagt sein soll, dass die von W. angestellten Überlegungen in noch weiteren Kontexten fortgeführt werden könnten. Das Programm, das er sich selbst auferlegt hat, ist in der ausgeführten Form in sich geschlossen und facettenreich.
Als theologisch-anthropologischen Ausgangspunkt legt W. bei Pascal die fest in der Tradition Augustins stehende Überzeugung frei, dass der Mensch in Folge des Ungehorsams des ersten Menschen mit einem verfehlten Begehren belastet ist, so dass er nunmehr in der Welt sein Lebensglück sucht, welches allein bei Gott zu finden wäre. Das in Folge der Erbsünde verkehrte Begehren formt das gesamte Denken des Sünders, so dass er in Selbstwidersprüche und eben Selbsttäuschungen verfällt (34 ff.). Der Mensch missversteht sein tiefes Ungenügen an der Welt als Ungenügen an der Welt in ihrer konkreten Erscheinungsform, während es in Wahrheit allein darin gründet, dass nur bei Gott Glück und Befriedigung gefunden werden können. Differenziert kommentiert W., dass sich diese Beschreibung der conditio humana im Lichte der christlichen Tradition durch Welterfahrung bestätigen lasse und doch einer vernünftigen Begründung bedürfe, die über die von Pascal gelieferte Begründung noch hinausgehe (49 f.).
Eine stark an der Explikation subjektiver Erfahrung ausgerichtete (christliche) Philosophie wie die Pascals steht schnell im Verdacht eines apolitischen Solipsismus. Daher ist es wohltuend, dass W. der politischen Theologie Pascals ein eigenes Kapitel (Kapitel 2) widmet. W. macht hier im Rückgriff auf feministische Theoriebildung und Ideologiekritik deutlich, dass in Ideologie und Sünde vergleichbare Mechanismen am Werke sind: Hier wie dort wird der Mensch in »Skripte« hineingeboren, die unausweichlich sind, ohne dass der Mensch ihnen vollkommen wehrlos gegenüberstehen müsste (83, mit Verweis auf Serene Jones).
Ist also das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Weise korrumpiert, die sich mit Rückgriff auf die christliche Hamartiologie erhellen lässt, so gilt Analoges für die Nahbeziehungen des Menschen. Der Mensch ist getrieben vom Streben – oder besser der Sucht – nach Anerkennung durch andere; dies zieht aber gerade keine Prozesse der Selbstoptimierung nach sich, sondern vielmehr die Pflege des schönen Scheins, in der sich Subjekte gegenseitig durch Schmeichelei bestätigen (vor allem 97 ff.). Das Selbst ist eine doppelte Einbildung: meine eigene imaginäre Projektion meines Präsentiertseins in den Vorstellungen der anderen (104). Und dieses endlose Spiel der Selbstüberhebung vor den eigenen Augen und denen der anderen hat seinen letzten Ursprung im verkehrten Gottesverhältnis des Menschen: Der Mensch belügt sich über das Gute, erschafft die Illusion des eigenen Gutseins und maßt sich auf diese Weise dasjenige an, was allein Gott zusteht, nämlich ebendas Gute aus sich hervorgehen zu lassen (119, vgl. auch 223). Gerade der trügerische Schein des Guten bringt die innere Gespaltenheit ( duplic-ity) der Lebenswirklichkeit des Menschen ans Licht (119 f.). Selbstlüge bzw. Selbsttäuschung wird also im Anschluss an Pascal in einem genuin theologischen Sinn gedeutet, wobei W. deutlich macht, dass der Gegenstand der in der Selbsttäuschung vonstatten gehenden Fehldeutung von Welt und Selbst mit moralischen und nicht mit empirischen Kategorien zu beschreiben ist (vor allem 126 ff.). Sündhafte Selbsttäuschung ist wesentlich moralische Selbstexkulpation, die durch eine sündhaft verzerrte Wahrnehmung der mo­ralischen Valenzen der eigenen Handlungsmotive und Entscheidungen ermöglicht wird. In einem dichten Exkurs zur analytisch-philosophischen Debatte zur Selbsttäuschung macht W. deutlich, dass diese gesamte Debatte in seinen Augen die Möglichkeit einer Selbsttäuschung im starken Sinn (als zu verantwortende Selbstlüge) verkennt. Diese sieht er darin, dass der Selbsttäuscher es vermeidet, seine Aufmerksamkeit auf seine bestehende Überzeugung –p zu lenken, wenn er versucht, sich selbst in die Überzeugung p hinzutäuschen. Moralisch schuldhafte Selbsttäuschung (179 ff.) macht sich zunutze, dass Menschen in dieser Weise ausblenden können, dass sie sich selbst täuschen möchten.
Vielleicht überzeichnet W. den Gegensatz zwischen der von ihm vorgeschlagenen Verteidigung der Möglichkeit von Selbsttäuschung im starken Sinn auf der einen und den Beiträgen hierzu aus der philosophischen Diskussion auf der anderen Seite; an Sartres und Fingarettes Überlegungen zur Selbsttäuschung könnte sich W. m. E. durchaus in gewissem Maße anschließen. Insgesamt je­doch ist W.s Studie über Sünde und Selbsttäuschung ausgehend von den Pensées Pascals sehr überzeugend. W. macht in seinem Buch keinen Hehl daraus, dass er sich der Weltsicht Pascals verpflichtet fühlt. Man wird dabei W. ganz sicher keine Pascalfrömmigkeit vorwerfen können (vgl. z. B. 105), aber wer dem grand récit des durch Pascal verkörperten augustinisch geprägten Christentums (ebd.) kritisch gegenübersteht, der wird Rückfragen an die entsprechenden bei W. implizit oder explizit von Pascal übernommenen Prämissen stellen. Der Freude an diesem elegant vorgetragenen, ideenreichen und in seinen Thesen griffigen Werk sollte das jedoch keinen Abbruch tun.