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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

790–792

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Waschke, Ernst-Joachim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hermann Gunkel (1862–1932).

Verlag:

M. Beiträgen v. K. Hammann, U. Schnelle, S. Schorch, R. Smend, E.-J. Waschke. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 2013. 127 S. = Biblisch-Theologische Studien, 141. Kart. EUR 22,99. ISBN 978-3-7887-2719-2.

Rezensent:

Michael Pietsch

Der von E.-J. Waschke herausgegebene Sammelband enthält fünf Vorträge, die auf einem Kolloquium aus Anlass der 150. Wiederkehr des Geburtstages Hermann Gunkels am 23. Mai 2012 an der Universität Halle-Wittenberg gehalten wurden.
Die Dokumentation des wissenschaftlichen Lebenswerkes Gunkels wird durch einen einleitenden Vortrag von R. Smend ergänzt, den dieser vier Jahre zuvor an gleicher Stelle anlässlich der Anbringung einer Gedenktafel am Wohnhause Gunkels gehalten hatte (»Hermann Gunkel, ein Pionier der Bibelwissenschaft«, 1–19). S. skizziert darin nach einer biographischen Annäherung den akademischen Werdegang und die wichtigsten Forschungen Gunkels, vor allem auf dem Gebiet der Religions- und Literaturgeschichte des alten Israel.
Der zweite Beitrag aus der Feder Smends beleuchtet den Epochenwechsel zwischen dem Zeitalter der Literarkritik, das untrennbar mit dem Namen Julius Wellhausen verbunden ist, und dem des Alten Orients, das mit dem Auftreten der »Religionsgeschichtlichen Schule« beginnt (»Gunkel und Wellhausen«, 21–40). Der Vf. zeigt am Beispiel des Verhältnisses zwischen Gunkel und Wellhausen, dass Gunkels Forschungen auf dem Gebiet der Traditions- und Formgeschichte – trotz seiner kritischen Auseinandersetzungen mit Wellhausen – in sehr viel stärkerem Maß in Kontinuität zu dessen Arbeiten stehen, als die Stilisierung eines Epochen- oder Paradigmenwechsel es nahelegt.
K. Hammann liefert in seinem Beitrag »Hermann Gunkel und das Judentum seiner Zeit« (41–67), der einen Vorabdruck aus der kürzlich erschienenen Biographie Gunkels aus der Hand des Vf.s darstellt (vgl. Hermann Gunkel. Eine Biographie, Tübingen 2014, 265–281), eine ausgewogene und auf breiter Quellenkenntnis beruhende Darstellung von Gunkels Verhältnis zum Judentum. Noch zu Beginn des 20. Jh.s sah Gunkel die »Lösung der Judenfrage« (1907) einzig in der vollständigen Assimilation des deutschen Judentums an die einheimische, christliche Kultur – eine für den liberalen Protestantismus der Kaiserzeit nicht untypische Haltung. Der Vorwurf des Antisemitismus, der vereinzelt gegen Gunkel erhoben wurde, ist jedoch haltlos. Unter dem Eindruck der Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Russland und angesichts der Zunahme des rassistischen Antisemitismus in Deutschland korrigierte Gunkel in der Zeit des 1. Weltkriegs seine Einstellung zum Judentum, wie H. anschaulich an dessen Veröffentlichungen zum Buch Esther zeigt (vgl. die Revision des Artikels »Estherbuch« in der zweiten Auflage der RGG). In einer Skizze zur »Stellung zum Judentum und zum Antisemitismus« aus dem Jahr 1924 forderte Gunkel schließlich von jedem Christen Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gegenüber dem Judentum. Jegliche Ablehnung oder Zurücksetzung von Juden sei »ein Verbrechen gegen die christliche Sittlichkeit« (59).
E.-J. Waschke (»Zum Mythosverständnis im Genesis-Kommentar Hermann Gunkels«, 69–84) untersucht die literatur- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen des Mythosbegriffs bei Gunkel, vor allem im Gegenüber zur Geschichtserzählung und zur Sage.
S. Schorch unterzieht Gunkels Psalmenexegese aus textgeschichtlicher Perspektive einer scharfen methodischen Kritik (»Gun- kels Konjekturen. Die Rolle der Textkritik im Werk Hermann Gunkels«, 85–105). Nach einigen einleitenden Bemerkungen zum jüngsten Paradigmenwechsel in der literarhistorischen Arbeit am Alten Testament, die ihren Einsatz bei der antiken Textüberlieferung nimmt, widmet sich der Vf. dem methodischen Problem textlicher Konjekturen und Emendationen als Grundlage weitreichender literarischer oder religionsgeschichtlicher Hypothesen. S. führt dieses Vorgehen eindrücklich anhand von Gunkels textkritischer Argumentation zur Auslegung von Ps 4 in dessen Psalmenkommentar vor. Nach Gunkels gattungsgeschichtlichen Forschungen repräsentiert Ps 4 den Idealtyp eines Vertrauensliedes, die aus den Klageliedern des Einzelnen hervorgegangen sind und »in der Sicherheit des Vertrauens die Gebetsform […] aufgegeben haben« (99). Gunkel, der in den neun Versen des Psalms nicht weniger als zehn Konjekturen vornimmt, rekonstruiert diese Form in Ps 4 unter textkritisch höchst fragwürdigen Voraussetzungen (z. B. im Blick auf die Tempusstruktur des Textes). Es zeigt sich an diesem wie an anderen Beispielen (vgl. zur Idee der Leber als Sitz der næpæš in Ps 7,6), wie stark das Vorverständnis des Auslegers Gunkels textkritische Operationen bestimmt hat. Die künftige Rezeption der Thesen Gunkels wird gut daran tun, deren textliche Voraussetzungen gründlich zu prüfen.
Der letzte Beitrag des Sammelbandes würdigt Gunkels Arbeiten auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft und analysiert Stärken und Grenzen der religionsgeschichtlichen Methode (vgl. U. Schnelle, »Hermann Gunkel als Neutestamentler«, 107–125).
Dem Herausgeber und den beteiligten Autoren ist für ein ab­wechslungsreiches und informatives Büchlein zu danken, das sich dem wissenschaftlichen Werk Gunkels verpflichtet weiß, ohne die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit ihm zu scheuen. In diesem Sinne ist es dem »Pionier der Bibelwissenschaft« zu wünschen, dass er noch viele Schüler finden möge.