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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

563–565

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kirchschläger, Peter G.

Titel/Untertitel:

Wie können Menschenrechte be­gründet werden? Ein für religiöse und säkulare Menschenrechtskonzeptionen anschlussfähiger Ansatz.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 415 S. = ReligionsRecht im Dialog, 15. Kart. EUR 40,90. ISBN 978-3-643-80142-5.

Rezensent:

Mathias Wirth

In seiner von der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Fribourg angenommenen Habilitationsschrift sondiert Peter G. Kirchschläger verschiedene Modelle zu Genese und Status der Menschenrechte, die die Allgemeinheit der Menschenrechte be­gründen könne, was zugleich bedeutet, Menschenrechte als universale Ordnung weiter zu etablieren und zu schützen, denn von einem modernen, ungehemmten Siegeszug in ein humaneres Zeitalter kann nicht einfachhin die Rede sein. K., der in Luzern, Rom und Zürich Katholische Theologie, Judaistik, Philosophie und Religionswissenschaften studierte und als stellvertretender Leiter des Zentrums für Menschenrechtsbildung der Pädagogischen Hochschule Luzern arbeitet, hat nicht selten in ökumenischer Perspek tive, die neben dem römischen und protestantischen auch das(russisch-)orthodoxe Verständnis befragt, einen facettenreichen Beitrag zur Promotion des Kriteriums der Vulnerabilität für die De­batte um die Letztbegründung der Universalität der Menschenrechte geleistet. Ohne dass K. seine Arbeit explizit in den inter-disziplinären Diskurs über menschliche Verletzbarkeit einordnet, kann sie neben ihrer Bedeutung für die Menschenrechtsdebatte auch vor diesem Fragehorizont gelesen werden.
Die Arbeit gliedert sich in vier größere materiale Themenfelder, die alle auf die Frage zulaufen, wie sowohl religiöse als auch profane Annahmen, letztlich über die Vulnerabilität des Menschen, eine fundamentale Begründung der Menschenrechte leisten können. Dazu fragt K. zunächst nach dem Wesen der Menschenrechte und unterscheidet besonders zwischen historischen, politischen, ju-ristischen und moralischen Hinsichten (53–57). Annahmen zur intangiblen Würde des Menschen haben einen locus classicus in der christlichen Tradition und ihrer Sozialethik. Diesem breiten Spektrum geht K. im zweiten Themenfeld seiner Studie nach, ohne dabei die Säkularisierungsstufen des Würde-Konzepts zu unterschlagen (135–140). Im dritten Themenbereich diskutiert K. die Frage nach der Notwendigkeit einer moralischen Begründung der Menschenrechte, die er zuvor von einer politischen unterscheidet, allerdings Begründungsdefizite auswies, die eine moralische Fundierung essentiell erscheinen lassen (224–229). Schließlich folgt eine allgemeine Erörterung des Phänomens der Verletzbarkeit des Menschen, die als vierter Fragenbereich das eigentliche Plädoyer dieser Studie impliziert und im Sinne einer nötigen conversio ad phantasmata das Augenmerk auch auf konkrete Bereiche der Gefährdung menschlicher Integrität richtet, um das Kriterium der Vulnerabi-lität für die moralische Debatte in der Begründung von Menschenrechten konkret zu elaborieren (296–335).
Im Dickicht diverser Debatten um Historizität, Kulturalität, Fragilität und Universalität der Menschenrechte hat K. zentrale Fragestellungen dezidiert herauspräpariert, um eine eigene Position zu entwickeln. Zunächst systematisiert er kursorisch und in historischer Hinsicht Entwicklungsstufen hin zu heutigen Menschenrechtskonzeptionen, denn zunächst seien es in der antiken polis Bürgerrechte, dann zunehmend wirtschaftliche sowie sozio-kulturelle Rechte, die in das heutige Verständnis von Menschenrechten münden, das K. durch »umfassende Solidaritätsrechte« bestimmt sieht (57–59). Diese heutigen, allgemeinen Würde-Rechte, so K., seien allerdings besonders staatlicher Macht zur Achtung aufgegeben und so als Gegenpunkt zum staatlichen Gewaltmonopol demokratischer Ordnungen zu verstehen: »Menschenrechte richten sich in erster Linie an den Staat. Der Staat hat das Gewaltmonopol inne. Menschenrechte stellen in gewissem Sinne ein Ge­genstück zum staatlichen Gewaltmonopol dar.« (71) Gegen den Ge­nese-Geltungs-Fehlschluss in der Menschenrechtsdebatte macht er geltend, dass das unabstreitbare Faktum der Gewordenheit der Menschenrechte keinesfalls die Möglichkeit der Universalität ihrer Geltung falsifiziert, denn auch Naturgesetze seien an die Kontingenz menschlicher Erkenntnis gebunden. Hier sei allerdings klar, dass der Grad ihrer Akzeptanz mit der Namhaftmachung von Gründen korrespondiert und nicht damit irritiert wird, dass es einen Zeitpunkt in der Geschichte gegeben hat, an dem dieses oder jenes Gesetz noch nicht erkannt und allgemein anerkannt war (20–21). Außerdem wendet sich K. gegen metaphysische und naturrechtliche Begründungsstrategien von Menschenwürde und Menschenrechten, denn einerseits verunmöglicht das atheistische Lebensgefühl der Gegenwart einen allgemeinen Rekurs auf Gott als Grund von Würdezuschreibungen, andererseits können heute mit der in ihrer Vielfalt assoziierten Natur keine Werte mehr verbunden werden, die im Sinne der Naturrechtsdebatte von zeitlosem, vorkulturellem und objektivem Charakter sind (30–35).
Zur Würdigung eines Buches gehört auch Kritik, die gleichwohl immer, im Sinne Johann Gottfried Herders, Kritik an einem Buch ist und nicht an seinem Verfasser, sich also nur auf Inhalt und Wirkung des Buches, nicht aber auf Gaben und Absichten K.s beziehen kann (Herder, Werke, Bd. 8, 310). Zuweilen macht die Studie den Eindruck einer recht parataktischen Zitate- und Stichwortsammlung (z. B. 18); nicht durchgängig, aber immer wieder fallen stilistische Schwächen deutlich ins Auge (z. B. 7.188). Nicht nur in formaler, auch in materialer Hinsicht evoziert K.s Studie einige Anfragen. Nennt er im zweiten Kapitel eine Gefahr der »Menschenrechtsphilosophie«, Vergehen gegen Subjekthaftigkeit und Mündigkeit des Menschen durch Funktionalisierung zu ästhetisieren (19), so stellt sich die Frage, ob sein Ansatz bei der Vulnerabilität nicht einer ähnlichen Strategie folgt, zwar temperierter, aber auch hier ist die Allgemeinheit der Menschenrechte an die konkrete Erfahrung der notorischen Gefährdung des Menschen und all dessen, was er beginnt, gebunden. Kann zwar die anthropologische und existentielle Bedeutung der Vulnerabilität so ausgewiesen werden, dass sie nicht allein als ein malum erscheint, aber sie bleibt an die Erfahrung von Leid gebunden, die eine Diskussion um die Vermeidung von Leid erst nötig macht. Die alles erschütternde Gefährdung menschlichen Lebens führt jedenfalls nolens volens zu einer von K. eigentlich kritisierten Adelung des Leids. Auch auf die Streitfrage nach dem eigentlichen Objekt von Menschenrechten ist zurückzukommen. Betont K. den Staat als primären Adressaten von Menschenrechten und macht zugleich das Programm einer »Menschenrechtsbildung« für eine »Kultur der Menschenrechte« stark (87), dann lässt er doch zugleich erkennen, dass der Staat ein wichtiger Akteur, aber nicht der einzige im Gefüge gesellschaftlichen Lebens ist, der »ein menschenwürdi-ges Leben« ermöglichen und »elementare Aspekte der menschlichen Existenz« schützen kann (158).
Insgesamt hat K. eine perspektivenreiche Studie zur Begründung der Begründung von Menschenrechten vorgelegt und selbst »radikale Verletzbarkeit des Menschen als Zeichen seiner Würde« (Regina Ammicht Quinn) als Begründungsfigur erörtert und so einen Beitrag zur Diskussion der Individualität, Universalität und Egalität der Menschenrechte als Freiheitsrechten, Teilnahmerechten und Teilhaberechten geleistet (231).