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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

711-714

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. 279 S. Kart. EUR 21,99. ISBN 978-3-579-08185-4.

Rezensent:

Stephan Leimgruber

Der große reformierte Theologe Karl Barth (1886–1968), der Generationen evangelischer Pfarrer und Theologen geprägt hatte, trug mit seiner negativen Einstellung gegenüber den Weltreligionen dazu bei, dass sowohl diese als auch »Interreligiöses Lernen« in der evangelischen Theologie und auch im Religionsunterricht lange Zeit vernachlässigt wurden. Religion war für den Karl Barth der Dialektischen Theologie eine »Angelegenheit des gottlosen Menschen« (KD I/2, 327). Die negativen Perspektiven Martin Luthers zu Judentum und Islam wären hinzuzufügen. Umso erfreulicher ist es, dass sich Johannes Lähnemann in den Jahren 1986 und 1998 und Karlo Meyer 1999 mit den Weltreligionen im Blick auf den Religionsunterricht befasst haben, während katholischerseits bereits ein Vierteljahrhundert früher das Zweite Vatikanum diesem Thema Schubkraft für Schule und Religionsunterricht verlieh. Eine letzte Erinnerung an die weitgehenden Vorbehalte gegenüber dem Islam im evangelischen Bereich ist die Schrift »Klarheit und gute Nachbarschaft« (2000), die ein Pendant zu den katholischen Vorbehalten in »Dominus Jesus« (2001) gegenüber der Ökumene bildet und die alte Stereotypen bedient, die sich bis in die Kompromisstexte des Zweiten Vatikanums gehalten haben.
Nun hat der Tübinger evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer eine »Interreligiöse Bildung« (2014) vorgelegt, die das Thema ebenfalls aus evangelischer Perspektive angeht und – das ist neu – konsequent aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen durchbuchstabiert. In der Nachfolge Karl Ernst Nipkows ist sein Ausgangspunkt »das protestantische Verständnis religiöser Selbstständigkeit mit ihren Merkmalen der Subjektivität, der Förderung lebensgeschichtlicher Entwicklung und Selbstvergewisserung, […] als eine die andere und die eigene Religion kritisch-selbstkritisch prüfende Kompetenz, insgesamt religiöse Mündigkeit als Ausweis religiöser Bildung, nämlich gebildeter Urteilskraft« (134). Dieses evangelische Bildungsverständnis orientiert sich am Subjekt. Es zielt auf Selbstwerdung, Identitätsfindung und Pluralitätsfähigkeit. Es intendiert interreligiöse Kompetenzen wie Wissen, Perspektivwechsel und Handlungsfähigkeit oder: Wahrnehmen, Verstehen, Urteilen, Kommunizieren und Partizipieren (154–155), die für den schulischen Religionsunterricht unabdingbar sind. Ferner wendet der Vf. die Elementarisierung als didaktisches Prinzip in fünf Schritten an: Elementare Strukturen (zentrale Inhalte), elementare Zugänge (Interpretationen aus der Sicht der Kinder), elementare Erfahrungen (lebensweltliche Bezüge), elementare Wahrheiten und elementaren Lernformen (Weisen, ein Thema anzugehen) und konkretisiert diese Schritte mit Unterrichtsbeispielen. Elementarisierung ist für den Vf. der unabdingbare »Weg zu erfahrungs- und subjektorientierter interreligiöser Bildung« (179). Zur Dimension (kein separater Bereich) der interreligiösen Bildung gehören wechselseitige Wahrnehmung und eine dialogische Einstellung im Hinblick auf ein ge­deihliches gesellschaftliches Zu­sam­menleben in Gerechtigkeit und Frieden, Toleranz und Respekt (132).
Der 237 Seiten umfassende Entwurf »Interreligiöse Bildung« besteht aus drei Teilen, denen ein Vorwort mit umfassender Dankadresse und ein Einführungskapitel vorausgehen und denen An­merkungen, Literaturverzeichnis und Personenregister folgen. Be­reits in der Einleitung (13–44) werden Dialoge zwischen christlichen und muslimischen Schülern aus früheren empirischen Umfragen zitiert, um die Relevanz des Themas für Schule und den schulischen Religionsunterricht in der gegenwärtigen Gesellschaft zu do­kumen tieren. »Interreligiöses Lernen« bzw. »interreligiöse Bildung« (mit weitgehend synonymen Konnotationen) gehören mittlerweile zu den unabdingbaren Pflichtaufgaben von (Kindergarten) Schule (Gemeindepädagogik) und Religionsunterricht – eben wegen der unhintergehbaren multikulturellen und religiös vielfältigen ge­samtgesellschaftlichen Situation zumal in Europa, aber auch in vielen anderen Ländern aufgrund der Migrationsströme.
Teil I (45–125) befasst sich mit den Hintergründen und Voraussetzungen interreligiöser Bildung. Dazu gehören aus pädagogischer Sicht der Wandel von der Ausländerpädagogik über die Assimilations- und Integrationspädagogik hin zu inklusiven Denk- und Handlungsformen. Als Promotoren für islamische Religionspädagogik werden die beiden umstrittenen Konvertiten Harry Harun Behr und Rabbaya Müller genannt. Aus theologischer Sicht kommen die religionstheologischen Modelle Exklusivismus, In­klusivismus und Pluralismus zur Sprache – mit Abstützung vor allem auf Perry Schmidt-Leukel. Die katholische, sprich inklusi-vistische, Position wird sorgfältig mit Konzilstexten unterlegt und gewürdigt, wobei die Spezialdiskussion um das »substitit« (Kirche ›ist verwirklicht‹ in der katholischen Kirche) davor bewahrt hätte, der katholischen Kirche einen »klaren Absolutheitsanspruch« zu unterstellen (102). Das Prinzip »Liebe« von Mirjam Schambeck wird zwar begrüßt, aber für inhaltliche Fragen des interreligiösen Dialogs als untauglich zurückgewiesen (103).
Aus theologisch-systematischer Sicht werden ausgeführt: Hans-Martin Barth »Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen« (2001), Theo Sundermeier (»Konvivenz« und »Interreligiöse Hermeneutik«) und Christoph Schwöbel (»Toleranz aus Glauben«). Etwas unvollständig sind die evangelischen kirchlichen Dokumente besprochen, fehlen doch das recht offene Dokument der Evange-lischen Kirche Bayerns, herausgegeben von Bischof Friedrich, wie auch das gemeinsame Dokument der Konferenz Europäischer Evangelischer Kirchen (KEK) und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen »Wie können wir Muslimen begegnen?« (2003). Aufschlussreich ist allerdings die breite Darlegung des für mich inakzeptablen Dokumentes »Klarheit und gute Nachbarschaft« (2006), welches sich an fundamentalistischen Positionen abarbeitet und mit Blick auf inhaltlich theologische Differenzen den Islam als Religion vergangener Zeiten geradezu disqualifiziert. Der Vf. sieht darin eine »stärker profilierte« Position, eine »deutlich kritischer ausgerichtete Stellungnahme«. Erfreulicherweise kommen auch Passagen zum christlich-jüdischen Dialog zum Tragen bis hin zu »Dabru emet« (Sprecht Wahrheit, 2001). Ja, der Vf. setzt wie wenig andere auf den »Trialog« der abrahamitischen Religionen bzw. auf die »trialogischen Bestrebungen zwischen jüdischer, christlicher und islamischer Religionspädagogik« (226). Mir scheint das zwar für den Religionsunterricht ein willkommenes komparatives Arbeitsinstrument zu sein, aber in Anbetracht der historisch gewachsenen abgründigen Feindschaft zwischen Israelis und Palästinensern für die Realität und die Schule ein wenig förderliches Glasperlenspiel.
Teil II (129–175) steht unter der Überschrift »Bildungsprozesse gestalten«. Aus der pluralen Situation wird die Pluralitätsfähigkeit als zentrale Kompetenz für interreligiöses Lernen abgeleitet (133). Darunter wird das Bildungsziel eines reflektierten Umgangs mit Pluralität verstanden jenseits von Relativismus und Fundamentalismus. Dieser Umgang setzt Grundhaltungen wie »Toleranz, Re­spekt, Anerkennung, Empathie und Solidarität« (135) voraus, ebenso eine die Entwicklung berücksichtigende differenzierte Ur­teils-, Orientierungs- und Verständigungsfähigkeit. Indem »Ge­mein-samkeiten« zwischen den Religionen gestärkt und »Unterschiede« beachtet werden, könne der eigene Glaube konsequent im Horizont verschiedener Glaubensweisen erschlossen werden. Der Vf. präsentiert verschiedene Modelle interreligiöser Kompetenzen, wobei er die Problematik der empirischen Validierung dieser Kompetenzen erkennt und sich fragt, wie sie in eine evidente Systematik gebracht werden können. Ganz selbstverständlich erscheint die Tatsache, dass interreligiöse Bildung kein für Schule und Religionsunterricht ausgesparter Sektor der Tradierung der Religion ist, sondern eine neue konstitutive Dimension der Bildung für alle Lernorte der Gesellschaft und der Kirche (Gemeindepädagogik!) entlang des Lebenslaufs.
Teil III (177–237) versucht, interreligiöses Lernen auf dem Weg der Elementarisierung beispielhaft zu konkretisieren, und sechs ausgeführte Forschungspostulate für eine zukunftsfähige Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive beschließen den Band. Die ausgeführten Beispiele sind:
Beispiel 1: »Abraham – Vater dreier Religionen und Symbol religiöser Einheit«;
Beispiel 2: »Glauben Christen und Muslime an denselben Gott?«;
Beispiel 3: »Scheiden sich an Jesus Christus die Geister?«;
Beispiel 4: »Als Christ und als Muslim in Deutschland aufwachsen«;
Beispiel 5: »Jüdisches Leben in Deutschland heute«.
Hier kann der Leser nun einsehen, was mit Elementarisierung ge­meint ist. Die drei ersten Beispiele heben eher auf synoptische dogmatische Erläuterungen ab, wie Koran und Bibel Abraham sehen, welcher Gott bzw. welche Gottesbilder in Christentum und Islam konvergieren und welche divergieren, und schließlich die Schlüsselfrage des (dogmatischen) Verständnisses von Jesus Christus in Bibel und Koran. Hier handelt es sich um recht anspruchsvolle theologische Abhandlungen, die fortgeschrittene religionswissenschaftliche und theologische Kenntnisse verlangen, was durchaus Sinn macht und zum christlich-islamischen Dialog unbedingt gehört. Freilich kommt »Elementarisierung« wenig im Sinne einer Konzentration auf das Wesentliche und als Reduktion auf das Zentrale zum Tragen. Die Beispiele 4 und 5 indessen sind erfahrungsorientierter und im Unterricht willkommener.
Die ersten drei Beispiele zeigen, dass »Interreligiöse Bildung« stark inhaltsorientiert verstanden wird, fast im Sinne eines vergleichenden Katechismuswissens. Die Kategorien Begegnung, Erlebnisse, Reisen, Interviews usw. sind unterbelichtet und nur marginal ausgearbeitet. Was ich vermisse, sind Erläuterungen zu den verschiedenen Richtungen des Islam, dazu ein »Eintauchen in die islamischen Welten« und eine Explikation des Islam aus seinen eigenen Quellen, Grundbegriffen und Traditionen. Das Staunen über islamische Architektur, Sakralraumpädagogik, islamische Kunst und Philosophie, der gesamte Reichtum dieser Religion kommt nicht zum Tragen. Hier wird stark auf eine subjektorientierte eurozentrische Didaktik abgehoben, das Objekt, nämlich die Weltreligionen, kommt zu kurz. Zum Problem der »Religionspädagogik en« frage ich mich, ob »Elementarisierung« – eine didaktische Kategorie der »christlichen« Religionspädagogik – für interreligiöses Lernen geeignet ist. Man darf durchaus zugeben, dass die islamische Religionspädagogik zwar in Deutschland bereits über viele Lehrstühle verfügt, aber eine islamische Religionspädagogik aus ihren eigenen Quellen noch nirgends greifbar ist. Die islamische Tradition wird nicht im Hinblick auf die Frage der Tradierung des Glaubens und der Religion reflektiert. Einzelne versuchen das Korrelationsprinzip auf islamische Kategorien zu übertragen. Andere behaupten, Mündigkeit und Autonomie seien die Schlüsselkategorien des Islam und einer islamischen Religionspädagogik. Beide Hypothesen sind doch zu bezweifeln.
Das Verdienst des Vf.s besteht darin, in der evangelischen Religionspädagogik den Versuch unternommen zu haben, einen allzu vernachlässigten Lernbereich erstmals abgeschritten und die Lernprozesse bei den Schülern ins Auge genommen zu haben. Für alle katholischen, evangelischen und islamischen Religionspädagogen gilt indessen, dass wir in diesem großen Lernfeld erst am Anfang stehen.